Transkript
BERICHT
Akute und sekundäre Hirnschlagtherapie
Was gibt es Neues?
Die Entwicklungen in der Therapie des ischämischen Hirnschlags sorgten dafür, dass das Zeitfenster zwischen Infarkt und dem Beginn der Akutbehandlung grösser geworden ist. Trotzdem gilt weiterhin: «time is brain», und die Reduktion der Risikofaktoren ist eine wichtige Zielsetzung in der Rückfallprävention. Dr. Meret Branscheidt, Schulthess-Klinik, Neurologie, berichtete am FOMF Innere Medizin in Zürich, was heute gilt.
In der Therapie des ischämischen Hirnschlags hat sich in den letzten 30 Jahren viel getan. Seit 1990 sind Inzidenz, Mortalität und Rekurrenz deutlich gesunken (1). Das habe auch mit dem breiten Einsatz der medikamentösen Prävention bezüglich der Risikofaktoren zu tun, konstatierte die Referentin. Die jährliche Rückfallrate betrage derzeit etwa 4 Prozent. Doch es gebe auch besorgniserregende Entwicklungen: Die Hirnschlaginzidenz bei jüngeren Menschen zwischen 40 und 50 Jahren steige, das Patientenkollektiv verändere sich. In der akuten Behandlung hat sich in der letzten Zeit vieles geändert. Beispielsweise ist das Zeitfenster zwischen Infarkt und Therapiebeginn grösser geworden. Betrug es früher 3 bis 6 Stunden, so kann in bestimmten Fällen heute auch 24 Stunden nach dem Beginn der ersten Symptome oder bei unklarem Zeitfenster eine Akutbehandlung eingeleitet werden. Das liege daran, dass die Katheterinterventionen sich deutlich weiterentwickelt hätten, so die Neurologin. Eine Thrombektomie könne bei Patienten, ausgewählt nach der Bildgebung im Akutspital, bis zu 24 Stunden später immer noch mit einem grossen Nutzen für die Patienten durchgeführt werden. Könne das durch den Thrombus verschlossene Gefäss im Gehirn so wiedereröffnet werden, sei es möglich, dass sich bei Patienten, die zuvor unter einer hirnschlagbedingten Lähmung oder einer Aphasie gelitten hätten, die verlorene Funktion wieder vollständig erhole, wie Branscheidt berichtete. Wenn das Zeitfenster unklar ist, weil sich der Hirnschlag beispielsweise im Schlaf ereignet hat, erlaubt die moderne Bildgebung, einen Teil dieser Patienten trotzdem einer Katheterintervention oder Thrombolyse zuzuführen, was ihnen früher verwehrt geblieben wäre.
Dennoch ein Notfall
Für die intravenöse Thrombolyse hat sich das Zeitfenster mit 4,5 Stunden generell jedoch nicht geändert. Das grössere Zeitfenster eröffne viele Chancen für die Patienten, dennoch sollte bei einem Hirnschlagereignis unverzüglich die Ambulanz verständigt werden, denn es gelte weiterhin: «time is brain», so Branscheidt. Nach Möglichkeit sollte der Patient direkt in ein Spital mit einem Stroke-Center ge-
bracht werden. Bereits vorhandene Angaben zum Ereigniszeitpunkt und zu aktuell eingenommenen Medikamenten sparen bei der Übergabe im Stroke-Center viel Zeit. Weitere Massnahmen wie beispielsweise eine Prämedikation mit insbesondere Acetylsalicyläure (ASS), Blutdrucksenkern oder Glukose sind in der Prähospitalisationsphase jedoch nicht sinnvoll oder sogar schädlich. Besser sei, wenn der Patient in dieser Phase keine Medikamente zu sich nehme, so Branscheidt. Auch eine TIA (transiente ischämische Attacke) sollte notfallmässig neurologisch behandelt werden, selbst wenn sich alles wieder erholt hat. Denn 5 Prozent der Patienten erleiden nach 24 bis 48 Stunden einen erneuten, grösseren Infarkt, was es zu verhindern gilt.
Nach dem Hirnschlag ist vor dem Hirnschlag
Sekundärpräventive Massnahmen fokussieren auf mögliche Risikofaktoren, die es zu finden gilt. Zur Abklärung gehören der Neurologin zufolge deshalb ein Labor mit insbesondere Langzeitblutzuckerbestimmung und Lipidstatus, eine Dopplersonografie der Hirn- und Halsgefässe mit PFOSuche bei unter 65-Jährigen, ein Thoraxröntgen, eine 24-Stunden-Blutdruckmessung, eine Echokardiografie und ein 48-Stunden-Holter-Elektrokardiogramm. Die wichtigsten Therapiestrategien nach einem Hirnschlag richten sich auf die Reduktion der Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie und Dyslipidämie. Diabetes, Rauchen, Ernährung und Schlafapnoe spielen zumindest für den Schlaganfall vergleichsweise eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist ebenfalls die richtige medikamentöse Prävention. Wenn keine kardioembolischen Quellen als Risikofaktor nachgewiesen werden können, ist ASS zur Plättchenhemmung weiterhin das bevorzugte Mittel der Wahl. Die damit erzielte Risikosenkung beträgt etwa 15 Prozent, also ähnlich viel wie die Blutdrucksenkung mit etwa 12 Prozent (2). Clopidogrel sei etwa gleichwertig wie ASS, so Branscheidt. Wenn sich unter der Plättchenhemmung mit ASS ein weiterer Schlaganfall ereignet, sollte eine erneute Hirnschlagabklärung vorgenommen werden, um eventuell doch eine kardioembolische Quelle zu finden.
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BERICHT
Bei Patienten mit Vorhofflimmern, auch paroxysmalem, kann das Hirnschlagrisiko mit dem CHA2DS2-VASc-Score ermittelt werden. Bei mehr als 2 Punkten ist eine orale Antikoagulation indiziert. Dabei hätten direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) ein besseres Risiko-Nutzen-Profil mit tieferer Hirnblutungsrate – dies bei gleichem beziehungsweise wahrscheinlich höherem Hirnschlagschutz als die älteren oralen Antikoagulanzien, so Branscheidt. Bei Patienten mit Vorhofflimmern und erhöhtem Blutungsrisiko ist gemäss Branscheidt eine «Blutverdünnung light» mit ASS keine gute Option, weil kein höherer Hirnschlagschutz erreicht wird, aber das Potenzial für Hirnblutungen steigt. Stattdessen könnte ein Verschluss des Vorhofohrs in Erwägung gezogen werden, so ihr Vorschlag. Damit liesse sich die orale Antikoagulation umgehen. Ebenfalls wichtig in der medikamentösen Behandlung des Hirnschlags sind neue Daten zur Verwendung von Antidepressiva nach Hirnschlag zur Verbesserung der Erholung. In einer grossen multizentrischen Studie wurden diese Hoffnungen, die auf Vorstudien basierten, zerschlagen. Zudem zeigte sich, dass Antidepressiva zu einem erhöhten Fraktur- und Sturzrisiko führten. Damit sollte die Verschreibung dieser Präparate ausserhalb der Indikation einer Depression kritisch hinterfragt werden (3).
Risikofaktoren unter Kontrolle bringen
Hypertonie ist mit Abstand der wichtigste Risikofaktor für Hirnschlag. In der Primärprävention sollte ein Blutdruck < 140/90 mmHg angestrebt werden, in der Sekundärprävention ist das Ziel < 130/90 mmHg (4). Es muss aber beachtet werden, dass eine Blutdruckvariabilität aufgrund von schlechter Compliance ein unabhängiger Risikofaktor für Hirnschlag darstellt. Eine gute Compliance sei demnach wichtig, so Branscheidt, sei diese aufgrund von Nebenwirkungen nicht gewährleistet, könne es sinnvoll sein, als Kompromiss auch ein lockereres Blutdruckziel zu wählen. Bei einer Dyslipidämie gilt in der Primärprävention des Hirnschlags als Faustregel ein LDL-Wert > 3,88 mmol/l (150 mg/dl) als behandlungsbedürftig, in der Sekundärprävention soll ein LDL-Wert > 2,6 mmol/l (100 mg/dl) gesenkt werden (5), unterhalb dieser Marke ist die Evidenz für einen zusätzlichen Nutzen nicht so ausgeprägt (6). Im Vergleich zur Hirnschlagprävention sind die LDL-Zielwerte zur kardiovaskulären Prävention tiefer angesetzt (< 3,0 bei niedrigem Risiko, < 2,6 bei moderatem Risiko) (7). Sei nur eine Hirnschlagprävention ohne zusätzliche kardiovaskuläre Komorbidität notwendig, reichten die höheren Zielwerte aus, begründete Branscheidt die unterschiedlichen Zielwerte. Für die Behandlung kommt gemäss der Neurologin beispielsweise Atorvastatin 80 mg/Tag als Hochdosistherapie während der ersten 3 Monate infrage, dann 40 mg/Tag in der weiteren Therapie. Ist der Blutzucker erhöht, sollte dieser unterhalb des HbA1c-Werts von 6,6 mmol/l gesenkt werden. Als weiterer unabhängiger Risikofaktor für Hirnschlag könnte sich die Schlafapnoe in der Primär- wie auch in der Sekundärprävention erweisen, vor allem bei jüngeren Patienten. Darauf deuten ersten Studiendaten hin (6). Bei jüngeren (40 bis 60 Jahre) Patienten mit Hirnschlag, bei denen die Ursache unklar sei, sollte deshalb gezielt nach Hinweisen für eine Schlafapnoe gefragt werden, so Branscheidt.
Hat die Ernährung einen Einfluss auf das Hirnschlagrisiko?
Patienten interessiert es immer wieder, ob sie mit ihrer Ernährung einen Beitrag zur Hirnschlagprävention leisten können. Die Studienlage dazu ist beschränkt, doch lässt sich sagen, dass mediterrane Kost mit Olivenöl, viel Gemüse, Früchten, Nüssen, wenig Fleisch und wenig Süssem besser ist als eine Low-Fat-Diät (8). Moderater Kaffee- und Alkoholkonsum scheint für das Hirnschlagrisiko eher günstig zu sein, Soda (9) und zuckerhaltige Getränke sind wahrscheinlich schlecht (8). Der Body-Mass-Index steht in keinem klaren Zusammenhang mit Hirnschlag als unabhängiger Risikofaktor (8, 10), ein Gewichtsverlust allein hat bisher keinen Nachweis für einen präventiven Effekt auf das Hirnschlagrisiko erbracht, kann aber wahrscheinlich sekundär durch die Verbesserung von Blutdruck und Blutzuckerwerten helfen (8). In der primären Hirnschlagprävention hat sich auch sportliche Bewegung 3-mal 40 Minuten pro Woche als nützlich erwiesen (8). In der Sekundärprävention gibt es dazu keine ausreichend guten Daten. Erleiden die Patienten infolge Hirnschlag Defizite, können diese mit intensiver Physiotherapie verringert werden. Leider ist aus verschiedenen Gründen die Übungsintensität nach Schlaganfall wahrscheinlich meist zu gering. Dass mit intensivierer Therapie auch 1 Jahr nach einem Hirnschlag noch Potenzial für beeindruckende Fortschritte besteht, zeigt eine grosse Studie mit Patienten mit Armparese nach 2-wöchigem intensivem Training (11). Anstrengung lohnt sich also! s
Valérie Herzog
Quelle: «Akute und sekundäre Therapie beim Schlaganfall», Vortrag von Dr. Meret Branscheidt, FOMF Innere Medizin, 1. bis 5. Dezember 2020 in Zürich.
Referenzen: 1. Feigin VL et al.: Global and regional burden of stroke during 1990–2010:
findings from the Global Burden of Disease Study 2010. Lancet. 2014;383(9913):245-254. 2. Johnson ES et al.: A metaregression analysis of the dose-response effect of aspirin on stroke. Arch Intern Med. 1999;159(11):1248-1253. 3. EFFECTS Trial Collaboration: Safety and efficacy of fluoxetine on functional recovery after acute stroke (EFFECTS): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurology. 2020;19(8):661-669. 4. Williams B et al.: 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J. 2018;39(33):3021-3104. 5. Berner Stroke Netzwerk: Stroke Richtlinien 2019. www.strokecenter.ch. Letzter Zugriff: 5.2.21. 6. Kernan WN et al.: Guidelines for the prevention of stroke in patients with stroke and transient ischemic attack: a guideline for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke. 2014;45(7):2160-2236. 7. Prävention der Atherosklerose 2020.www.agla.ch. Letzter Zugriff: 5.2.21. 8. Meschia JF et al.: Guidelines for the primary prevention of stroke: a statement for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke. 2014;45(12):3754-3832. 9. Narain A et al.: Soft drinks and sweetened beverages and the risk of cardiovascular disease and mortality: a systematic review and meta-analysis. Int J Clin Pract. 2016;70(10):791-805. 10. de Koning L et al.: Waist circumference and waist-to-hip ratio as predictors of cardiovascular events: meta-regression analysis of prospective studies. Eur Heart J. 2007;28(7):850-856. 11. Ward NS et al.: Intensive upper limb neurorehabilitation in chronic stroke: outcomes from the Queen Square programme. J Neurol Neurosurg Psychiatry. 2019;90(5):498-506.
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