Transkript
BERICHT
Update Multiple Sklerose
MS-Symptome können diskret sein
Eine Multiple Sklerose (MS) kann sich mit vielen Symptomen zeigen, auch mit nicht klassischen wie Fatigue oder kognitiv-behavioralen Störungen. Letztlich bleibt die MS-Diagnose mangels «MS-Test» eine Ausschlussdiagnose. Wie sie zu erkennen ist, was bei der Behandlung wichtig ist und worauf in COVID-19Zeiten geachtet werden muss, erläuterte Dr. Zina-Mary Manjaly, Neurologie, Schulthess Klinik und ETH Zürich, am FOMF Innere Medizin in Zürich.
Die MS ist die häufigste immunvermittelte, entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und die häufigste Erkrankung, die bei jungen Menschen zu einer Behinderung führt. Frauen sind 2- bis 3-mal häufiger betroffen als Männer. Geografisch ist die Prävalenz unterschiedlich, in entwickelten Ländern wie Nordamerika, Australien und Europa liegt sie bei etwa 60 bis 300 pro 100 000 Einwohner. Man unterscheidet zwischen verschiedenen Phänotypen der Erkrankung. Die MS mit schubförmiger Verlaufsform (relapsing-remitting MS, RRMS) ist die häufigste Form (85–90%), sie wird bei jüngeren Patienten zwischen 28 und 31 Jahren diagnostiziert. Ein Schub ist definiert als konstante Symptomdauer von > 24 Stunden, dessen Symptomatik kann sich vollständig oder teilweise zurückbilden. Nach etwa 10 bis 15 Jahren geht die RRMS in eine sekundär progrediente Form (SPMS) über. Die MS mit primär progressiver Verlaufsform (primary progressive MS, PPMS) ist vergleichsweise seltener (10%), und die Patienten sind bei Diagnosestellung etwa 39 bis 41 Jahre alt. Die PPMS beginnt mit einer schleichenden Zunahme der neurologischen Beschwerden und Ausfälle, die sich auch nicht zurückbilden. Selten kommt es bei dieser Form zusätzlich zu überlagerten Schüben.
MERKSÄTZE
� MS ist die häufigste neurologische Erkrankung bei 20- bis 40-Jährigen.
� Klinische Erstmanifestationen sind meist klassisch, möglicherwiese zeigen sich auch Fatigue und kognitiv-behaviorale Symptome.
� MS ist eine klinische Ausschlussdiagnose, basierend auf Klinik, MRT und Liquordiagnostik.
� Zur Therapie stehen mit der Eskalation und der Induktion zwei Strategien zur Verfügung.
Ursache immer noch unklar
Die Ursache von MS ist nicht restlos geklärt. Bekannt ist, dass genetische (z. B. HLA-DRB1*15:01) und Umweltfaktoren (Vitamin-D-Mangel, Nikotinabusus, Epstein-Barr-Infektion) einen Einfluss haben. Es kommt zu einer immunvermittelten Entzündung des Zentralnervensystems und zur Aktivierung von B- und T-Zellen, die Autoimmunprozesse triggern. Es resultiert eine Zerstörung der Myelinscheiden der Nerven und der Nervenzellen selbst. Warum die Immunantwort gegen ZNS-Strukturen initiiert und unterhalten wird, ist im Detail nicht geklärt. In der inflammatorischen Phase kommt es zu einer glialen Reaktion der weissen wie auch der grauen Substanz, was auch die erste Phase bei der RRMS mit Schüben kennzeichnet. In der progressiven, neurodegenerativen Phase findet ein Übergang von fokaler zu diffuser Demyelinisierung statt, gekennzeichnet durch Degeneration von Axonen und Neuronen.
MS als Ausschlussdiagnose
Ist die erste klinische Diagnose suggestiv für MS, handelt es sich um ein klinisch isoliertes Syndrom (clinically isolated syndrome, CIS), fällt die MS dagegen nur in der Magnetresonanztomografie (MRT) als Zufallsbefund auf, ohne Klinik, wird von einem radiologisch isolierten Syndrom (RIS) gesprochen. Die Diagnosekriterien seien bei beiden Entitäten noch nicht erfüllt, so Manjaly. MS ist eine Ausschlussdiagnose. Klinische Befunde, MRT, Liquordiagnostik und eventuell evozierte Potenziale ergeben ein Gesamtbild. Klinisch kann die MS viele Symptome auslösen, ein typisches Frühsymptom ist die Optikusneuritis, die sich durch eine akute oder subakute, meist einseitige Visuseinschränkung, durch Augenbewegungsschmerz und ein eingeschränktes Farbsehen zeigt. Typisch sind auch Hirnstamm- und Kleinhirnsyndrome. Je nach Lokalisierung der Läsion können sie zu Doppelbildern, Nystagmus, Ataxie oder einer Hemihypästhesie des Gesichts führen. Rückenmarksyndrome sind ebenfalls typisch. Sie sind meist zervikal, meist sensorisch und betreffen nicht den gesamten Querschnitt. Häufig werden von den Betroffenen auch Sphinkterprobleme oder ein
162
ARS MEDICI 6 | 2021
BERICHT
Schubratenreduktion ca. 30%
Teriflunomid (Aubagio®)
Glatirameracetat (Copaxone®)
Interferon beta (Avonex®, Betaferon®)
Schubratenreduktion ca. 50–60% Cladribin (Mavenclad®)
Fingolimod (Gilenya®)/ Ozanimod (Zeposia®)
Dimethylfumarat (Tecfidera®)
Schubratenreduktion > 70%
Natalizumab (Tysabri®)
Alemtuzumab (Lemtrada®)
Ocrelizumab (Ocrevus®)
Autologe Stammzelltherapie
Potenz, Nebenwirkungen Abbildung: Schubratenreduktion bei verschiedenen MS-Therapien (Quelle: Z.-M. Manjaly, FOMF IM 2020)
Lhermitte-Zeichen beschrieben, das heisst, ein unangenehm elektrisierendes Gefühl in Extremitäten oder am Rumpf bei starker Neigung des Kopfes nach vorn, mit dem Kinn auf der Brust. MS kann sich aber auch durch nicht somatische Symptome präsentieren, häufig mit Fatigue, aber auch kognitiv-behaviorale Symptome oder depressive Episoden können auftreten. Vor der definitiven Diagnosestellung müssen diverse Differenzialdiagnosen, die ähnliche oder gleiche Symptome auslösen können, ausgeschlossen werden. Dazu gehören beispielsweise die Neuroborreliose, HIV, Lues, systemische Vaskulitiden, Sarkoidose und viele weitere.
Therapie bei schubförmiger MS
Die Behandlung bei einem Schub besteht aus einer hoch dosierten Pulstherapie mit Methylprednisolon 1 g i.v. oder oral während 3 bis 5 Tagen. Bei anhaltender invalidisierender Symptomatik ist die Plasmapherese eine Option. Krankheitsmodifizierende Therapien wie Interferon beta und Glatirameracetat sowie die neueren Präparate reduzieren die Entzündungsreaktion, sind aber auch keine gezielte Therapie gegen die Neurodegeneration. Sie reduzieren die Schubrate präventiv um 30 bis 70 Prozent (Abbildung). Mit zunehmender Potenz steigt auch die Nebenwirkungsrate. Ziel einer Behandlung ist es, die Krankheitsaktivität zu senken und möglichst einen Verlust der Hirnmasse zu verhindern.
Schub- und Progressionsprävention: 2 Strategien
Bei der krankheitsmodifizierenden Therapie stehen zwei Strategien zur Auswahl. Einerseits die Eskalation, bei der das Sicherheitsprofil höher gewichtet ist als die Effektivität. Man beginnt mit weniger potenten Therapien, die auch ein geringeres Nebenwirkungsprofil aufweisen, und eskaliert bei zunehmender Krankheitsaktivität. Mit der Induktionstherapie wird andererseits auf eine starke Wirkung von Beginn an gesetzt – dies zum Preis von mehr Nebenwirkungen. Dabei kommen hoch potente Präparate mit höherem Risikoprofil zum Einsatz. Wann welche Strategie zum Einsatz kommen soll, darüber gibt es keinen eindeutigen Konsens. Die Induktionstherapie ist eher bei ungünsti-
gem prognostischen Profil und bei aggressiven Verlaufsformen angezeigt, sie führt nach 5 Jahren zu einer geringeren Behinderung als die Eskalationstherapie. Der Effekt scheint altersabhängig und nur bei jüngeren Patienten unter 40 Jahren mit einem Nutzen verbunden zu sein.
Therapie der progressiven Formen
Für die Therapie der PPMS steht der monoklonale AntiCD-20-Antikörper Ocrelizumab zur Verlangsamung der Krankheitsprogression zur Verfügung. Ocrelizumab hat in den Studien vor allem bei kontrastmittelaufnehmenden Läsionen Wirksamkeit gezeigt. Nach der Initialtherapie erhalten die Patienten alle 6 Monate eine Infusion als Erhaltungstherapie. Zur Behandlung der SPMS mit entzündlicher Krankheitsaktivität (in Form von klinischen Schüben oder in der MRT sichtbar) ist seit Kurzem Siponimod zugelassen.
Symptomatische Therapie je nach Störung
Nach Diagnosestellung ist es wichtig, im Halbjahresrhythmus klinisch neurologische Kontrollen durchzuführen. Dabei wird der Score mit der Expanded Disability Status Scale (EDSS) regelmässig erfasst, und das Therapieregime sowie die Notwendigkeit einer symptomatischen Therapie werden überprüft. Bildgebende Kontrollen sind jährlich angezeigt. Regelmässige Laborkontrollen sind je nach Medikation nötig und können beim Hausarzt veranlasst werden. Zusätzlich sollten die Patienten neurourologisch und neuropsychologisch sowie hinsichtlich Fatigue, die in diesem Zusammenhang sehr häufig auftritt, abgeklärt werden. Eine symptomatische Therapie empfiehlt sich bei auftretenden Symptomen wie Spastik, Gangstörung, sexueller Funktionsstörung und Blasenfunktionsstörung. Zur Bekämpfung der Spastik stehen verschiedene symptomatische Therapien zur Auswahl: Als nicht pharmakologische Massnahmen kommen Physio- und Hippotherapie infrage. Medikamentös steht als Antispastikum mit spinalem Angriffspunkt Baclofen zur Verfügung, das die Reflexübertragung im Rückenmark dämpft, die reflektorischen Muskelkontraktionen beeinflusst und schmerzhafte Spasmen vermindert.
ARS MEDICI 6 | 2021
163
BERICHT
Tabelle:
Immuntherapien bei MS-Patienten in Zeiten von COVID-19
Substanz
Indikation Therapiestrategie
in Zeiten von COVID-19
Alemtuzumab (Lemtrada®) RRMS
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern,
Therapiealternativen wählen
Cladribin (Mavenclad®)
RRMS
Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern
Dimethylfumarat (Tecfidera®) RRMS
fortsetzen, pausieren
bei ausgeprägter Lymphopenie
Fingolimod (Gilenya®)/
RRMS
fortsetzen
Ozanimod (Zeposia®)
Glatirameracetat (Copaxone®) RRMS
fortsetzen
Interferon beta
RRMS, SPMS fortsetzen
(Avonex®, Betaferon®)
Mitoxantron (Novantron®, SPMS
Therapiealternativen wählen, bei
Mitoxantron Sandoz®)
langjährigem stabilem Krankheitsverlauf
Dosisreduktion oder absetzen
Natalizumab (Tysabri®)
RRMS
fortsetzen, ggf. Zyklus verlängern
Ocrelizumab (Ocrevus®)
RRMS, PPMS Zyklus bei Krankheitsstabilität verzögern,
insbesondere bei PPMS;
CD19-B-Zell-Monitoring
Teriflunomid (Aubagio®)
RRMS
fortsetzen
Siponimod (Mayzent®)
SPMS
fortsetzen
Therapiestrategie bei COVID-19 pausieren, Therapiealternativen wählen
pausieren, Therapiealternativen wählen fortsetzen, pausieren bei ausgeprägter Lymphopenie fortsetzen, ggf. pausieren für wenige Wochen fortsetzen fortsetzen
pausieren
fortsetzen, ggf. Zyklus verlängern pausieren, Therapiealternativen wählen
fortsetzen, pausieren bei ausgeprägter Lymphopenie fortsetzen, pausieren jedoch vertretbar
Abkürzungen: MS = Multiple Sklerose; PPMS = primär chronisch progrediente MS; RRMS = schubförmig remittierende MS; SPMS = sekundär chronisch progrediente MS Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2)
Mit dem zentral wirksamen Muskelrelaxans Tizanidin werden ebenfalls schmerzhafte Muskelspasmen gelindert. Ein Cannabisextrakt (Sativex®), der sowohl Tetrahydrocannabinol (THC) als auch Cannabidiol (CBD) enthält, steht als Spray für diese Indikation ebenfalls zur Verfügung. Bei auftretender Gangstörung eignen sich Physiotherapie und Fampridin zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei einem Behinderungsgrad von 4,0 bis 7,0 gemäss EDSS. Durch Blockade der Kaliumkanäle reduziert Fampridin das Austreten von Ionenstrom durch diese Kanäle, verlängert so die Repolarisation und verstärkt die Aktionspotenzialbildung in den demyelinisierten Axonen. Die neurologische Funktion wird verbessert. Bei sexueller Funktionsstörung ist der Einsatz der PDE-5Hemmer Sildenafil (Viagra®) oder Tadalafil (Cialis®) eine valable Option. Ist die Blasenfunktion gestört, können je nach Art der Funktionsstörungen Anticholinergika wie Tolterodin (Detrusitol®) 4 mg/Tag, Fesoterodin (Toviaz®) 4–8 mg/Tag oder auch lokal appliziertes Botulinumtoxin angewendet werden. Als unterstützende Massnahmen hinsichtlich der Lebensführung können den Patienten Nikotinabstinenz, Vitamin-DSupplementierung, mediterrane Ernährung und regelmässiger Ausdauersport empfohlen werden.
MS in COVID-19-Zeiten
Gemäss aktuellen Empfehlungen ist das Infektionsrisiko für MS-Erkrankte unter 60 Jahren unter einer Immuntherapie nicht generell erhöht, sodass eine Fortführung der Therapie empfohlen ist, um einen Rebound zu verhindern.
Bei Therapien mit Interferon beta-1a (Avonex®), Interferon
beta-1b (Betaferon®), Glatirameracetat (Copaxone®) und
Natalizumab (Tysabri®) besteht kein erhöhtes Risiko für In-
fekte oder schwere COVID-19-Verläufe. Bei Dimethylfuma-
rat (Tecfidera®) und Teriflunomid (Aubagio®) besteht mög-
licherweise ein erhöhtes Infektrisiko bei niedrigen Lympho-
zyten. Ein leicht erhöhtes Risiko für Infekte und einen
schwereren Krankheitsverlauf ist unter der Therapie mit
Fingolimod (Gilenya®) wahrscheinlich. Ocrelizumab (Ocre-
vus®), Alemtuzumab (Lemtrada®) und Cladribin (Maven-
clad®) erhöhen dagegen das Infektrisiko und begünstigen
schwerere Krankheitsverläufe, insbesondere in den ersten
Wochen (1, 2). Welche Therapien bei einer COVID-19-Er-
krankung pausiert, abgesetzt oder fortgesetzt werden kön-
nen, ist in der Tabelle gemäss Empfehlungen der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie (2) aufgeführt.
s
Valérie Herzog
Quelle: «Multiple Sklerose», Vortrag von Dr. Zina-Mary Manjaly, FOMF Innere Medizin, 1. bis 5. Dezember 2020 in Zürich.
Referenzen: 1. Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neurologie. swiss-
neuro https://www.swissneuro.ch/untitled87 2. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Neurologi-
sche Manifestationen bei COVID-19. https://dgn.org/leitlinien/ neurologische-manifestationen-bei-covid-19/. Letzter Zugriff: 20.1.21.
164
ARS MEDICI 6 | 2021