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Depression
Therapieresistente Fälle als chronisch rezidivierende Erkrankung behandeln
BERICHT
Bei rund 30 Prozent der Patienten mit einer schweren Depression bleibt der Erfolg auch nach 4 Behandlungszyklen aus. Warum man sich davon nicht entmutigen lassen sollte und wie das praktische Vorgehen bei einer schwer zu behandelnden Depression aussehen könnte, erläuterte Prof. Annette Brühl am Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der erstmals als virtuelle Tagung durchgeführt wurde.
An einer schweren Depression (major depression) leiden in der Schweiz 7,8 Prozent der Männer und 9,5 Prozent der Frauen. Die Angaben des Bundesamts für Statistik beziehen sich auf das Jahr 2017, aber die Grössenordnung dürfte auch heute noch zutreffen. Die Gefahr, irgendwann im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, beträgt im Kanton Zürich gemäss einer 2016 von Prof. Jules Angst publizierten Studie (1) rund 32 Prozent, während man in internationalen Studien ein Lebenszeitsrisiko von rund 20 Prozent ermittelte. Die schwere Depression sei in vielerlei Hinsicht eine gefährliche Krankheit, berichtete Prof. Annette Brühl, Chefärztin des Zentrums für Affektive, Stress- und Schlafstörungen (ZASS) sowie des Zentrums für Alterspsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) und Professorin für affektive Störungen an der Universität Basel. Depressionen sind mit einer um 5 bis 10 Jahre verminderten Lebenserwartung verbunden sowie mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine Reihe chronischer Erkrankungen, deren Verlauf sie zusätzlich verschlechtern. Auch das Suizidrisiko
KURZ & BÜNDIG
� Eine begleitende Psychotherapie sollten alle Patienten mit schwerer Depression erhalten.
� Die Evaluation der Wirksamkeit einer pharmakologischen Depressionstherapie muss nach spätestens 4 Wochen erfolgen.
� Wenn das initiale Antidepressivum nicht wirkt, sollte nicht sofort ein anderes versucht werden; zunächst sind mögliche andere Gründe für das Therapieversagen abzuklären.
� Die Elektrokonvulsionstherapie hat auch bei therapieresistenter Depression eine hohe Wirksamkeit.
� Als neue Option wurde für Patienten mit schwerer, therapieresistenter Depression Esketamin zugelassen.
� Nach einer schweren Depression besteht ein hohes Rezidivrisiko von zirka 80 Prozent.
ist bei Depressionen beträchtlich: 10 bis 15 Prozent der Patienten mit Depressionen oder bipolaren Erkrankungen versterben durch Suizid, während die Suizidrate in der Gesamtbevölkerung nur 0,7 Prozent beträgt.
Vollständige Genesung ist eher die Ausnahme
Depressionen sind prinzipiell behandelbar, aber man schätzt, dass allenfalls nur die Hälfte der Betroffenen behandelt wird. Doch selbst wenn ein Patient mit einer schweren Depression den Weg zu einem Therapeuten findet, stehen seine Chancen auf Remission nach den ersten beiden Behandlungszyklen allenfalls fifty-fifty. Gemäss einer 2006 publizierten Studie (2) darf nur etwa die Hälfte der Patienten in ambulanter Therapie nach maximal 2 Behandlungsrunden auf Remission hoffen. Danach sackt die Remissionsrate steil nach unten ab: In der 3. Behandlungsrunde beträgt die Erfolgsrate nur noch 12 bis 20 Prozent und in der 4. Runde 7 bis 10 Prozent. Insgesamt gelten letztlich 30 Prozent aller Patienten mit einer schweren Depression als therapieresistent. «Vielleicht sollten wir angesichts solcher Zahlen bei der Depression eher von einer chronischen rezidivierenden Erkrankung sprechen», sagte Brühl. Für diese Sichtweise sprechen die bereits 1994 von der American Psychiatric Association (APA) ermittelten Daten, denen zufolge die Rückfallwahrscheinlichkeit nach der ersten Episode einer schweren Depression in den ersten beiden Jahren nach der Behandlung 50 Prozent beträgt und die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu irgendwann im weiteren Leben kommen wird, sich auf 80 Prozent beläuft. Demnach wird nur 1 von 5 Patienten mit einer schweren Depression nach der ersten Episode keine weitere erleiden. Auch in der neueren Literatur findet das Konzept, die schwer behandelbare Depression als chronisch rezidivierende Erkrankung zu betrachten, Anklang: Man müsse die Prognose bei schwerer Depression überdenken, denn «die vollständige Genesung ist eher die Ausnahme als die Regel», so beschreiben Prof. Brenda Penninx, Universitäre Psychiatrie Amsterdam, und ihre Co-Autorinnen die lebenslangen Aussichten auf einen Therapieerfolg bei schwerer Depression (3). Es gibt zahlreiche Faktoren, die das Rezidivrisiko von Depressionen steigern: mehr als 2 depressive Episoden, ein ra-
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sches vorheriges Rezidiv (2 Episoden in 5 Jahren), eine Episode im letzten Jahr, Residualsymptome während der Remission und/oder während der Erhaltungstherapie, der Schweregrad der Episoden (Suizidversuch, psychotische Symptome u. a.), lang anhaltende frühere Episoden, ein Rezidiv nach einem Absetzversuch, parallele Abhängigkeits- und/oder Angsterkrankung, Depression bei Verwandten 1. Grades und ein Beginn der Depression vor dem 30. Lebensjahr. «Die Patienten verdienen es, dass wir mit ihnen darüber sprechen und eine Rezidivprophylaxe anbieten», sagte Brühl. Sie betonte, dass die neue Sicht auf die schwere Depression als chronisch rezidivierende Krankheit kein Grund für therapeutischen Nihilismus sei. Vielmehr müsse oberstes Ziel jeder Behandlung sein, möglichst rasch eine Remission zu erreichen und diese möglichst zu erhalten. Leitlinien (4–7) seien dabei sehr hilfreich: «Welche Depressionsleitlinien Sie befolgen, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass Sie es tun. Denn damit verbessern Sie das Ergebnis der Behandlung ihrer Patienten.»
Begleitende Psychotherapie
Bei einer schweren Depression sollte grundsätzlich immer eine Psychotherapie erfolgen, wobei verschiedene Formen infrage kommen. Dazu gehören die kognitive Verhaltenstherapie, die psychodynamische, systemische oder interpersonelle Psychotherapie, das Cognitive Behavioural Analysis System of Psychotherapy (CBASP), das speziell für Patienten mit chronischer Depression entwickelt wurde, oder die Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT), eine auf Achtsamkeit basierte kognitive Therapie zur Prophylaxe bei rezidivierenden Depressionen.
Pharmakotherapie muss nach spätestens 4 Wochen wirken
Besonders wichtig ist das Monitoring mittels standardisierter Hilfsmittel einmal pro Woche: «Messen Sie das Ergebnis der Therapie, egal mit welchem Score», riet Brühl. Auf die Auskunft des Patienten, es gehe ihm besser oder schlechter als letzte Woche, darf man sich nicht verlassen, denn solche Aussagen sind auch von der Tagesform des Patienten abhängig. Als Erfolg gilt eine Besserung um mindestens 50 Prozent. Im Grunde kann man die Wirksamkeit der Therapie bereits nach 2 Wochen beurteilen, aber spätestens nach 4 Wochen steht der Entscheid an, ob das Medikament gut genug wirkt, um weitergeführt zu werden: «8 Wochen zu warten, ist sicher viel zu lang!» Bei der Wahl des Antidepressivums geht es vor allem um die Frage, welche Substanz am besten zu dem Patienten passt, denn «die Antidepressiva unterscheiden sich nicht relevant in der Wirksamkeit». Zu den Auswahlkriterien gehören Kriterien wie die Verträglichkeit, das Überdosierungsrisiko, das Handling (Titration, Kontrollen) und die Patientenpräferenzen bezüglich der Wirkungen und Nebenwirkungen. Wichtig sind auch Komorbiditäten. So sollten bei einer gleichzeitig bestehenden Zwangsstörung Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) oder Clomipramin zum Einsatz kommen, bei ADHS Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (NRI). Nicht medikamentöse Therapiemassnahmen sind die Lichttherapie, die nur im Winter wirksam ist, sowie die Elektrokrampftherapie (s. unten) und der Schlafentzug. Niedriger ist das Evidenzlevel für eine bestimmte Ernährung oder Supple-
mente, körperliche Aktivität, die transkranielle Magnetstimulation (rTMS) und die Vagusnervstimulation.
Was tun, wenn das initiale Antidepressivum nicht wirkt?
Der Wechsel zu einem anderen Antidepressivum ist nicht der beste Weg, um auf einen mangelnden Therapieerfolg zu reagieren. Zunächst sind viele potenzielle Ursachen für das Versagen der initialen Pharmakotherapie abzuklären. Dazu gehört auch die Betrachtung des Patientenumfelds: Ist ein Therapieerfolg angesichts der psychosozialen Belastung überhaupt wahrscheinlich? Naheliegend ist das Überprüfen der Dosis und der Compliance des Patienten: Wurde das Medikament tatsächlich und lange genug eingenommen? Die Bestimmung der Plasmaspiegel kann hier weiterhelfen. Den Plasmaspiegel des Antidepressivums sollte man bestimmen, wenn s mit der Maximaldosis behandelt wird s Verträglichkeitsprobleme auftreten s der Patient weitere Medikamente einnimmt s Komorbititäten bestehen s sich die depressiven Symptome trotz stabiler Dosis ver-
schlechtern s keine Wirkung eintritt s die Compliance zweifelhaft ist. Ebenso naheliegend, aber mitunter nicht genügend berücksichtigt, ist die Überprüfung der Diagnose: Stimmt sie wirklich, und kennt man tatsächlich alle Komorbiditäten? «Komorbidität ist eher die Regel als die Ausnahme», sagte Brühl. Dabei geht es gleichermassen um somatische Differenzialdiagnosen, wie zum Beispiel Schlafapnoe, und psychische Erkrankungen: «Seien Sie nicht überrascht, wenn Ihnen Patienten erst nach Jahren erzählen, dass sie beispielsweise eine Zwangsstörung haben.» Auch eine unerkannte Bipolarität könne die Ursache für das Therapieversagen sein, denn Antidepressiva wirken nicht so gut bei bipolaren Patienten. Diese Patienten benötigen Lithium. Eine weitere Ursache könne die gleichzeitige Gabe von stimulierenden Antidepressiva und hoch dosierten Beruhigungsmitteln sein, etwa wegen einer komorbiden Angststörung, womit man sozusagen «gleichzeitig auf Gas und Bremse» stehe, sagte die Referentin. Erst wenn andere potenzielle Ursachen abgeklärt sind, steht als nächster Schritt der antidepressiven Pharmakotherapie die Augmentation, der Wechsel und/oder das Kombinieren verschiedener Substanzen an.
Und wenn der Erfolg trotzdem ausbleibt?
Bleibt der Erfolg weiterhin aus, ist gemäss den Leitlinien die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) die nächste Option. Sie hat eine hohe Wirksamkeit von 50 bis 70 Prozent bei therapieresistenter uni- oder bipolarer Depression; ohne Therapieresistenz liegt die Erfolgsrate bei 70 bis 90 Prozent. Aber auch hier gilt: «Je länger die Vorbehandlungszeit, umso schlechter die Wirksamkeit», sagte Brühl. In Deutschland gilt es mittlerweile als ärztlicher Fehler, wenn man Patienten über diese Option nicht informiert. Für ein gutes Ansprechen auf die EKT sprechen eine kurze Episodendauer, wenige Vormedikationsversuche, ein höheres Patientenalter, psychotische Symptome und eher wenig
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melancholische Symptome. Keinen Einfluss auf den Erfolg haben das Geschlecht, das Alter bei der initialen depressiven Episode, die Anzahl der Episoden, die Schwere der Symptome, die Frage, ob es sich um eine bipolare oder eine unipolare Depression handelt, sowie psychische Komorbiditäten (z. B. Angststörung), wobei Letztere durch die EKT wahrscheinlich nicht gebessert werden. Eine weitere Option ist die rTMS, für die wiederholt eine gute Wirksamkeit bei Depressionen nachgewiesen wurde.
Esketamin-Nasenspray als neue Option
Eine neue Option, die nach der nächsten Leitlinienaktualisierung in der Behandlung von Patienten mit therapieresistenter, schwerer Depression möglicherweise einen Platz vor der EKT einnehmen könnte, ist das Esketamin-Nasenspray, das kürzlich in der Schweiz zugelassen wurde (Spravato®). Ketamin ist eine altbekannte Substanz, die seit 1970 als Anästhetikum zugelassen ist. Die antidepressive Wirkung des Ketamins ist seit etwa 20 Jahren bekannt, und es wurde dafür off label i.v. eingesetzt. Es handele sich um eine prinzipiell sichere Substanz, sagte die Referentin. Zugelassen ist das Esketamin-Nasenspray in Kombination mit einem SSRI oder SNRI zur Behandlung von Erwachsenen mit behandlungsresistenter schwerer Depression, die in der gegenwärtigen mittelgradigen bis schweren depressiven Episode kein Ansprechen auf mindestens zwei verschiedene Antidepressivatherapien gezeigt haben. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Dissoziation, Schwindel, Übelkeit, Sedierung, Kopfschmerz, Dysgeusie, Hypästhesie, erhöhter Blutdruck, Angst und Erbrechen. Der Blutdruck sollte etwa 40 Minuten nach Anwendung des Nasensprays erneut kontrolliert werden, gegebenenfalls auch länger. Das Medikament ist kontraindi-
ziert bei Patienten, für die der Anstieg des Blutdrucks oder des intrakraniellen Drucks ein schwerwiegendes Risiko bedeuten würde. Wegen des möglichen Auftretens von Sedierung, Dissoziation und erhöhtem Blutdruck müssen die Patienten gemäss Fachinformation mindestens 2 Stunden unter Aufsicht eines Arztes überwacht werden, bis sie nach klinischer Einschätzung stabil genug sind, um entlassen zu werden (8). s
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Prof. Annette Brühl: Therapieresistente Depressionen: praktisches Vorgehen. 11th Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) und Pressemitteilung der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) vom 10. Dezember 2020.
Literatur: 1. Angst J et al.: The epidemiology of common mental disorders from age
20 to 50: results from the prospective Zurich cohort Study. Epidemiol Psychiatr Sci 2016; 25(1): 24–32. 2. Rush AJ et al.: Acute and longer-term outcomes in depressed outpatients requiring one or several treatment steps: a STAR*D report. Am J Psychiatry 2006; 163(11): 1905–1917. 3. Verduijn J et al.: Reconsidering the prognosis of major depressive disorder across diagnostic boundaries: full recovery is the exception rather than the rule. BMC Med 2017; 15(1): 215. 4. Holsboer-Trachsler E et al.: Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe unipolarer depressiver Störungen. Schweiz Med Forum 2016; 16(36): 739–743. 5. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. 2. Auflage, 2015, Version 5, AWMF-Register-Nr.: nvl-005; https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-005. html, abgerufen am 28.12.2020. 6. Holsboer-Trachsler E et al.: Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen. Teil 1. Swiss Med Forum 2010; 10(46): 802–809. 7. Holsboer-Trachsler E et al.: Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen. Teil 2. Swiss Med Forum 2010; 10(47): 818–822. 8. Fachinformation Spravato®, www.compendium.ch, abgerufen am 28.12.2020.
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