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Titel
Gastroenterologie – Die anfängliche Verunsicherung der gastroenterologischen Einrichtungen
Untertitel
Interview mit Prof. Frank Seibold Facharzt für Gastroenterologie und Allgemeine Innere Medizin Lindenhofspital Bern
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Datum
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Rubrik
Rückblick 2020/Ausblick 2021
Artikel-ID
49993
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RÜCKBLICK 2020/AUSBLICK 2021

Gastroenterologie
Prof. Frank Seibold Facharzt für Gastroenterologie und Allgemeine Innere Medizin Lindenhofspital Bern
Die anfängliche Verunsicherung der gastroenterologischen Einrichtungen
Das Jahr 2020 begann so wie alle Jahre zuvor, die erste Januarwoche war noch ohne medizinische Veranstaltungen, und dann ging alles seinen gewohnten Trott. Das grösste Meeting im frühen 2020 war der Jahreskongress der ECCO (European Crohn’s Colitis Organisation) in Wien. Leider sollte es bei diesem Kongress für das Jahr 2020 bleiben. COVID-19 unterbrach jäh das normale Jahresprogramm der Gastroenterologen. In kurzer Zeit mussten sich die Gastroenterologen mit multiplen Fragen auseinandersetzen: Wie gefährlich ist die

SARS-CoV-2-Infektion? Wie hoch ist das Risiko, dass sich das medizinische Personal anstecken kann? Wie gehen wir mit immunsupprimierten Patienten um? Und schliesslich: Wie überstehen wir den Lockdown? Relativ schnell wurde bekannt, dass SARS-CoV-2 auch im Gastrointestinaltrakt vorhanden ist. Obwohl zunächst die pulmonale Infektion im Vordergrund stand, wurde bald bekannt, dass SARS-CoV-2 auch Darm und Leber befallen kann, da gastrointestinale Epithelzellen und Hepatozyten das Angiotensin-Converting-Enzym (ACE2) exprimieren, welches der Hauptrezeptor für SARS-CoV-2 ist (1). In einer chinesischen Studie mit 204 SARS-CoV-2-positiven Patienten hatte die Hälfte gastrointestinale Symptome wie Appetitverlust, Diarrhö, Erbrechen und Bauchschmerzen. Dabei scheint es eine Subgruppe von Patienten zu geben, bei welchen die gastroenterologischen Symptome im Vordergrund stehen, ohne dass es zu pulmonalen Problemen kommt (2). In weiteren Studien und Metaanalysen wurde dann aber die Inzidenz für gastrointestinale Symptome bei zirka 15 Prozent festgelegt (3). Interessanterweise kann SARS-CoV-2-RNA bei manchen Patienten über lange Zeit (ca. 40 Tage) im Stuhl nachgewie-

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sen werden, allerdings in deutlich niedrigeren Konzentrationen als in nasopharyngealer Flüssigkeit (4). Auf Oberflächen scheint das Virus nicht sehr lange zu überleben (5).
Alles absagen ...
Diese Daten führten primär zu einer Verunsicherung der gastroenterologischen Einrichtungen, und zusammen mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 wurden die endoskopischen Untersuchungen auf die Indikation der Notfallendoskopien eingegrenzt. Einem Grossteil der eingeplanten Patienten absagen zu müssen und diese später nach Beendigung des Lockdowns alle wieder aufzubieten, verursachte einen grossen administrativen Aufwand. Viele Sprechstunden wurden in Telefonsprechstunden umgewandelt – eine neue Herausforderung für Patienten und Ärzte. Inzwischen haben viele Gastroenterologen in der Schweiz SARS-CoV-2-positive Patienten endoskopiert, erfreulicherweise sind mir bis heute keine SARS-CoV-2-Infektionen bekannt, die auf eine Übertragung in einer Endoskopieabteilung zurückzuführen waren. Mit den aktuellen Schutzkonzepten, das heisst dem Tragen von FFP2-Masken bei der Gastroskopie, sorgfältigem Lüften und Flächendesinfektion, scheint aktuell das Virus doch nicht mehr so bedrohlich zu sein, wie es zu Beginn der Pandemie den Anschein hatte. Die Angst der Patienten, sich in einer medizinischen Einrichtung mit SARS-CoV-2 zu infizieren, führte leider zu einer Verzögerung der Diagnostik bei Tumorerkrankungen oder sogar zu starken Krankheitsschüben bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Die Gastroenterologen waren zu Beginn der Pandemie mit der Therapie der CED stark gefordert, da Patienten sehr verunsichert waren und etliche ihre immunsuppressive Therapie absetzten. Inzwischen konnte festgestellt werden, dass das Sistieren der Immunsuppression für die Patienten definitiv zu grösseren gesundheitlichen Problemen führt, als wenn die Therapie fortgeführt wird. Zwischenzeitlich ist sogar bekannt, dass TNF-Blocker vor schwerwiegenden Komplikationen von COVID-19 schützen und dass Homing-Rezeptor-Blocker und Immunmodulatoren wie Ustekinumab das Risiko für eine COVID-19-Komplikation wahrscheinlich nicht erhöhen.
Fortbildungen und Kongresse virtuell
Wie alle Ärzte durften die Gastroenterologen sich in den folgenden Monaten daran gewöhnen, dass alle wissen-

schaftlichen Meetings als Webinare erfolgten, selbst grosse Kongresse wie der amerikanische und der europäische Gastroenterologenkongress wurden online organisiert. Diese Plattformen funktionierten erstaunlich gut, wenngleich der persönliche Austausch zwischen Kollegen klar zu kurz kam. Kongresshighlights von diesem Jahr umfassen die neuesten Daten von Therapiestudien für Patienten mit CED: Dabei konnten 2020 erstmals gute Daten für Filgotinib, einen selektiven JAK-1-Inhibitor für Patienten mit Colitis ulcerosa, gezeigt werden. Mit Ozanimod, einem oralen S1P1-Inhibitor, der die Lymphozytenmigration beeinflusst, könnte ein weiteres Medikament für diese Indikation auf den Markt kommen. Damit wird die Auswahl an Medikamenten für Patienten mit CED immer grösser. Die neueren Medikamente wie die JAK-Inhibitoren (Filgotinib und das schon auf dem Markt befindliche Tofacitinib) sind sogenannte Small Molecules, die oral appliziert werden können, was von einigen Patienten sicher geschätzt wird. Rezidivierende Clostridium-difficile-Infektionen sind nach wie vor insbesondere bei onkologischen Patienten vor allem nach Antibiotikatherapie eine grosse Herausforderung. Dabei ist seit Jahren die Stuhltransplantation eine mögliche Therapie mit hoher Heilungsrate. Leider ist in Europa inklusive der Schweiz diese Methode nicht offiziell zugelassen und auch im Hinblick auf COVID-19 zur Zeit eher problematisch. Aus den USA gibt es jetzt neue Daten, die eine gute Heilungschance durch die Therapie mit einer oral applizierten Kapsel zeigen. Somit war das Jahr 2020 ein unerwartet herausforderndes und intensives Jahr, und wir hoffen alle, dass 2021 etwas geruhsamer wird.
Referenzen: 1. Qi F et al.: Single cell RNA sequencing of 13 human tissues identify cell
types and receptors of human coronaviruses. Biochem Biophys Res Commun 2020; 526: 135–140. 2. Pan L et al.: Clinical characteristics of COVID-19 patients with digestive symptoms in Hubei, China: a descriptive, cross-sectional, multicenter study. Am J Gastroenterol 2020; 115(5): 766–773. 3. Mao R et al.: Manifestations and prognosis of gastrointestinal and liver involvement in patients with COVID-19: a systematic review and meta-analysis. Lancet Gastroenterol Hepatol 2020; 5(7): 667–678. 4. Jones DL et al.: Shedding of SARS-CoV-2 in feces and urine and its potential role in person-to-person transmission and the environment-based spread of COVID-19. Sci Total Environ 2020 Jul 31; 749: 141364. 5. van Doremalen N et al.: Aerosol and surface stability of SARS-CoV-2 as compared with SARS-CoV-1. N Engl J Med 2020; 382: 1564–1567.

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