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Titel
Innere Medizin / Nephrologie – Auch in schwierigen Situationen wissenschaftlich vorghen
Untertitel
Interview mit PD Dr. med. Andreas Kistler Chefarzt der Medizinischen Klinik Kantonsspital Frauenfeld
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Datum
Autoren
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Rubrik
Rückblick 2020/Ausblick 2021
Artikel-ID
49612
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RÜCKBLICK 2020/AUSBLICK 2021

Innere Medizin/Nephrologie
PD Dr. med. Andreas Kistler Chefarzt der Medizinischen Klinik Kantonsspital Frauenfeld
Auch in schwierigen Situationen wissenschaftlich vorgehen
Wie hat die Coronapandemie Ihre Arbeit im vergangenen Jahr beeinflusst?
Sehr stark, das fing vor oder mit der ersten Welle an, als erste Fälle im Tessin und im Kanton Zürich auftraten. Da haben wir einen Krisenstab initiiert, mit zweimal wöchentlichen Sitzungen. Zu den Aufgaben gehörten unter anderem die Einrichtung einer separaten Notfallstation, die Festlegung hygienischer Massnahmen im Spital, die Erarbeitung von Stufenplänen, abhängig von der Anzahl an Coronapatienten, die ständige Anpassung der Dienstpläne unserer Mitarbeiter, die Kommunikation mit den Zuweisern und mit der Bevölkerung, die Einrichtung einer Telefonhotline – alles in allem ein riesiger organisatorischer «Hosenlupf».

Konnten Sie vom Austausch mit bereits betroffenen Regionen profitieren?
Ein offizieller Informationsaustausch fand nicht statt. Jedoch erfolgte natürlich eine Kommunikation über informelle Kanäle mit Kollegen, die in anderen Spitälern tätig sind. Allerdings mussten alle Spitäler sehr viel organisatorische Arbeit stemmen, sodass für einen Informationsaustausch mit anderen Spitälern wenig Zeit blieb – und es hatten ja auch initial alle mit den gleichen Unsicherheiten zu kämpfen.
Haben Sie Coronatests durchgeführt? Falls ja: Welche Probleme traten dabei auf?
Wir haben am Kantonsspital Frauenfeld sehr viele Tests durchgeführt. Den ersten Coronatest im Spital machten wir am 25. Februar, am 14. März war der erste Test positiv. Bis jetzt (Ende November, Anmerkung der Red.) haben wir etwas mehr als 2300 PCR-Tests durchgeführt, und seit einiger Zeit setzen wir auch den Antigentest breiter ein, bislang waren es etwa 500. Die grösste Herausforderung ist die sehr begrenzte Verfügbarkeit von PCR-Reagenzien/-Kits für unser In-House-PCR-System, sodass wir nach wie vor die Mehrheit aller Tests in ein externes Labor senden müssen mit entsprechender Verzögerung bis zum Erhalt der Ergebnisse. Das bedeutet nämlich, dass jeder stationäre Patient mit Verdacht auf Corona zunächst ein Einzelzimmer benötigt, es soll sich ja niemand hier anstecken. Immerhin

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verfügen wir nun im Gegensatz zur ersten Welle über begrenzte In-House-PCR-Kapazitäten, und die Turn-aroundZeiten des externen Labors sind kürzer als zu Beginn der ersten Welle.
Hatten Sie Kontakt mit SARS-CoV-2-positiven Patienten, und wie sind Sie damit umgegangen?
Selbstverständlich habe ich neben meinen organisatorischen Aufgaben auch unmittelbar Kontakt zu SARSCoV-2-positiven Patienten, einerseits im Rahmen der Betreuung von Privatpatienten, andererseits im Rahmen der Chefarztvisiten und der Teilnahme am Dienstbetrieb. Am Anfang war das für alle Mitarbeitenden mit Angst besetzt, man weiss vieles nicht, hört viele Meinungen von (teilweise selbst ernannten) Experten, man liest viel, und es war lange und ist zum Teil immer noch unklar, welche Schutzmassnahmen man wann braucht. Es gibt ein grosses Bedürfnis nach ganz klaren und einfachen Weisungen, die man je nachdem immer wieder anpassen muss.
Mussten Sie Untersuchungen und Behandlungen wegen der Coronapandemie verschieben?
Am Anfang war die Schliessung ja mit dem Lockdown verordnet. Wir durften nicht wie gewohnt weitermachen, und die Patienten sind auch gar nicht gekommen. Danach haben wir umfassende Vorsichtsmassnahmen eingeführt. Im Rahmen der zweiten Welle haben wir zunächst keine Abnahme der nicht coronabedingten Notfälle gespürt. Wir sahen uns aber gezwungen, die elektiven Eingriffe (das betrifft vor allem die chirurgischen Disziplinen) sehr stark einzuschränken, um zusätzliche Kapazitäten auf der Intensivstation zu schaffen.
Wie steht es um die Auslastung der Intensivstationen, die immer wieder angeführt wird?
Aussagen zu den Kapazitäten bei den Intensivbetten sind schwierig, die Zahlen schwanken extrem, und der Wechsel erfolgt oft sehr schnell, tagesaktuelle Zahlen sind kaum möglich. Fakt ist, dass wir unsere Kapazitäten an Intensivbetten um zirka 40 Prozent erhöht haben und dennoch ständig an der Kapazitätsgrenze «kratzen». Und es ist auch bereits vorgekommen, dass wir kein freies Intensivbett mehr zur Verfügung hatten und einen Patienten nach extern verlegen mussten. Wenn man ein Bett braucht, ist es oft aussichtsreicher, in der Region zu telefonieren als eine zentrale Stelle zu involvieren. Der geschätzte Anteil an Patienten mit Corona, die in das Spital eintreten und dann auf die Intensivstation verlegt werden müssen, ist in der zweiten Welle etwas geringer als in der ersten Welle. Ein kleiner Faktor könnte dabei der Einsatz von Dexamethason sein. Weitere Faktoren sind möglicherweise auch die breitere Testung, die noch etwas grosszügigere ambulante Behandlung – und allenfalls hat sich auch die Virulenz des Virus etwas verändert. Die COVID-19-Patienten, die auf die Intensivstation müssen, sind oft diejenigen, deren Zustand sich bei einem zweiten

Erkrankungsgipfel plötzlich verschlechtert. Problematisch ist, dass dann oft eine lang dauernde Beatmungstherapie notwendig ist.

Abgesehen von der Coronapandemie: Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres fanden Sie für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Hier beschränke ich mich auf das Fachgebiet der Nephrologie. 2020 wurden – wie ich in meinem letztjährigen Beitrag antizipiert hatte – zwei wichtige grosse Studien publiziert. Zum einen die Dapa-CKD-Studie (1), die nun eindeutig belegt hat, dass Dapagliflozin bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung eine positive Wirkung entfaltet – und zwar unabhängig davon, ob der Nierenerkrankung ein Diabetes zugrunde liegt oder nicht. Das Risiko für eine Verschlechterung der Nierenfunktion oder für einen renal oder kardiovaskulär bedingten Tod konnte unter dem SGLT2-Hemmer deutlich reduziert werden. Ein Effekt, der – so weit beurteilbar – mindestens so gross ist wie jener von ACE-Hemmern und Sartanen. Zum anderen wurde 2020 die FIDELIO-Studie abgeschlossen, die die Wirksamkeit von Finerenon, einem nicht steroidalen Mineralokortikoidantagonisten, bei diabetischer Nephropathie gezeigt hat (2). Finerenon konnte gegenüber Plazebo das Fortschreiten der Erkrankung verzögern, und damit hat sich das Armamentarium in der Behandlung der diabetischen Nephropathie jenseits von ACE-Hemmern/Angiotensinrezeptorblockern und SGLT2-Hemmern noch einmal erweitert. Die Patienten in der Studie waren allerdings relativ gut selektioniert (z. B. bezüglich Serumkalium), sodass sich der Wert dieser zusätzlichen Behandlung noch im Alltag etablieren muss. Auch über den Nutzen von Finerenon in Kombination mit SGLT2-Hemmern ist noch keine klare Aussage möglich, da nur sehr wenige Patienten in der FIDELIO-Studie mit einem SGLT2-Hemmer behandelt wurden.

Haben Sie noch eine Botschaft an die Kollegen?
Bezüglich COVID-19 vielleicht Folgendes: Hier hat sich

gezeigt, dass aufgrund des geringen Wissensstandes und

wohl aus dem verständlichen Willen, «etwas zu tun», auch

in der Schweiz an vielen Häusern experimentelle Therapien

mit äusserst schwacher Evidenz zum Einsatz gekommen

sind. Es hat mich erstaunt, wie oft Hydroxychloroquin ein-

gesetzt wurde oder anfänglich auch ACE-Hemmer abge-

setzt wurden. Es scheint mir wichtig, dass man auch in einer

solchen Situation einen kühlen Kopf bewahrt und wissen-

schaftlich beziehungsweise evidenzorientiert vorgeht – nach

dem Prinzip «primo nihil nocere» – und wo möglich durch

Teilnahme an Studien Evidenz generiert.

s

Literatur: 1. Heerspink HJL et al.: Dapagliflozin in patients with chronic kidney
disease. N Engl J Med 2020; 383(15): 1436–1446. 2. Bakris L et al.: Effect of finerenone on chronic kidney disease outcomes
in type 2 diabetes. N Engl J Med 2020; 383: 2219–2229.

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