Transkript
FORTBILDUNG
Hämatologie beim Kind
Ein Blutbild sagt mehr als 1000 Worte
Normwerte für das Blutbild von Kindern sind altersabhängig. Im Folgenden werden häufige Blutbildveränderungen im Kindes- und Jugendalter vorgestellt sowie die weitere Abklärung der potenziellen Ursachen und Differenzialdiagnosen, an die man in der Praxis denken sollte.
Christine Schneider und Axel Karow
Welche Blutbildveränderungen bei Kindern noch normal sind, hängt vom Alter ab, da die Normwerte teilweise deutlich variieren (Tabellen 1 und 2). Bei klinischem Verdacht auf eine hämatologische Erkrankung ist primär immer eine problemorientierte und ausführliche Anamnese mit körperlicher Untersuchung zur weiteren Diagnostik notwendig (Kästen 1 und 2). Selbstverständlich muss jeder Patient individuell beurteilt werden, um seltene oder potenziell lebensbedrohliche Ursachen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.
Als primäre Diagnostik empfiehlt es sich, in der Praxis, je nach verfügbarem Labor, folgende laborchemische Parameter zu bestimmen: Hämoglobin (Hb), mittlerer korpuskulärer Hämoglobingehalt (MCH), mittleres korpuskuläres Volumen (MCV), mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCHC), Erythrozytenzahl, Retikulozytenzahl, Leukozyten (Lc) mit Differenzierung, Thrombozyten (Tc), Mentzer-Index sowie das Serumferritin. Welche Befunde Hinweise auf bestimmte Differenzialdiagnosen liefern, ist in der Abbildung zusammengefasst.
Primäre Diagnostik bei Anämie
Anämien sind im Kindesalter häufig. Einer Anämie kann eine Bildungsstörung (z. B. Eisenmangel oder Knochenmarkversagen) oder ein gesteigerter Abbau (hämolytische Anämien oder Mikroangiopathien) der roten Blutkörperchen zugrunde liegen. Es gibt auch kombinierte Formen der Anämie, und man kann zwischen primär genetischen und sekundär erworbenen Anämien unterscheiden.
MERKSÄTZE
� Eisenmangel ist neben infektiösen Ursachen der häufigste Grund einer Anämie im Kindesalter.
� Eine Erhöhung oder Verminderung der Lymphozyten ist im Kindesalter meist Ursache eines infektiösen Geschehens und initial mit einer verminderten Anzahl und erst im Verlauf reaktiv mit erhöhten Werten im Blut erkennbar.
� Bestimmte Medikamente können eine Neutropenie verursachen und sollten nach Möglichkeit vermieden werden.
� Als erster diagnostischer Schritt gilt bei einer Thrombozytopenie die Bestätigung mittels erneuter Kontrolle, um bei einem Laborfehler übermässige Abklärungen zu vermeiden.
� Reaktive Thrombozytosen sind der häufigste Grund für erhöhte Plättchenzahlen im Kindesalter. Sie sind meist selbstlimitierend und brauchen keine Interventionen.
Mikrozytäre hypochrome Anämie
Der häufigste Grund einer mikrozytär-hypochromen Anämie ist der Eisenmangel. Je nach Alter des Kindes unterscheidet man verschiedene Ursachen. So hilft bei einem Kleinkind oft die Geburts-, Familien- und Ernährungsanamnese weiter. Bei einem älteren Kind muss auch an chronische Erkrankungen oder Infektionen gedacht werden. Der Eisenmangel bei einem älteren Kind bedarf immer einer weiteren Diagnostik. Der Mentzer-Index (MCV geteilt durch Erythrozytenzahl) hilft bei der Unterscheidung der Ätiologie eines hypochrommikrozytären Blutbilds: Bei einem Eisenmangel beträgt der Mentzer-Index > 13, bei Thalassämie < 13 (1). Bei Verdacht auf Thalassämie empfiehlt sich eine Hämoglobinelektrophorese. Beim Säugling reichen oft eine ausführliche Anamnese, der klinische Status und ein Blutbild mit Indizes sowie eine Serumferritinbestimmung zur Abklärung einer Eisenmangelanämie aus. Bei älteren Kindern sollte zusätzlich nach okkultem Blut im Stuhl, einer Zöliakie (IgA total, Gewebetransglutaminase) und nach klinischen Hinweisen für eine H.-pylori-Infektion gefahndet werden. Der Eisenmangel ist neben infektiösen Ursachen der häufigste Grund einer Anämie im Kindesalter. Als Dosis für die orale Supplementierung empfehlen wir: s Fe2+ in einer Dosierung von 3 bis 5 mg/kg KG/Tag s Fe3+ in einer Dosierung von 5 bis 10 mg/kg KG/Tag. Die Kombination mit Orangensaft fördert die Resorption des Eisens.
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Fallbeispiel:
Kleinkind mit Blutungen
Ein 4-jähriger Knabe wird nach einem Treppensturz beim Arzt vorgestellt. Es fallen multiple Hämatome, Ekchymosen und Petechien am gesamten Stamm, an den Extremitäten, im Gesicht und am Penis auf. Die Milz lässt sich leicht vergrössert am Rippenbogen palpieren. Der Knabe befindet sich in bestem Allgemeinzustand ohne aktive Schleimhautblutungen, anamnestisch besteht seit einigen Tagen ein viraler Atemwegsinfekt mit leichter Hustensymptomatik. Der Arzt fordert aufgrund der ausgeprägten Hautveränderungen ein Blutbild an. Der Befund: Trizytopenie (Leukozyten 3360/μl, Neutrophile 620/μl, Thrombozyten 2000/µl) bei einem Hämoglobinwert von 109 g/l. Im unauffälligen visuellen Blutausstrich erscheinen die wenigen sichtbaren Thrombozyten auffallend gross (Auflösung des Falls am Ende des Artikels).
Das Therapieansprechen sollte anhand des Retikulozytenanstiegs mit Kontrolle des Hämoglobinwerts vorzugsweise 7 bis 10 Tage nach Beginn der Behandlung überprüft werden (2). Eine Verlaufskontrolle des Serumferritins wird nach 3 Monaten empfohlen (3). Die Retikulozytenzahl dient der Unterscheidung zwischen hypo- und hyperregeneratorischer Anämie. Die Regenerationsfähigkeit des Knochenmarks lässt sich gut anhand der Retikulozytenzahl abschätzen.
Kasten 1:
Anamnese bei Verdacht auf eine hämatologische Erkrankung
s Systemanamnese: Blässe, Müdigkeit, Apathie, Adynamie, Herzklopfen, Ohrensausen, Schwindel, Anstrengungsdyspnoe, Trinkschwäche, Schlafverhalten, Fieber unklarer Ätiologie, Anhaltspunkte für Immundefekte, Blutungszeichen, Lokalisation und Ausmass von Hämatomen, Leistungsintoleranz, nächtliches Schwitzen, Gewichtsverlust, gastrointestinale Symptome, Gelenkbeschwerden, Hautveränderungen, Schmerzen, Impfstatus
s Ernährungsanamnese: persönliche Anamnese (Zwillingsschwangerschaft, Geburtsart, Frühgeburtlichkeit mit Gestationsalter, Kephalhämatom, Caput succedaneum, Operationen), Medikamenteneinnahme, Entwicklungs-(rück-)schritte
s Familienanamnese: ethnische Herkunft der Familie, familiäre hämatologische Erkrankungen, Blutungsneigung in der Familie, Eisenmangel in der Familie (Beurteilung Eisenmitgift), Krebserkrankungen in der Familie, Thromboseneigung, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Konsanguinität
s Favismus*: Probleme beziehungsweise hämolytischer Schub nach der Einnahme bestimmter Medikamente (Malariamedikamente, Sulfonamide, Chloramphenicol) oder nach Konsum von Favabohnen (Saubohnen, Puffbohnen, Pferdebohnen, dicke Bohnen)
*Favismus ist eine X-chromosomal vererbte (symptomatisch vorwiegend bei Knaben und Männern), häufige, genetisch bedingte Erkrankung, vor allem in den Mittelmeerländern, in Afrika und in Asien.
Makrozytäre hyperchrome Anämie
Differenzialdiagnosen sind ein Vitamin-B12- beziehungsweise Folsäuremangel. Neben einer ausführlichen Ernährungsanamnese können auch der (psychomotorische) Entwicklungsstand und der Verlauf des Gedeihens mittels Perzentilenkurven Hinweise auf eine Mangelernährung geben. Sehr seltene Differenzialdiagnosen einer makrozytären Anämie im Kindesalter sind angeborene Knochenmarkhypoplasien wie das Diamond-Blackfan-Syndrom oder die Fanconi-Anämie, welche unter anderem mit Skelettanomalien einhergehen können. Das myelodysplastische Syndrom (MDS) oder die schwere aplastische Anämie (SAA) sind im Kindesalter ebenfalls eine Rarität, kommen jedoch bei Erwachsenen häufiger vor.
Normozytäre normochrome Anämie
Eine normozytäre normochrome Anämie ist typisch für hämolytische Anämien (z. B. Membrandefekte, Enzymdefekte), akuten Blutverlust und die sogenannte transitorische Erythroblastopenie des (Klein-)Kindesalters. Letztere tritt meist nach Infekten auf, typischerweise befinden sich die Kinder in gutem Allgemeinzustand ohne sonstige pathologische Befunde im Blutbild oder klinischen Status. Oft helfen auch morphologische Kriterien im peripheren Blutausstrich weiter. So können Fragmentozyten und Sphärozyten beispielsweise auf ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) beziehungsweise eine Sphärozytose hinweisen. Eine aplastische Krise bei Kindern mit Sphärozytose tritt einmalig nach Parvovirus-B19-Infektion auf und verursacht eine Retikulozytopenie mit isolierter Verminderung der roten Zellreihe. Meist ist aufgrund des raschen und massiven Sinkens des Hämoglobins eine Transfusion notwendig. Leichtere Hämolysezeichen treten regelmässig bei Infektionen auf, klinisch ist dies als Ikterus ersichtlich. Aufgrund der Hämolyse haben Kinder mit Sphärozytose langfristig ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von Gallensteinen (4, 5). Mikroskopisch können zudem monomorphe unreife Zellen als Hinweis einer malignen Erkrankung auffallen. Bei Verdacht auf eine hämolytische Anämie empfehlen sich folgende Laboruntersuchungen: Bilirubin (direkt/indirekt), Laktatdehydrogenase (LDH), Haptoglobin, Coombs-Test und gegebenenfalls Hämoglobinurie (Teststreifen).
Kasten 2:
Körperliche Untersuchung bei Verdacht auf hämatologische Erkrankungen
s Hepatosplenomegalie s Lymphknotenvergrösserung s Haut-/Schleimhautveränderungen (auffällige Blässe
oder Blutungszeichen?) s knöcherne Anomalien s Dysmorphiezeichen s Nagelveränderungen s Beurteilung der Entwicklung und des Gedeihens mit-
tels Perzentilenverlauf inkl. familiärem Zielbereich
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Tabelle 1
Rotes Blutbild – altersabhängige Mittelwerte
Alter 1 Monat
Grenzwert Anämie g/l
< 95
Hb g/l 140
MCV (fl) 104
3–5 Monate
115 91
6 Monate
< 100
120 78
Erwachsene
< 120
155 (m) 140 (w)
90
Hb: Hämoglobin; MCV: mittleres korpuskuläres Volumen; nach (26–29)
Ferritin ng/ml (m) 6–410
6–410
6–410
23–70
Ferritin ng/ml (w) 6–340
6–340
6–340
6–40
Retikulozyten (109/l)
46 45 49
Erythrozytose/Polyglobulie
Mögliche Ursachen einer erhöhten Anzahl von Erythrozyten sind eine weitgehend physiologische Polyglobulie beim Neugeborenen, chronische Lungenerkrankungen, angeborene Herzerkrankungen und/oder Exsikkose (6). Die Polycythaemia vera geht ebenfalls meist mit einer Erythrozytose einher, und sie gehört zu den myeloproliferativen Erkrankungen, die im Kindesalter jedoch eine Rarität darstellen (7).
Leukozytose und Leukozytopenie
Eine Erhöhung oder Verminderung der Lymphozyten ist im Kindesalter meist Ursache eines infektiösen Geschehens und initial mit einer verminderten Anzahl und erst im Verlauf reaktiv mit erhöhten Werten im Blut erkennbar. Spätestens nach 2 Monaten zeigen sich rundum normalisierte Werte. Bei Lymphknotenvergrösserung mit Splenomegalie, hyperplastischen und entzündeten Tonsillen und Fieber sollte als Differenzialdiagnose immer an einen EBV-Infekt gedacht und eine entsprechende Serologie durchgeführt werden. Ebenso kann eine Lymphozytose klassischerweise bei akuter Pertussisinfektion vorkommen (8).
Tabelle 2
Weisses Blutbild – altersabhängige Mittelwerte
Alter
Geburt 12 Stunden 6 Monate 2 Jahre 6 Jahre 16 Jahre Erwachsene
nach (30)
Leukozyten (× 109/l)
18,1 22,8 11,9 10,6 8,5 7,8 7,4
Neutrophile Granulozyten (× 109/l) 11
15,5
3,8
3,5
4,3
4,4
4,4
Lymphozyten (× 109/l)
5,5 5,5 7,3 6,3 3,5 2,5 2,8
Bei Knochen- oder Gelenkschmerzen und Blutbildveränderungen im Kindesalter muss differenzialdiagnostisch in jedem Fall auch an eine akute lymphoblastische Leukämie gedacht werden. Diese ist obligat auch vor der Therapie einer vermeintlich rheumatischen Erkrankung mit Steroiden durch eine Knochenmarkpunktion auszuschliessen. Auch Organomegalien, B-Symptome und/ oder Pan-(Tri-) zytopenien können Zeichen eines malignen Prozesses sein. Bei Letzterem, insbesondere wenn Anämie, Thrombozytopenie und fakultativ auch Neutropenie oder Leukozytose vorhanden sind, muss eine sofortige Zuweisung an ein pädiatrisches hämatoonkologisches Zentrum zur weiteren Diagnostik erfolgen (u. a . Durchführung eines visuellen peripheren Blutausstrichs und ggf. Knochenmarkpunktion).
Neutropenie
Man unterscheidet zwischen einer milden Neutropenie (< 1500 neutrophile Granulozyten/μl), einer mittelschweren (< 1000/μl) und einer schweren Neutropenie (< 500/μl) (9). Eine Verminderung der neutrophilen Granulozyten (10, 11) muss immer im Kontext des gesamten Blutbilds einschliesslich Ausstrich, Krankengeschichte und körperlicher Untersuchung interpretiert werden. Die neutrophilen Granulozyten sind für die Infektabwehr bei bakteriellen und fungalen Infektionen zuständig. Wie die meisten Blutbildveränderungen im Kindesalter ist auch eine Neutropenie meist reaktiv bedingt (Tabelle 3), wobei häufig Infekte zugrunde liegen. Eine Neutropenie ist häufig mit Otitis media, Tonsillitis, Gingivitis oder Hautabszessen assoziiert, bei Säuglingen mit einer Omphalitis. Seltener ist sie mit anderen Abszesslokalisationen oder Pneumonien verbunden. Pilzinfektionen treten oft erst nach längerer antibiotischer Behandlung beziehungsweise längerer schwerer Neutropenie auf. Medikamente (z. B. Cotrimoxazol [Bactrim®] als Prophylaxe bei chronischem vesikoureteralen Reflux) können eine Neutropenie verursachen und sollten nach Möglichkeit vermieden beziehungsweise der Patient bei chronischen Erkrankungen auf gleichwertige alternative Produkte umgestellt werden. Zudem muss differenzialdiagnostisch auch an eine Mangelernährung, zum Beispiel im Rahmen eines Vitamin-B12- oder Folsäuremangels, gedacht werden.
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Mi#leres korpuskuläres Volumen (MCV) normozytär
makrozytär
mikrozytär
Re#kulozytose – Thalassämie – Compound b S/Thal
Re#kulozytopenie – Eisenmangel – chron. Entzündung – BleivergiFung – sideroblasGsche Anämie
Re#kulozytose – Blutung
Re#kulozytose, Hyperbilirubinämie – Enzymdefekt
Re#kulozytose, Hyperbilirubinämie, Ausstrich pathologisch – Sichelzellanämie – Membrandefekt – HUS
Re#kulozytose, Hyperbilirubinämie, Coombs posi#v – Autoimmunhämolyse – ABO-InkompaGbilität – Rhesus-InkompaGbilität
Re#kulozytopenie – KM-Verdrängung (Leukämie, Neuroblastom) – renale Anämie – akut transiente Erythroblastopenie
Ini#al Re#kulozytopenie, fakulta#v Hyperbilirubinämie – InfekGonen (Parvo B19, CMV, HSV,
Coxsackievirus, Toxoplasmose, bakt. Infekte
Re#kulozytopenie – MDS – Folsäure/Vitamin-B12-Mangel – Fanconi – Diamond-Blackfan-Anämie – Medikamente
Abbildung: Algorithmus zum möglichen Vorgehen bei Anämie (nach [24, 25]).
Im Rahmen der meist bereits in einem grösseren Zentrum durchgeführten weitergehenden Abklärung einer schweren chronischen Neutropenie steht zunächst die Suche nach antineutrophilen Antikörpern im Vordergrund. Diese kann ausschliesslich in hoch spezialisierten Labors durchgeführt werden. Werden Antikörper nachgewiesen, spricht man von einer Autoimmunneutropenie im Sinne einer chronisch benignen und im Regelfall selbstlimitierenden Erkrankung. Ist die Antikörperdiagnostik zweimalig negativ, sollte als weiterer Schritt eine Knochenmarkpunktion zum Ausschluss schwerer kongenitaler Neutropenien, maligner Erkrankungen oder seltener erworbener oder angeborener Knochenmarkhypoplasien (u. a. myelodysplastisches Syndrom, schwere aplastische Anämie oder Shwachman-Diamond-Syndrom) durchgeführt werden. Falls die Neutrophilen im Abstand von rund 21 Tagen zwischen deutlich erniedrigten und normalen Werten schwanken, kann die Diagnose einer zyklischen Neutropenie gestellt werden. Oft spricht diese Neutropenieform gut auf eine Therapie mit G-CSF an. Weitere äusserst seltene
Ursachen einer Neutropenie im Kindesalter sind Immunoder Stoffwechseldefekte (12–14).
Thrombozytopenie
Thrombozytopenien (15–19) sind als Plättchenzahl < 150 000/μl definiert. Klinisch manifestiert sich eine Thrombozytopenie oft asymptomatisch als Zufallsbefund bei einer Routinelaboruntersuchung. Als klinische Manifestation zeigen sich häufig Petechien, Blutungszeichen wie Nasenbluten, Zahnfleischblutungen und/oder Hämatome. Das Blutungsrisiko ist umso höher, je tiefer die Anzahl der Blutplättchen im peripheren Blut ist; meist zeigen sich Blutungszeichen ab Werten < 100 000/μl beziehungsweise deutlich tiefer (18). Blutungen bei chirurgischen Interventionen treten oft erst bei Werten < 50 000/μl, spontane Blutungszeichen sogar erst bei Werten < 20 000/μl auf. Neben infektassoziierten Veränderungen ist die immunthrombozytopenische Purpura (ITP) im Kindesalter häufig. Die Kinder präsentieren sich meist in gutem Allgemeinzustand ohne signifikante Organomegalien. Bei der ITP liegt vorwiegend eine Abbaustörung vor, neueste Erkenntnisse gehen auch von einer leichten Produktionsstörung aus (16). Generell kann aber davon ausgegangen werden, dass bei einer ITP viele junge Thrombozyten vorhanden sind und deshalb das Blutungsrisiko trotz tiefer Plättchenzahl geringer ist als bei einem Kind mit Leukämie. Bei einer Leukämie liegt eine Produktionsstörung im Knochenmark vor, und die im Blut zirkulierenden Plättchen sind älter, deshalb treten bei tiefen Werten stärkere Blutungen beziehungsweise Blutungszeichen im Vergleich zur ITP auf. Gemäss WHO-Einteilung der Blutungsneigung muss bei Grad-III-Blutungen (Schleimhautblutungen, Gelenkblutungen, blutiger Stuhl, Urin, Erbrechen oder Husten u. a.) und bei Grad-IV-Blutungen (retinale Blutungen mit Visusverlust und sonstige potenziell letale Blutungen) eine Therapie aufgrund potenziell schwerer Blutungskomplikationen durchgeführt werden (20, 21). So haben Kleinkinder, die gerade Laufen lernen, und zum Beispiel fussballbegeisterte Kinder (Kopfball) ein höheres Risiko als Jugendliche, welche ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen. Medikamente, welche die Blutungsneigung im Sinne einer transienten Thrombozytopathie erhöhen, sollten unbedingt gemieden werden (z. B. Acetylsalicylsäure [ASS], nicht steroidale Antirheumatika [NSAR] usw.). ASS sollte im Kindesalter aufgrund der möglichen Entwicklung eines Reye-Syndroms nur nach Nutzen-Risiko-Abschätzung und fast ausschliesslich bei kardiologischen Erkrankungen verwendet werden. Tiefe Blutungen in Gelenke beziehungsweise Muskeln oder verzögerte Blutungen nach Traumata sprechen eher für eine zugrunde liegende Hämophilie als für eine Thrombozytopenie. Wichtige Hinweise aus der Krankengeschichte sind der zeitliche Verlauf des Auftretens von Blutungszeichen, mögliche Traumata, Blutungen ab ano, Hämaturie, Nasenbluten und das Menstruationsverhalten. Durch das Hinzuziehen von älteren Blutbildern kann eine Aussage hinsichtlich der Dynamik der Werte getroffen werden. Dies hilft bei der weiteren Einteilung von erworbenen und angeborenen Erkrankungen. Ebenfalls wichtig ist die Systemanamnese hinsichtlich des Vorliegens einer B-Sympto-
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matik als Hinweis auf maligne, autoimmune oder infektiöse Erkrankungen. Für letztere Ursache sollte immer auch die Reiseanamnese erfragt werden. Bei leicht erhöhtem Risiko für eine ITP nach MMR-Immunisierung müssen bisher durchgeführte Impfreaktionen erfragt werden. Bauchschmerzen mit blutigen Durchfällen können hinweisend für ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) sein. Als erster diagnostischer Schritt gilt bei einer Thrombozytopenie die Bestätigung mittels erneuter Kontrolle, um bei einem Laborfehler übermässige Abklärungen zu umgehen. Es empfiehlt sich, stets ein komplettes Blutbild mit Ausdifferenzierung durchzuführen. Grosse junge Plättchen sprechen für eine Abbaustörung, kleine alte Plättchen eher für eine Leukämie. Der periphere Blutausstrich hilft auch zur Erkennung von Blasten, Fragmentozyten bei HUS oder Sphärozyten als möglichem Hinweis auf eine hämolytische Anämie. Eine Knochenmarkuntersuchung ist bei chronischer ITP nach einem Jahr, bei Auffälligkeiten im Blutausstrich und/oder bei suggestiver Anamnese beziehungsweise klinischer Untersuchung zum Ausschluss maligner oder hypoplastischer Knochenmarkerkrankungen indiziert. Rund 6 Prozent der Leukämien im Kindesalter fallen ohne Nachweis von Blasten im peripheren Blut im Sinne einer aleukämischen Leukämie
Gründe für reaktive, meist transiente Thrombozytosen sind Operationen, Traumata, bakterielle Infektionen und/oder Eisenmangelanämie. Reaktive Thrombozytosen sind der häufigste Grund für erhöhte Plättchenzahlen im Kindesalter. Sie sind meist selbstlimitierend und brauchen keine Interventionen. Thrombozytosen mit autonomer Proliferation der Megakaryozyten im Knochenmark treten bei den im Kindesalter höchst seltenen myeloproliferativen Erkrankungen auf. Laborchemisch sollte ein Blutbild mit Differenzierung, Ferritin und CRP-Konzentration angefordert werden. Zum Ausschluss von falsch hohen Ferritinwerten im Rahmen einer Akutphasereaktion muss auch immer das CRP mitbestimmt werden. Das CRP ist bei Patienten mit autonomer Proliferation meist nicht erhöht. Typisch für eine im Kindes- und Jugendalter kaum vorkommende chronisch-myeloische Leukämie (CML) sind Splenomegalie, Leukozytose und das Philadelphia-Chromosom. An eine essenzielle Thrombozythämie (ET) kann nach Ausschluss aller anderen Ursachen für eine Thrombozytose gedacht werden. Für eine bei Kindern und Jugendlichen noch seltener zu beobachtende Polycythaemia vera sprechen eine Erhöhung der roten Blutzellreihe, Splenomegalie, tiefe Erythropoietinkonzentration und der positive Nachweis einer JAK2-Mutation.
Tabelle 3
Mögliche Einteilung der Neutropenien
Reaktiv
Immunneutropenie
Schwere kongenitale Neutropenie (SCN) Zyklische Neutropenie Angeborene Erkrankungen mit KM-Versagen Andere
nach (31, 32)
infektiös, medikamentös-toxisch, alimentär Neonatale Alloimmunneutropenie: 3. Lebenstag bis 4. Lebensmonat Primäre Autoimmunneutropenie: typischerweise 5. bis 15. Lebensmonat Kostmann-Syndrom (autosomalrezessiv)
Shwachman-Diamond-Syndrom
primäre Immundefekte, Stoffwechseldefekte
auf. Bei unklaren Fällen und klinischer Verschlechterung gilt also: Rechtzeitig mit dem Spezialisten eine Knochenmarkpunktion diskutieren!
Thrombozytose
Eine Thrombozytose (22, 23) liegt gemäss WHO bei einer Plättchenzahl > 450 000/μl vor. Man unterscheidet zwischen reaktiven und klonalen neoplastischen Erkrankungen.
Die Auflösung unseres Falls: Trizytopenie
Der am Anfang des Artikels vorgestellte Patient hatte eine
ITP. Erfreulicherweise zeigte sich 4 Tage nach einmaliger
Immunglobulingabe ein rascher Anstieg der Thrombozyten
mit Normalisierung auf 212 000/μl. Hinweisend auf eine ITP
war der stets gute Allgemeinzustand ohne Nachweis von
Blasten im peripheren Blutausstrich mit raschem Ansprechen
auf Immunglobulingabe.
Während Infekten sind transiente Zytopenien häufig, werden
aber oft nicht diagnostiziert, da bei harmlosen viralen Infek-
ten keine laborchemischen Bestimmungen durchgeführt wer-
den (und auch nicht sollten). Nach knapp 3 Tagen hatte sich
das Hämoglobin auf 129 g/l normalisiert, und die Leuko-
zyten waren auf 7390/μl angestiegen. Typischerweise liegt
bei einer ITP keine vergrösserte Milz vor. Bei einer Milzver-
grösserung sollte die Diagnostik erweitert werden (u. a.
CMV- und EBV-Screening, Differenzialdiagnose: kongenital
hämolytische Anämien).
s
Dr. med. Axel Karow Abt. für Hämatologie und Onkologie Universitätsklinikum Erlangen Loschgestrasse 15 D-91054 Erlangen E-Mail: axel.karow@uk-erlangen.de
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenkonflikte bestehen.
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ARS MEDICI 1+2 | 2021
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