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Titel
Gastroenterologie – Die Abhängigkeit von Lieferketten wurde mir zum ersten Mal bewusst
Untertitel
Interview mit Prof. Dr. med. Stephan Vavricka Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie AG Zürich
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Datum
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Rubrik
Rückblick 2020/Ausblick 2021
Artikel-ID
49625
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RÜCKBLICK 2020/AUSBLICK 2021

Gastroenterologie
Prof. Dr. med. Stephan Vavricka Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie AG Zürich
Die Abhängigkeit von Lieferketten wurde mir zum ersten Mal bewusst
Wie hat die Coronapandemie Ihre Arbeit im vergangenen Jahr beeinflusst?
Das hat meine Arbeit extrem beeinflusst. Ich habe diesen Frühling zum ersten Mal gemerkt, wie es ist, wenn man nicht mehr genügend Arbeitsmaterial hat. Ich habe plötzlich sehr viel Zeit damit verbringen müssen, Schutzmaterialien wie Schutzkleider, Gummihandschuhe und dergleichen zu beschaffen, um die minimalen Schutzvorkehrungen aufrechtzuerhalten. Die Instandhaltung der Materiallagerbestands war plötzlich sehr aufwendig. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie abhängig man von diesen Lieferketten ist.
Haben Sie selbst Coronatests durchgeführt?
Wir haben gemäss den kantonsärztlichen Richtlinien für die Indikation der Testung an Hausärzte und Testzentren verwiesen und nur spezialärztliche Notfälle unter Einhaltung der Hygieneempfehlungen der Fachgesellschaften behandelt. Wir sind aber stolz, dass wir unsere bereits vor der Coronapandemie in die Wege geleitete Hygienezertifizierung erfolgreich abschliessen konnten.
Hatten Sie Kontakt mit SARS-CoV-2-positiven Patienten, und wie sind Sie damit umgegangen?
Während des Lockdowns im Frühling kam das selten vor, doch jetzt sind wir täglich mit einem bis mehreren Patienten konfrontiert, die entweder positiv sind oder COVID-19 durchgemacht haben. Ich habe mir seit dem letzten Februar angewöhnt, permanent Maske zu tragen, noch mehr auf die Handhygiene zu achten und nach jeder Visite den Raum zu lüften. Der Aufwand ist insgesamt viel grösser geworden.
Mussten Sie Untersuchungen und Behandlungen wegen der Coronapandemie verschieben? Hatte das für die Patienten Konsequenzen?
Während des Lockdowns letzten Frühling waren wir ja angehalten, Termine für Screenings und für Patienten mit nicht akuten Symptomen zu verschieben. Das hatte in einem Fall tatsächlich zur Folge, dass wir den sehr weit fortgeschrittenen Dickdarmkrebs eines Patienten, der «nur» Stuhlunregelmässigkeiten hatte und deswegen seinen Screeningtermin um vier Monate verschoben hatte, erst verspätet gesehen haben. Das tat mir sehr leid, auch

wenn wir vier Monate vorher vielleicht nicht viel mehr hätten tun können.
Gibt es CED-Medikamente, die bei einer COVID-19Erkrankung problematisch werden könnten?
Bei Azathioprin, Tofacitinib und Steroiden in einer Dosis über 20 mg sollte die Indikation genau geprüft werden. Eine grosse Studie mit Onlinebefragungen von Ärzten untersuchte die Beibehaltung oder Weiterführung der CED-Therapie bei einer COVID-19-Erkrankung (1). Die meisten Medikamente stellten jedoch kein Problem dar.
Abgesehen von der Coronapandemie: Welche neuen Erkenntnisse und Erfahrungen des letzten Jahres fanden Sie für Ihr Fachgebiet besonders spannend?
Da gab es mehrere Studien auf verschiedenen Gebieten, die ich sehr interessant und praxisrelevant fand: Colitis ulcerosa: Das Monitorieren von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen per Ultraschall war bis anhin vor allem beim Morbus Crohn als gute Methode bekannt, bei der Colitis ulcerosa waren die Daten dazu nicht so klar. Das hat sich jetzt geändert. Eine gross angelegte prospektive Studie mit 250 Patienten hat nun gezeigt, dass die aktive Entzündung der Colitis ulcerosa auch im Ultraschall zuverlässig feststellbar ist. Bei über 90 Prozent der Patienten war die Dickdarmwand während eines Schubs pathologisch sichtbar verdickt und nach Therapieansprechen wieder normalisiert (2). Eine japanische Forschungsgruppe hat ausserdem gezeigt, dass eine Dickdarmwanddicke von über 3 Millimeter, im Sigma über 4 Millimeter, mit einem entzündlichen Schub assoziiert ist (3). Diese Resultate haben meine tägliche Arbeit verändert. Biologika: Bisher gab es in der Therapie der Colitis ulcerosa keine Vergleichsstudien mit Biologika. Das hat sich mit der Publikation der VARSITY-Studie geändert. Darin wurden die Wirksamkeit und Sicherheit von Adalimumab versus Vedolizumab bei mittelschwerer bis schwerer Colitis ulcerosa verglichen. Es konnte gezeigt werden, dass Vedolizumab bezüglich klinischer Remission und endoskopischer Verbesserung signifikant besser war, bei gleichzeitig tieferer Infektrate (4). In der Studie waren zwar Dosisanpassungen nicht erlaubt, was die Resultate etwas relativiert. Trotzdem ist das Ergebnis für den klinischen Alltag relevant, weil es klar zeigt, dass Vedolizumab besser und sicherer ist. Das kann aber nicht auf andere Biologika übertragen werden. Neu steht Vedolizumab jetzt auch als subkutane Formulierung zur Verfügung, die in der Erhaltungstherapie gleich wirksam und sicher ist wie die intravenöse Form, wie eine weitere Studie gezeigt hat (5). Die neue Möglichkeit bewährte sich beispielsweise während des Lockdowns, wo wir möglichst viele Vedolizumabpatienten auf die subkutane Form umgestellt haben, damit diese für die Verabreichung nicht extra in die Praxis kommen mussten. Primär biliäre Zirrhose oder primär biliäre Cholangitis: Die bisherige Behandlung bestand aus Ursodeoxycholsäure,

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was aber nicht wirklich durch gute Studiendaten belegt war und worauf auch nicht alle Patienten gut ansprachen. Eine Alternative ist Obeticholsäure (Ocaliva®), von der eine auf 5 Jahre angelegte Langzeitstudie bei einer Interimsanalyse zeigen konnte, dass das Gesamtbilirubin im Vergleich zum Ausgangswert im ersten Jahr signifikant sank und sich nachher stabilisierte (6). Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED): Ich werde häufig von meinen Patienten gefragt, was eine CED auslöst und was sie zum Schutz tun könnten. Es gibt dazu eine unübersichtliche Anzahl von vielen kleinen Metaanalysen zu vereinzelten Risikofaktoren, mit denen sich diese Frage aber nicht beantworten lässt. Nun ist erstmals ein grosser Review über diese Metaanalysen publiziert worden, der 71 Umweltfaktoren, darunter Lebensstil, Medikamente, Ernährung, chirurgische Eingriffe, für die CED-Entstehung bewertet hat (7). Dabei wurde das Schutz- beziehungsweise Risikopotenzial der einzelnen Faktoren für die Entwicklung einer CED quantifiziert. Gemäss dieser Ana-

Tabelle
Schützende und krankheitsauslösende beziehungsweise verstärkende Umweltfaktoren bei CED

Schutz vor einer CED-Entwicklung

Risikoerhöhung für eine CED-Entwicklung

hohe körperliche Aktivität (MC): –37%

Rauchen (MC): +76%

Stillen (CED): –26%

Leben in der Stadt (CED): +45%

Benutzung von Doppelbetten (MC): –44%

Appendektomie (MC): +61%

Teekonsum (CU): –31%

Tonsillektomie (MC): +37%

hohe Folsäurespiegel (CED): –57%

Antibiotikaexposition (CED): +57%

hohe Vitamin-D-Spiegel (MC): –38%

orale Kontrazeptiva (CED): +31%

Infektionen mit H. pylori (CED): –57%

Konsum von Softdrinks (CU): +69%

Frucht- und Gemüsekonsum (CU): –29%

Vitamindefizienz (CED): +64%)

Infektionen mit nicht
H.-pylori-enterohepatischen
Helicobacter-Spezies (CED):
+59%
modifiziert nach (4) CED: chronisch entzündliche Darmerkrankungen, MC: Morbus Crohn, CU: Colitis ulcerosa

lyse senkt Sport das Risiko für Morbus Crohn um 37 Pro-

zent, das Risiko für Colitis ulcerosa wird durch den Kon-

sum von Softdrinks um 69 Prozent erhöht. Weitere Beispiele

sind in der Tabelle (unten) ersichtlich, die für die Beratung

der Patienten sehr hilfreich ist. Anhand dieser Prozentzah-

len kann man den Patienten besser vermitteln, wie gefähr-

lich es ist, wenn man raucht, und wie schützend Frucht- und

Gemüsekonsum ist.

Choosing wisely: Eine italienische Expertengruppe mit 110

Mitgliedern hat die Therapie der CED im Hinblick auf den

vernünftigen Einsatz von Behandlungen durchleuchtet und

mittels Konsensusverfahren fünf «Do- und Do-not-Emp-

fehlungen» herausgegeben (8). Laut diesen soll 1. ein Ein-

satz von Steroiden zur Erhaltungstherapie vermieden wer-

den, 2. der Einsatz einer Thromboseprophylaxe bei

stationären Patienten mit aktiver Morbus-Crohn- oder

Colitis-ulcerosa-Erkrankung nicht vergessen werden und 3.

bei perianalen Manifestationen bei Morbus-Crohn-Patien-

ten vor einem Einsatz von Biologika immer ein Chirurg zur

Therapieentscheidung zugezogen werden. 4. soll bei

schwangeren Frauen die CED-Medikation nicht ohne spe-

ziellen Grund abgesetzt werden, diese sei das kleinere Übel

als ein Schub während der Schwangerschaft. Der 5. und

letzte Punkt betrifft die chirurgischen Eingriffe: Diese sollen

nicht unnötig hinausgeschoben werden.

Funktionelle Dyspepsie: Für die oft frustrierende Behand-

lung der funktionellen Dyspepsie steht mit Carmenthin®,

einer Kombination aus Pfefferminz- und Kümmelöl, seit

Kurzem ein neues Medikament zur Verfügung, was das

Armamentarium in der Behandlung von Reizdarmpatienten

ergänzt. Meiner Meinung nach wirkt es recht gut, ich habe

bereits viele Patienten damit behandelt und bin um diese

zusätzliche Option sehr froh.

s

Referenzen: 1. Agrawal M et al.: Physician practice patterns on holding inflammatory
bowel disease medications due to COVID-19 in the SECURE-IBD registry. J Crohns Colitis. 2020; jjaa243. 2. Maaser C et al.: Intestinal ultrasound for monitoring therapeutic response in patients with ulcerative colitis: results from the TRUST&UC study. Gut. 2020;69(9):1629-1636. 3. Kinoshita K et al.: Usefulness of transabdominal ultrasonography for assessing ulcerative colitis: a prospective, multicenter study. J Gastroenterol. 2019;54(6):521-529. 4. Sands BE: VARSITY Study Group. Vedolizumab versus adalimumab for moderate-to-severe ulcerative colitis. N Engl J Med. 2019 Sep 26; 381(13): 1215-1226. 5. Sandborn WJ et al.: Efficacy and safety of vedolizumab subcutaneous formulation in a randomized trial of patients with ulcerative colitis. Gastroenterology. 2020; 158(3): 562-572.e12. 6. Trauner M et al.: Long-term efficacy and safety of obeticholic acid for patients with primary biliary cholangitis: 3-year results of an international open-label extension study. Lancet Gastroenterol Hepatol. 2019 Jun;4(6):445-453. 7. Piovani D et al.: Environmental risk factors for inflammatory bowel diseases: an umbrella review of meta-analyses. Gastroenterology. 2019;157(3):647-659.e4. 8. Lenti MV et al.: Are we choosing wisely for inflammatory bowel disease care? The IG-IBD choosing wisely campaign. Dig Liver Dis. 2020;52(1):44-50.

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