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EDITORIAL
Es führt – auch 2021 – kein Weg an Corona vorbei
Geht es Ihnen auch so? Sind Sie der Diskussionen, Klagen, Vorschläge und Schuldzuweisungen, des Kopfschüttelns und Sichwunderns auch müde geworden? Oder sind Sie bereits über das Stadium des Beelendetseins hinaus. Oder darüber hinaus und bereits wieder mitten drin in den zwischen Fachwissen und Ideologie, zwischen Verharmlosung und Existenzangst hin und her wogenden Meldungen, Talkshows, Facebook-Posts und Tweets? Über Sars-CoV-2 und COVID-19 wurde in den vergangenen Monaten so ziemlich alles geschrieben und gesagt, was es zu schreiben und zu sagen gab. Mehrfach und von fast jedem, der etwas mitzuteilen hatte. Aus politischer, gesellschaftlicher, wissenschaftlicher, ökonomischer und jeder anderen denkbaren Sicht. Da fragt man sich als Verleger, Redaktor, Journalist und Kolumnist schon: Was können wir zu diesem Thema noch Wesentliches oder gar Originelles beitragen? Vielleicht sollte die ehrliche Antwort auf diese Frage lauten: «Nichts.» Aber Ehrlichkeit hilft in diesem Fall nicht weiter. Man kann sich als Publizist noch so sehr bemühen, sich auf andere, ebenfalls wichtige und in den vergangenen Monaten vernachlässigte Themen zu konzentrieren, das Thema «Corona» holt einen täglich, ja stündlich ein. Mit noch neueren News, Statements, kleinen Skandälchen, Schreckensbildern aus anderen Ländern. Nein, man kommt – privat wie beruflich – nicht um dieses hartnäckige Virus herum. Deshalb, quasi in eigener Sache: Ein zweimal im Monat erscheinendes Fortbildungsorgan wie ARS MEDICI
kann niedenAnspruchhaben,topaktuellzusein–ausser
mit seinen elektronischen Newslettern, die wir dieses
Jahr häufiger versenden. Wir können sortieren, einord-
nen, Hintergründe beleuchten, Geschehenes analysie-
ren, Fragen stellen. Und uns gelegentlich satirisch mo-
kieren über die Protagonisten in diesem dramatischen
Geschehen. Nicht über die von COVID-19 Betroffenen,
ihre Angehörigen, die Mitarbeiter(innen) in Kliniken und
Heimen, die vielen, die in wirtschaftliche Nöte geraten,
wohl aber über die besserwisserischen medizinischen
Laien, die geschwätzigen Politiker, die weltanschaulich
Verirrten – und über uns selber.
Beginnen wir mit dem heutigen Tag (für Sie wird es ein
anderer sein als für mich, aber egal): Ziemlich genau
320 Tage ist es her, seit in der Schweiz – im Tessin – der
erste Patient coronapositiv getestet wurde. Es war der
25. Februar 2020. Die Person hatte in Mailand an einer
Versammlung teilgenommen, ihre Kontaktpersonen
wurden informiert und für 14 Tage in Quarantäne ge-
schickt. Das BAG liess verlauten, das Coronavirus stelle
ein moderates Risiko dar, die medizinischen Einrichtun-
gen seien vorbereitet. Herr Berset flog nach Rom, um sich
mit den Gesundheitsministern der Nachbarländer abzu-
sprechen. Noch am Vortag hatte man von 300 Ver-
dachtsfällen berichtet, die alle negativ getestet worden
seien.
Bis heute, erst elf Monate später, erschienen rund 130
Medienmitteilungen des BAG; der überwiegende Teil
davon zu Corona. In dieser kurzen Zeit, die uns trotz des
fast sorglosen Sommers als ziemlich chaotisch in Er-
innerung bleiben wird, in der Schutzmasken und -män-
tel ebenso zur Mangelware wurden wie Desinfektions-
mittel, in der wegen unterschiedlicher Sichtweisen
Freundschaften zerbrachen, Virologen und Epidemio-
logen zu den bedauernswertesten Berufsleuten wur-
den, viele schuldlos verarmten und dafür einige zu Mil-
lionären, ja sogar Milliardären wurden, in dieser kurzen
Zeit entwickelten die klügsten und cleversten, die ehr-
geizigsten und geschäftstüchtigsten Leute Impfstoffe
mit dem Potenzial, uns unser altes, wenn auch wohl
nicht das gleiche Leben wieder zurückzugeben. Wenn
das kein Grund ist, sich ein wenig zu freuen. Und ge-
spannt zu sein aufs 2021. Wir erleben nicht den ersten,
aber immerhin einen der spektakulärsten «Meilen-
steine» der Medizingeschichte.
s
Richard Altorfer
ARS MEDICI 1+2 | 2021
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