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BERICHT
Aktuelle Therapie bei Migräne
Triptane, Ditane oder Gepante – wann ist welche Substanz sinnvoll?
Nach Jahrzehnten des Stillstands drängen derzeit neue Medikamentengruppen auf den Markt. Nach den Anti-CGRP-Antikörpern sind nun zumindest in den USA die ersten Ditane und Gepante verfügbar. Zulassungen in der EU und in der Schweiz sind zu erwarten.
Migräne ist häufig. Und zwar so häufig, dass die Zahl der Migränepatienten allein für die Schweiz auf 1,2 Millionen geschätzt werde, so PD Dr. Andreas Gantenbein, Chefarzt Neurologie an der RehaClinic Bad Zurzach und Präsident der Schweizer Kopfwehgesellschaft. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass nicht alle Betroffenen von Mitgliedern der Kopfwehgesellschaft behandelt werden können, sondern zu einem erheblichen Teil von Allgemeinmedizinern versorgt werden. Diese sind mit der äusserst komplexen Klassifikation der Kopfschmerzen konfrontiert, die über 250 Arten von primären und sekundären Kopfschmerzen in 14 Gruppen definiert. Das wichtigste diagnostische Instrument in der Migränediagnostik sei, so Gantenbein, das Tagebuch. Dieses ermöglicht die Erkennung von Mustern, erlaubt eine Abschätzung des individuellen Leidensdrucks und eröffnet oft bereits Ansätze für die Prävention, wenn beispielsweise ein Zusammentreffen von Attacken und bestimmten Ereignissen oder Aktivitäten auffällt. Wenn eine Therapie begonnen wurde, erlaubt das Tagebuch das Monitoring dieser Therapie. Wichtig ist die Identifikation sogenannter Red Flags, also von Warnzeichen, die in Richtung eines sekundären und möglicherweise gefährlichen Kopfschmerzes weisen. Eine aktualisierte Liste von Red und Orange Flags wurde im vergangenen Jahr publiziert (1). Dazu gehören beispielsweise Allgemeinsymptome wie Fieber, plötzlich einsetzender Schmerz, Malignome in der Anamnese und neurologische Begleitsymptome.
Migräne kommt aus dem Hirnstamm
Die Migräne äussert sich typischerweise mit pulsierendem, halbseitigem Kopfschmerz, der von Übelkeit und/oder Erbrechen sowie von Foto- und Phonophobie begleitet und von Bewegung verstärkt wird. Die Attacken dauern zwischen 4 und 72 Stunden, oft sind Trigger bekannt. Abweichungen wie zum Beispiel Schmerzen im gesamten Kopf sind häufig. Als typisch für den Migränekopfschmerz hebt Gantenbein die Reizempfindlichkeit hervor. Die pathophysiologischen Konzepte der Migräne haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Dachte man noch vor wenigen Jahren, dass es sich primär um eine Störung des Gefässtonus im Gehirn handle, so geht man heute davon aus, dass eine zentrale Schmerzstörung im Vordergrund steht, die ihren
Ausgang im Hirnstamm nimmt und in der Folge auch andere Strukturen wie die autonomen Ganglien involviert. Gantenbein betont jedoch, dass die Pathophysiologie der Migräne nach wie vor nicht vollständig verstanden werde. Dessen ungeachtet, bewährt sich in der Therapie ein sehr altes Drei-Säulen-Modell bis zum heutigen Tag. Diese Säulen heissen Akuttherapie, Prophylaxe und nicht medikamentöse Massnahmen. Bei Letzteren nennt Gantenbein aktive Entspannung, Biofeedback sowie aerobes Training mindestens dreimal 30 Minuten pro Woche. Dabei sind Schwimmen, Radfahren oder Walking ideal, während beim Joggen besonders in den Tagen rund um eine Attacke die Erschütterungen des Kopfes problematisch sein können. Zu den nicht medikamentösen Massnahmen zählen auch Akupunktur und verschiedene Techniken der Neurostimulation. Die Wirksamkeit von Akupunktur bei Migräne ist umstritten. Eine Studie, die Akupunktur, Sham-Akupunktur und konventionelle medikamentöse Prophylaxe verglich, kam zu dem Ergebnis, dass Akupunktur und Sham-Akupunktur etwa gleich wirksam sind. Allerdings erwies sich die medikamentöse Prophylaxe in dieser Arbeit ebenfalls nicht als wirksamer (2). Erfahrungsgemäss wirke Akupunktur bei Migräne recht gut, so Gantenbein, nur sei eben fraglich, ob es wirklich die traditionellen Meridiane sein müssten oder ob nicht der Reiz des Nadelstichs (wie bei der Sham-Akupunktur) genüge, um im peripheren oder auch zentralen Schmerzsystem den gewünschten Effekt auszulösen. Hinzu kommt seit Kurzem eine Vielzahl sogenannter Akkugeräte, von denen das bekannteste die spezifisch für die Migräne entwickelte supraorbitale transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) ist. Die TENS-Behandlung wird in der Schweiz unter Umständen erstattet. Zu anderen Verfahren wie der transkraniellen Gleichstromstimulation laufen Studien. Auch invasivere Formen der Stimulation werden bei refraktärem Kopfschmerz untersucht oder bereits eingesetzt.
Neue Substanzen für die Akutbehandlung in Sicht
In der Akutbehandlung der Migräneattacke werden an nicht medikamentösen Massnahmen Schlaf und Entspannung empfohlen. In der medikamentösen Therapie der Migräne zählen prinzipiell drei Grundsätze: hoch genug, gezielt und nicht zu
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häufig. An Medikamenten stehen NSAR und Antiemetika sowie seit rund 30 Jahren die Triptane zur Verfügung. Vor Kurzem sind die Medikamentengruppen der Gepante und Ditane hinzugekommen. Gepante sind die Vorläufer der heute eingesetzten CGRP-Antikörper, Ditane ähneln in ihrer Wirkweise am Serotoninrezeptor den Triptanen, sind dabei aber weniger vasokonstriktiv und damit eine potenzielle Option für Patienten mit höherem kardiovaskulären Risiko. Lasmiditan hat in den USA bereits die Zulassung erhalten, in der EU und in der Schweiz laufen die Zulassungsverfahren. Die Phase-III-Studien zeigten Überlegenheit im Vergleich zu Plazebo, dabei jedoch nicht ganz die Effektgrösse, die von den Triptanen bekannt ist (3). Dafür erlaubten diese Substanzen, so Gantenbein, im Falle einer Zulassung die Behandlung von Patienten, bei denen Triptane kontraindiziert seien. Gepante sind «small molecules», die den CGRP-Rezeptor blockieren und bereits vor der Entwicklung der Anti-CGRPAntikörper in Studien untersucht wurden. Für Telcagepant konnte in einer Pilotstudie eine gute und mit den Triptanen vergleichbare Wirksamkeit in der Behandlung der akuten Migräne gezeigt werden (4). Allerdings trat in der weiteren Folge in einer Studie zur Migräneprophylaxe bei 2,5 Prozent der Patienten ein reversibler Anstieg der Transaminasen auf, weshalb das gesamte Entwicklungsprogramm beendet wurde. Mit Ubrogepant, Rimegepant und Atogepant sind nun drei weitere Gepante auf dem Weg in den Markt oder in den USA bereits zugelassen. Für Ubrogepant wurde in den Phase-III-Studien ACHIEVE-I und ACHIEVE-II Überlegenheit im Vergleich zu Plazebo im Hinblick auf einen kombinierten Endpunkt aus Schmerzfreiheit nach zwei Stunden und Fehlen der störendsten Migränesymptome (MBS) nach zwei Stunden demonstriert (5, 6). Ebenso erwies sich Rimegepant in einer Phase-III-Studie mit dem gleichen Endpunkt als überlegen im Vergleich zu Plazebo (7). Was das für die Praxis bedeutet, ist unklar. Die Preise der Gepante seien in den USA, so Gantenbein, sehr hoch. Zudem sind die berichteten Effekte der neuen Gepante nicht so deutlich, wie das bei Telcagepant der Fall war.
Eine Revolution in der Attackenprophylaxe
Einen wesentlichen Teil der Migränetherapie macht die Attackenprophylaxe bei Patienten mit episodischer Migräne und häufigen Attacken beziehungsweise bei chronischer Migräne aus. An konventionellen Therapeutika werden Antidepressiva, Antikonvulsiva und Betablocker eingesetzt. Zugelassen sind das Trizyklikum Amitriptylin, das Antikonvulsivum Topiramat sowie die Betablocker Metoprolol und Propranolol. Zahlreiche weitere Substanzen aus diesen Gruppen würden verwendet und zumindest teilweise von den Kassen erstattet, so Gantenbein. Aus Sicht der Migränetherapie haben all diese Medikamente erhebliche Nebenwirkungen. Das bereitet die geringsten Probleme, wenn sich diese Wirkungen zur kombinierten Behandlung der Migräne und anderer Erkrankungen nutzen lassen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn einem Patienten mit Migräne und Hypertonie Betablocker verschrieben werden. An Nahrungsergänzungsmitteln finden Coenzym Q10, Riboflavin und Magnesium Einsatz in der Migräneprophylaxe – häufig ohne ärztliche Empfehlung. Bei chronischer Migräne kann Botulinumtoxin nach einem speziellen Schema rund um den Schädel appliziert werden.
Als «Revolution» bezeichnet Gantenbein die Einführung von
Antikörpern gegen CGRP oder dessen Rezeptor. Mittlerweile
sind in der Schweiz drei monoklonale Antikörper in der In-
dikation Anfallsprophylaxe bei episodischer und chronischer
Migräne zugelassen. Fremanezumab und Galcanezumab
richten sich gegen den CGRP-Liganden, Erenumab gegen den
CGRP-Rezeptor. Darüber hinaus werden diese Antikörper in
der Indikation Clusterkopfschmerz untersucht. Die Wirk-
samkeit bewegt sich bei allen drei Antikörpern in einer ver-
gleichbaren Grössenordnung. Rund 50 Prozent der Patienten
mit episodischer Migräne erreichten eine Reduktion der Mig-
ränetage um 50 Prozent, wie Gantenbein am Beispiel von
Galcanezumab erläuterte (8). Diese Wirkung sei über die Zeit
einigermassen stabil, so Gantenbein, die Drop-out-Raten in
den Studien seien gering, vorbehandelte Patienten sprächen
gut an. Bei chronischer Migräne wird eine Reduktion um
zirka ein Drittel der Migränetage erreicht (9, 10). Damit lie-
gen die CGRP-Antikörper hinsichtlich der Wirksamkeit in
der gleichen Grössenordnung wie die konventionellen Medi-
kamente, werden jedoch deutlich besser vertragen.
In den Studien liegen die Nebenwirkungen auf Plazebo-
niveau. Im klinischen Alltag hat sich mittlerweile gezeigt, dass
in seltenen Fällen unter Behandlung eine Hypertonie auftre-
ten beziehungsweise sich eine bestehende Hypertonie ver-
schlechtern kann. Aufgrund der hohen Kosten ist die Erstat-
tung an eine Reihe von Regeln gebunden, wie zum Beispiel
zwei wegen Unwirksamkeit, Kontraindikationen oder Unver-
träglichkeit gescheiterte medikamentöse Prophylaxeversu-
che. Die Wirksamkeit muss überprüft und dokumentiert wer-
den.
s
Reno Barth
Quelle: Vortrag «Migräne im Trend – Diagnostik und Therapie» beim Rheuma Top
2020, online am 27. August 2020.
Referenzen: 1. Do TP et al.: Red and orange flags for secondary headaches in clinical
practice: SNNOOP10 list. Neurology 2019; 92(3): 134–144. 2. Diener HC et al.: Efficacy of acupuncture for the prophylaxis of mig-
raine: a multicentre randomised controlled clinical trial. Lancet Neurol 2006; 5(4): 310–316. 3. Goadsby PJ et al.: Phase 3 randomized, placebo-controlled, doubleblind study of lasmiditan for acute treatment of migraine. Brain 2019; 142(7): 1894–1904. 4. Ho TW et al.: Randomized controlled trial of an oral CGRP receptor antagonist, MK-0974, in acute treatment of migraine. Neurology 2008; 70(16): 1304–1312. 5. Lipton RB et al.: Effect of ubrogepant vs placebo on pain and the most bothersome associated symptom in the acute treatment of migraine: the ACHIEVE II randomized clinical trial. JAMA 2019; 322(19): 1887–1898. 6. Dodick DW et al.:Ubrogepant for the treatment of migraine. N Engl J Med 2019; 381(23): 2230–2241. 7. Croop R et al.: Efficacy, safety, and tolerability of rimegepant orally disintegrating tablet for the acute treatment of migraine: a randomised, phase 3, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2019; 394(10200): 737–745. 8. Stauffer VL et al.: Evaluation of galcanezumab for the prevention of episodic migraine: the EVOLVE-1 randomized clinical trial. JAMA Neurol 2018; 75(9): 1080–1088. 9. Tepper S et al.: Safety and efficacy of erenumab for preventive treatment of chronic migraine: a randomised, double-blind, placebo-controlled phase 2 trial. Lancet Neurol 2017; 16(6): 425–434. 10. Bigal ME et al.: Safety, tolerability, and efficacy of TEV-48125 for preventive treatment of chronic migraine: a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 2b study. Lancet Neurol 2015; 14(11): 1091–1100.
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