Transkript
FORTBILDUNG
Virushaltige Aerosole rücken in den Fokus
Welche Faktoren steigern das Risiko einer Ansteckung mit SARS-CoV-2?
Auf dem Weg aus dem Lockdown galt lange Zeit die AHA-Regel (Abstand, Handhygiene, Alltagsmaske) als der Garant für ein weiterhin niedriges Ansteckungsrisiko. Während an der Sinnhaftigkeit zumindest in Fachkreisen kaum gezweifelt wird, stellt sich immer mehr die Frage, ob diese drei Massnahmen wirklich ausreichen. Denn die Bedeutung von infektiösen Aerosolen, die allein mit AHA-Massnahmen nicht abgewehrt werden können, wird immer deutlicher. Wissenschaftler aus aller Welt fordern daher weitere Massnahmen (Stand 21. Oktober 2020).
SARS-CoV-2, der Erreger der aktuellen Pandemie, gehört zu den Coronaviren – kugelförmige RNA-Viren, die Mitte der 1960er-Jahre erstmals identifiziert wurden. Mit dem neuen Pandemievirus sind mittlerweile 7 humanpathogene Coronaviren bekannt, wovon 4 vergleichsweise banale Erkältungen verursachen. Besonders virulent war dagegen der Erreger von SARS-CoV (severe acute respiratory syndrome corona virus), der in den Jahren 2002 und 2003, ausgehend von China, in mehreren
MERKSÄTZE
� Die AHA-Regel zur Minimierung des Ansteckungsrisikos sollte durch Massnahmen zur Reduktion der Aerosolübertragung ergänzt werden.
� Bei asymptomatischen Personen mit Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion sollte man mit dem Abstrich mindestens eine Latenzzeit von 2 bis 3 Tagen seit dem vermuteten Infektionsereignis abwarten.
� SARS-CoV-2-Infizierte sind im Normalfall bis zu 3 Tage vor Symptombeginn infektiös und scheiden nach dem Symptombeginn noch bis zu 10 Tage infektiöse Viren aus. Bei positiven PCR-Test im späteren Verlauf scheint es sich nicht mehr um infektionsfähige Viruspartikel zu handeln.
� «Superspreader-Events» werden in Situationen beobachtet, in denen verstärkt durch tiefe Atmung Aerosole in geschlossenen Räumen mit fehlender oder geringer Frischluftzufuhr freigesetzt werden.
� Das Risiko einer Aerosolübertragung lässt sich vor allem durch eine gute Durchlüftung von Indoorbereichen mit ausreichend Frischluftzufuhr und Minimierung einer Rezirkulation senken. Zusätzlich können hocheffektive Luftfiltrationssysteme sowie die Nutzung von UV-Licht erwogen werden.
Ländern eine Epidemie atypischer Lungenentzündungen mit einer Letalität um 10 Prozent auslöste. Innerhalb weniger Monate zählte die WHO mehr als 8000 Erkrankungen und 774 Todesfälle in 26 Ländern. Im März 2003 wurde SARSCoV von der WHO als weltweite Bedrohung eingestuft, es konnte allerdings weitgehend eingedämmt werden, bevor es in eine Pandemie ausufern konnte (1). Zehn Jahre später hielt das aus Saudi-Arabien stammende MERS-CoV (Middle East respiratory syndrome-related corona virus) die Welt in Atem – dieser Erreger brachte es auf eine Letalität von 20 bis 40 Prozent. Die Verbreitung blieb stets lokal begrenzt, allerdings konnte das Virus niemals wieder vollständig zurückgedrängt werden. Ende Februar waren der WHO seit der Entdeckung insgesamt 2519 Erkrankungen bekannt, von denen 866 zum Tod geführt hatten (2). Im Vergleich zu diesen beiden Vorgängern ist eine Infektion mit dem aktuellen Pandemievirus SARS-CoV-2 deutlich weniger gefährlich. Die Sterblichkeitsrate, die sich aus den bestätigten COVID-19-Fällen ergibt, zeigt eine starke Variabilität, die sich zwischen 0,2 Prozent in Deutschland, 0,6 Prozent in der Schweiz und 7,7 Prozent in Italien bewegt (3). Da die Dunkelziffer an Infektionen deutlich höher vermutet wird, dürfte die tatsächliche Letalität der Infektion entsprechend niedriger liegen – in der «Heinsberg-Studie» wurde zum Beispiel eine Letalität von 0,36 errechnet (4).
Erfolgreiche Mutationen mit vermehrter Virusreplikation
Ein wesentlicher «Erfolgsfaktor» von SARS-CoV-2 ist die hohe Übertragungshäufigkeit. So liegt die Reproduktionszahl R0 ohne Eindämmungsmassnahmen (Abstand, Mund-NaseSchutz, Quarantäne von Infizierten und Kontaktpersonen mit hohem Ansteckungsrisiko) zwischen 2,2 und 3,9 (5). Das bedeutet, dass jeder Infizierte, wenn es keine Einschränkungen gäbe, zwischen 2 und 4 weitere Personen anstecken würde. Diese hohe Reproduktionszahl erklärt auch die starke exponentielle Ausbreitung der Infektion, die in der Anfangs-
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Abbildung 1: Ausbreitung der Spike-Protein-Variante G614 im zeitlichen Verlauf (Quelle: Bildabstract von Korber B et al. [6])
phase zu beobachten war und aktuell auch in der zweiten Welle wieder zu beobachten ist. Zurückzuführen ist die hohe R0 einerseits darauf, dass die Infizierten bereits bis zu 2 Tage vor dem Einsetzen der Symptomatik Viren ausscheiden, andererseits auf die im Vergleich zu SARS-CoV und MERS-CoV höhere Infektiosität, die auch damit zusammenhängt, dass sehr viele Viruspartikel von den Infizierten ausgeschieden werden. In dieser Hinsicht zeichnet sich bereits in der kurzen Zeit seiner Existenz eine Steigerung der Infektiosität ab, die auf die Verbreitung einer Mutation im Bereich des Spike-Proteins zurückzuführen ist (Abbildung 1) (6): Während noch im Januar 2020 ausschliesslich die ursprüngliche Spike-Protein-Variante D614 weltweit verbreitet war, tauchte in den nächsten Wochen die Mutation G614 auf – zunächst in Europa. Diese Virusvariante zeichnete sich dadurch aus, dass sie zu signifikant höheren Virustitern bei den Infizierten führte, ohne die Schwere der Erkrankung zu beeinflussen. Sie wurde erstmals in Proben aus Deutschland und China Ende Januar nachgewiesen. Während die G614-Mutation vor Anfang März ausserhalb von Europa eine Rarität war, konnte sie sich mittlerweile über den gesamten Globus ausbreiten, und sie ist heute weltweit die dominierende Virusform dieser Pandemie (6). Der höhere Virusload und die damit verbundene höhere Ansteckungswahrscheinlichkeit, bei gleichzeitig erhaltener körperlicher Fitness und somit auch Unauffälligkeit der Überträger, begünstigten den enormen Erfolg dieser Virusmutante.
Rolle der symptomfreien Virusträger
Eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung des neuen Pandemieerregers spielen nach heutigen Erkenntnissen die Virusausscheider ohne COVID-19-Symptomatik. Dabei handelt es sich entweder um Infizierte, die dauerhaft symptomfrei blei-
ben (asymptomatisch), oder auch Personen, die bereits in der Latenzphase vor der eigenen Erkrankung (präsymptomatisch) weitere Personen anstecken. Die exakte Abgrenzung ist schwer möglich, da auch viele der «asymptomatischen» Personen bei genauem Nachfragen leichte und unspezifische Symptome wie zum Beispiel Kopfschmerzen und/oder eine nasale Obstruktion berichten. Eine solche prodromale Phase kann auch einer späteren Phase mit charakteristischeren Symptomen wie Fieber und Husten vorausgehen (7). Zudem ist der Beginn der symptomatischen Phase nicht eindeutig definiert: Während in manchen Untersuchungen erst der Fieberanstieg als Symptombeginn angesehen wird, ist es in anderen Untersuchungen bereits jegliche Symptomatik, die zur Definition einer symptomatischen Erkrankung ausreichte. Daher schwanken auch die Angaben, wie hoch der Anteil derer ist, die sich durch asymptomatische Virusausscheider anstecken. Die Autoren einer Studie, in der bei 77 Infektionspaaren die Infektiosität der Indexfälle im Zeitverlauf sowie die Zeit der Ansteckung dokumentiert wurden, kamen zu dem Ergebnis, dass 44 Prozent der sekundären Infektionen in der präsymptomatischen Phase des Indexfalls auftraten (8). Die meisten präsymptomatischen Ansteckungen traten in den beiden Tagen vor Symptombeginn auf, doch es gab auch abweichende Verläufe: 9 Prozent der präsymptomatischen Ansteckungen traten bereits 3 Tage vor und 1 Prozent sogar 5 Tage vor Symptombeginn des Indexpatienten auf (8). Die Ansteckungen über asymptomatische Virusträger kommen noch hinzu. Wie hoch dieser Anteil ist, wurde im Rahmen von zwei Reihentestungen in der italienischen Kleinstadt Vo untersucht, aus der der erste in Italien dokumentierte COVID-19-Tote stammte. In der Folge wurde der Ort mit etwa 3200 Einwohnern komplett unter Quarantäne gestellt; bei den zwei Rachenabstrich-Reihentestungen zu Beginn des dortigen Lockdowns sowie 2 Wochen später wurden jeweils 86 beziehungsweise 72 Prozent der Einwohner getestet (9). Insgesamt 42,5 Prozent der positiv Getesteten zeigten überhaupt keine Symptome – weder zum Zeitpunkt des Abstrichs noch im weiteren Verlauf. Im gemessenen Virusload ergaben sich keine Unterschiede zwischen den symptomatischen und den asymptomatischen Infizierten (9).
Verlauf und Nachweisbarkeit der COVID-19-Infektion
Bei einem typischen Verlauf liegt die Dauer der Inkubationszeit, also der Zeit von der eigenen Ansteckung bis zum Symptombeginn, bei 5 bis 6 Tagen, wobei die Spannweite 1 bis 14 Tage beträgt (siehe Abbildung 2) (10). Da die Virusproduktion bereits 2 bis 3 Tage vor dem Beginn der Symptomatik einsetzt, beträgt die Latenzzeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zum Start der Virusreplikation, nach Angaben des RKI etwa 2 bis 3 Tage. Die höchste Infektiosität besitzen die Betroffenen am Tag vor ihrem Symptombeginn (8). Will man bei asymptomatischen Menschen mit Verdacht auf eine stattgehabte Infektion diese mit dem PCR-Virusnachweis bestätigen, ist es daher sinnvoll, ab dem vermuteten Infektionsereignis mindestens die Latenzzeit abzuwarten, bevor man die Rachen- und Nasalabstriche durchführt. Eine noch offene Frage ist, wie lange die Infizierten infektiös bleiben. In einer Studie der Berliner Charité, in der bei 9 Patienten die Ausscheidungsdynamik im Verlauf untersucht
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Ansteckungsraten bei Chorproben erklären. Gut dokumentiert ist ein entsprechender Ausbruch nach einer Chorprobe mit 61 Chormitgliedern in Washington State, bei der sich 52 Personen infizierten (14). Auch die überfüllten Nachtclubs von Ischgl boten dieses Setting bei zusätzlich hoher Personendichte. Eine ähnliche Situation findet sich aber auch bei Indoorsport, bei dem anstrengungsbedingt eine tiefe In- und Exspiration stattfindet. Dokumentiert ist zum Beispiel die Ansteckungsserie bei einem mehrtägigen Curling-Wettkampfevent in Edmonton/Kanada, bei dem sich im März 2020 von 72 Teilnehmern insgesamt 24 mit SARS-CoV-2 infizierten (15). Daher sollte bei solchen Konstellationen stets auf eine gute Hallenbelüftung geachtet werden.
Abbildung 2: Angaben zur Infektiosität des Virus in Probenmaterial zum direkten Erregernachweis und zu Laborparametern bei COVID-19 nach derzeitigem Literaturstand (Oktober 2020). Die Quellenangaben beziehen sich auf den Originaltext (siehe www.rki.de/covid-19-diagnostik).
wurde, konnten aus Rachenabstrichen bis zum 4. und aus dem Sputum bis zum 8. Tag nach Symptombeginn vermehrungsfähige Viren nachgewiesen werden (10). In einer ähnlichen Untersuchung aus Hongkong waren bei 26 Patienten bis zum 7. Tag nach Symptombeginn vermehrungsfähige Viren nachweisbar (8). Allerdings zeigte sich auch, dass die Schwere der Erkrankung offenbar einen Einfluss auf die Infektiosität haben kann. So wurden bei schweren Verläufen und in Einzelfällen Ansteckungszeiträume von bis zu 20 Tagen nach Symptombeginn beobachtet (11). Anhand der bisherigen Datenlage geht das RKI bei milder bis moderater Erkrankung und normalem Immunstatus von einer durchschnittlichen Infektiositätsdauer von 8 bis 9 Tagen aus, da ab Tag 10 nach Symptombeginn bis auf Einzelfälle keine Virusanzucht aus Abstrichmaterial mehr möglich ist (10). Zwar bleibt der PCR-Nachweis bei manchen Patienten viel länger positiv, jedoch scheint es sich hier nicht mehr um infektionsfähige Viruspartikel zu handeln. Bei schweren Verläufen wurde eine erfolgreiche Virenanzucht bis zum Tag 20 nach Symptombeginn berichtet (10).
Phänomen «Superspreading»
Bereits bei SARS-CoV wie auch bei MERS-CoV fiel das Phänomen auf, dass manche Menschen sehr viele Folgeinfektionen auslösen, während andere Infizierte nur wenige oder sogar niemanden infizieren; es wurden bereits damals «superspreading events» beobachtet, die bei der Ausbreitung der Infektionen eine zentrale Rolle spielten (12, 13). Dieses Phänomen lässt sich auch bei SARS-CoV-2 beobachten. Die massenhaften Übertragungen finden zudem in Situationen statt, in denen verstärkt durch tiefe Atmung Aerosole in geschlossenen Räumen mit fehlender oder geringer Frischluftzufuhr freigesetzt werden. Besonders deutlich zeigte sich dies durch Massenausbrüche nach Chorproben sowie in Kirchengemeinden: Singen führt nicht nur zu einer vermehrten Freisetzung von Viruspartikeln, sondern macht auch eine tiefe Inspiration erforderlich – beides zusammen kann die hohen
Positionspapier:
Infektionsgefahr vor allem durch Aerosole
Ein besonders wichtiges Argument für eine gute Belüftung ist
die zunehmende Beobachtung der Ansteckung über infekti-
öse Aerosole, die offenbar auch über grössere Distanzen mög-
lich ist. Die entsprechenden Beobachtungen waren der Aus-
löser, dass Anfang Juli insgesamt 239 Wissenschaftler aus 32
Ländern die WHO in einem Positionspapier aufforderten,
ihre Einschätzung zur Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 zu
überdenken (16). Die unterzeichnenden Forscher waren nicht
nur Mediziner und Virologen, sondern auch Epidemiologen
sowie Vertreter technisch-physikalischer Disziplinen wie
Strömungsdynamik und Aerosolphysik. In dem unterzeich-
neten Kommentar wird darauf hingewiesen, dass Ansteckun-
gen in geschlossenen Räumen auch über grössere Distanzen
als die 1 bis 2 Meter, die derzeit als Sicherheitsabstand emp-
fohlen werden, erfolgen können. Deshalb reiche allein diese
Abstandsregel als Schutzmassnahme nicht aus, um die Über-
tragung zu verhindern, und die Empfehlungen sollten aktua-
lisiert und das Aerosolrisiko stärker in den Fokus gerückt
werden, so die Autoren: «Händewaschen und Social Distan-
cing sind sinnvolle, aber aus unserer Sicht nicht ausreichende
Massnahmen, um einen Schutz vor virushaltigen respiratori-
schen Mikrotröpfchen, die von infizierten Menschen in die
Luft freigesetzt werden, zu erreichen.» Dieses Problem be-
stehe vor allem in geschlossenen Räumen, vor allem dann,
wenn diese überfüllt und schlecht durchlüftet sind. Zu den
Massnahmen, die das Risiko einer Aerosolübertragung sen-
ken, zählen vor allem eine gute Durchlüftung von Indoor-
bereichen mit ausreichend Frischluftzufuhr und Minimierung
einer Rezirkulation, aber auch hocheffektive Luftfiltrations-
systeme sowie die Nutzung von UV-Licht. Zudem sollten
dichte Menschenansammlungen vor allem in öffentlichen
Gebäuden und Verkehrsmitteln vermieden werden.
Die Zunahme der Infektionszahlen in den letzten Wochen
bestätigt ihre Befürchtungen.
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Adela Žatecky
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