Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Coronapandemie
WHO: Remdesivir hat keinen Einfluss auf die COVID-19-Mortalität
Im März wurde die SOLIDARITYStudie mit 4 Substanzen gestartet, die zum damaligen Zeitpunkt als die vielversprechendsten für eine Anwendung bei COVID-19-Patienten galten: Remdesivir, Hydroxychloroquin, Lopinavir (in der Fixkombination mit Ritonavir) und Interferon β1a. Bereits gefloppt sind Hydroxychloroquin und Lopinavir, sodass diese Substanzen nun aus der Studie gefallen sind. Das einfache Studiendesign erlaubt Anpassungen an neue Entwicklungen. So können Substanzen, die sich als unwirksam oder zu wenig wirksam erweisen, aus der Studie genommen und neue Substanzen, deren Potenzial sich erst später zeigt, hinzugenommen werden. Die Studie wird von den teilnehmenden Ländern und der WHO finanziert, die Medikamente werden von den Herstellern gratis zur Verfügung gestellt. In der auf dem Preprintserver medRxiv publizierten Interimsanalyse (1) werden die bisherigen Ergebnisse mit Remdesivir, Hydroxychloroquin, Lopinavir und Interferon β1a zusammengefasst. Grundlage der Interimsauswertung sind die Daten von 11 266 COVID-19Patienten, die vom 22. März bis 4. Oktober 2020 in 30 Ländern und insgesamt 405 Spitälern erhoben wurden. 2750 Patienten erhielten Remdesivir, 954 Hydroxychloroquin, 1411 Lopinavir, 651 Interferon plus Lopinavir, 1412
Interferon und 4088 keine der genannten Substanzen, sondern die ortsübliche Standardtherapie (Kontrollgruppe). Primärer Endpunkt ist die Mortalität im Spital, sekundäre Endpunkte sind die Notwendigkeit der Beatmung und die Dauer der Hospitalisation. Insgesamt 1263 Patienten verstarben. Der Tod trat median am 8. Tag des Spitalaufenthalts ein. Die Hälfte der Todesfälle war zwischen dem 4. und 14. Tag zu verzeichnen, je ein Viertel der Todesfälle trat vor dem 4. oder nach dem 14. Tag ein. Die 28-Tages-Mortalität betrug im Durchschnitt 12 Prozent (39% bei den bereits zu Beginn beatmeten Patienten und 10% bei den anderen). Im Vergleich zur Kontrollgruppe war das Mortalitätsrisiko bei keiner der 4 Substanzen statistisch signifikant verringert. Das relative Mortalitätsrisiko (RR) betrug für Remdesivir 0,95 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,81– 1,11; p = 0,50), für Hydroxychloroquin 1,19 (95%-KI: 0,89–1,59; p = 0,23), für Lopinavir 1,00 (95%-KI: 0,79–1,25; p = 0,97) und für Interferon β1a 1,16 (95%-KI: 0,96–1,39; p = 0,11). «Keines der Studienmedikamente verringerte die Mortalität (weder bei den nicht beatmeten Patienten noch in irgendeiner anderen Subgruppe), die Notwendigkeit einer Beatmung oder die Hospitalisationsdauer», schreiben die
Studienautoren. Sie kommen zu dem
Schluss, dass die 4 Substanzen nur einen
geringen oder keinen Einfluss auf den
Verlauf der Erkrankung von hospitali-
sierten COVID-19-Patienten haben.
Während das Aus für Hydroxychloro-
quin und Lopinavir nicht überraschend
ist, dürften die Ergebnisse für Interfe-
ron β1a und Remdesivir für Diskussio-
nen sorgen, heisst es in einem Kommen-
tar im «British Medical Journal» (2). In
der COVID-19-Zulassungsstudie von
Remdesivir war sowohl von einem nicht
signifikanten Trend zu besseren Über-
lebensschancen innert 29 Tagen die
Rede (HR: 0,73; 95%-KI: 0,52–1,03)
als auch von einer statistisch signifikan-
ten Verkürzung der Erholungsdauer (10
statt 15 Tage) (3). Mit «Erholung» war
hier allerdings etwas anderes gemeint
als die Hospitalisationsdauer, und eine
Hazard Ratio (HR) ist nicht dasselbe
wie ein relatives Risiko (RR), was einen
direkten Vergleich der beiden Studien
erschwert.
RBO s
1. WHO Solidarity trial consortium: Repurposed antiviral drugs for COVID-19 – interim WHO SOLIDARITY trial result. medRxiv 2020; doi: https://doi.org/10.1101/2020.10.15.20209817; version posted October 15, 2020. 2. Dyer O: Covid-19: Remdesivir has little or no impact on survival, WHO trial shows. BMJ 2020; 371: m4057 3. Beigel JH et al.: Remdesivir for the treatment of Covid-19 — final report. N Engl J Med 2020; updated October 9, 2020.
Coronapandemie
Zulassungsanträge für Impfstoffe bei Swissmedic eingegangen
Bis anhin sind zwei Zulassungsanträge für COVID-19-Impfstoffe bei Swissmedic eingegangen: Anfang Oktober reichte AstraZeneca ein Dossier ein, Mitte Oktober folgte der Antrag des Unternehmens Pfizer. Beide Zulassungsanträge werden im sogenannten Rolling-Submission-Verfahren bearbeitet. Damit können pharmazeutische Firmen Gesuche für COVID-19-Arzneimittel einreichen, noch bevor die Ent-
wicklung abgeschlossen und die Gesuchsdokumentation vollständig ist. Das beschleunigt den Zulassungsentscheid, weil Swissmedic erste wissenschaftliche Auswertungen aus der präklinischen Phase bereits begutachtet, während die laufenden klinischen Studien fortgeführt werden. In den kommenden Wochen und Monaten vorliegende Studienergebnisse müssen Swissmedic nachgereicht und zur wis-
senschaftlichen Begutachtung unterbreitet werden, sobald sie vorliegen. Ein Zulassungsentscheid kann erst gefällt werden, wenn alle notwendigen Daten zur Prüfung der Sicherheit, der Qualität und der Wirksamkeit eines Impfstoffs vorliegen.RBO/Swissmedic s
Medienmitteilungen von Swissmedic vom 6. und 19. Oktober 2020.
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ARS MEDICI 22 | 2020
Coronapandemie
Zellulärer Portier für SARS-CoV-2 entdeckt?
Rückspiegel
Ein internationales Forscherteam hat Neuropilin 1 als Faktor identifiziert, der den Eintritt von SARS-CoV-2 über den bekannten Rezeptor ACE2 in das Innere der Zellen offenbar erleichtert. Neuropilin 1 ist in den Schleimhäuten der Atemwege und der Nase zu finden. Das SARS-CoV-2-Spike-Protein enthält eine Spaltstelle für die Protease Furin. Diese Eigenschaft teilt es mit vielen anderen hoch pathogenen menschlichen Viren. Die Spaltung durch Furin legt spezifische Aminosäuresequenzen frei, die an der Zelloberfläche an Neuropiline binden. «Wenn man sich ACE2 als Eintrittstür in die Zelle vorstellt, dann könnte Neuropilin 1 ein Faktor sein, der das Virus zur Tür lenkt. ACE2 wird in den meisten Zellen in sehr geringen Mengen exprimiert. Deshalb ist es für das Virus nicht leicht, Türen zum Eindringen zu finden. Andere Faktoren wie Neuropilin 1 scheinen notwendig zu sein, um dem Virus zu helfen», erklärte
Prof. Mikael Simons, TU München, einer der Leiter des Forschungsprojekts. In Gewebeproben verstorbener COVID-19Patienten zeigte sich, dass Körperzellen mit Neuropilin 1 tatsächlich mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Tierversuche ergaben, dass Neuropilin 1 den Transport winziger, virusgrosser Partikel im Gewebe ermöglicht. SARS-CoV-2 benötige den ACE2-Rezeptor, um in Zellen einzudringen, aber andere Faktoren wie Neuropilin 1 seien möglicherweise erforderlich, um dessen Funktion zu unterstützen, so Simons. Es sei derzeit aber noch zu früh, über mögliche therapeutische Ansätze via Neuropilin 1 zu spekulieren.RBO/DZNE s
Medienmitteilung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) vom 20. Oktober 2020 auf idw-online.de. Cantuti-Castelvetri L et al.: Neuropilin-1 facilitates SARS-CoV-2 cell entry and infectivity, Science 2020; published online Oct 20, 2020.
Coronaviruspandemie
Reisewege einer Virusvariante
In Europa sind zurzeit Hunderte Varianten von SARS-CoV-2 im Umlauf, die sich durch kleine Mutationen voneinander unterscheiden. Die Variante 20A.EU1 ist nicht gefährlicher als andere SARS-CoV-2-Varianten, ihre Verbreitung erlaubt jedoch Einblicke in die Wirksamkeit von Reisebeschränkungen. Vermutlich trat 20A.EU1 erstmals im Sommer in Spanien auf und verbreitete sich rasch über das ganze Land. Man vermutet, dass die Ausbreitung von 20A.EU1 in ganz Europa durch die Lockerung von Reisebeschränkungen und Social-Distancing-Massnahmen im Sommer erleichtert wurde. Ab Juli 2020 verbreitete sich 20A.EU1 ausserhalb von Spanien, und es wurde bis anhin in 12 europäischen Ländern sowie in Hongkong und Neuseeland nachgewiesen. Derzeit entsprechen 90 Prozent der sequenzierten Virusgenomproben aus dem Vereinigten Königreich der Variante 20A.EU1. In Irland sind es 60 Prozent, in der Schweiz und in den Niederlanden 30 bis 40 Prozent. «Wir können sehen, dass das Virus in mehrere Länder mehrfach eingeschleppt wurde, und viele dieser eingeschleppten 20A.EU1-Viren haben sich dann in der Bevölkerung verbreitet», sagte Prof. Dr.
Foto: yousef alfuhigi, unsplash
Tanja Stadler von der ETH Zürich. Die Studienautoren empfehlen deshalb eine Evaluation der Wirksamkeit von Grenzkontrollen und Reisebeschränkungen zur Eindämmung von SARS-CoV-2. Man müsse Wege finden, Grenzen offen zu halten und gleichzeitig das Virus zu stoppen. RBO/Universität Basel s
Medienmitteilung der Universität Basel am 29. Oktober 2020. Hodcroft EB et al.: Spread of a SARS-CoV-2 variant through Europe in summer 2020: medRxiv 2020; DOI: 10.1101/2020.10.25.20219063
Vor 10 Jahren
Risiko Hausgeburt
In den Niederlanden kommen besonders viele Kinder, nämlich rund ein Drittel, nicht im Spital, sondern zu Hause zur Welt. Nun stellt eine Studie diese Praxis infrage: Das perinatale Mortalitätsrisiko ist für die Kinder bei Hausgeburten, die nur von Hebammen begleitet werden, in den Niederlanden etwa doppelt so hoch wie bei Geburten im Spital. Das könne ein Grund dafür sein, dass die Säuglingssterblichkeit in den Niederlanden im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern ausserordentlich hoch sei, so die Studienautoren. Statistisch betrachtet müsse in den Niederlanden 1 Kind pro 1333 Geburten zusätzlich sterben, weil es zu Hause und nicht im Spital geboren wird.
Vor 50 Jahren
Abkehr von der radikalen Mastektomie
Zunehmend bezweifeln Onkologen und Chirurgen, dass die bis anhin übliche radikale, vollständige Mastektomie bei Frauen mit Brustkrebs tatsächlich notwendig ist. In den USA startet eine Studie an 20 Zentren, in der geprüft werden soll, ob es ausreichend ist, bei nicht metastasiertem Brustkrebs nur die vom Tumor befallene Brust zu entfernen. Bereits bekannt ist, dass die bis anhin ebenfalls übliche Entfernung der Ovarien mit anschliessender Bestrahlung nicht sinnvoll ist.
Vor 100 Jahren
Hutkrankheit
Bei Hutträgern werden neuerdings häufig Reizungen der Stirnhaut beobachtet, die sich als entzündliche Rötungen oder gar in Form ausgedehnter nässender Ekzeme manifestieren. Schuld daran ist ein minderwertiger Schweisslederersatz in den Herrenhüten, sodass die neue Hautkrankheit als Schweisslederdermatitis bezeichnet wird.
RBO s
ARS MEDICI 22 | 2020
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