Transkript
INTERVIEW
Psychosomatische Medizin
Angst und Panik – wie kann der Psychosomatiker helfen?
Neben Depressionen gehören Angststörungen – auch in der Hausarztpraxis – zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Neueren Untersuchungen zufolge sollen etwa 10 Prozent der Allgemeinbevölkerung einmal im Laufe ihres Lebens unter einer Angststörung leiden, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Oft leiden diese Menschen gleichzeitig auch unter anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, somatoformen Störungen oder Drogenabhängigkeit. Welche Herausforderungen die Behandlung dieser Angstpatienten für den Hausarzt bedeutet und welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zum Erfolg führen, erläutert der Facharzt für Allgemeine und Innere Medizin FMH spez. Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Dr. med. Pierre Loeb, Basel, im Gespräch.
Ars Medici: Herr Dr. Loeb, Angst ist ein sehr intensives, unangenehmes Gefühl, das in Gefahrensituationen schützend und überlebenswichtig ist; tritt es dagegen häufig ohne erkennbaren Anlass auf, wird es als beängstigend, unkontrollierbar und lebensbedrohlich empfunden. Wie und wo entsteht die Angst? Dr. med. Pierre Loeb: Wenn man die Entstehung der Angst neurobiologisch betrachtet, dann ist die Amygdala, der Mandelkern, der verantwortliche Auslöser. Sie ist das Zentrum, das für die blitzschnelle Koordination bei Gefahren verantwortlich ist und die Stress- oder Fluchtreaktionen auslöst, die in solchen Situationen lebensrettend wirken sollen, und das ist die eigentliche Hauptaufgabe der Angst. Diese ohne ersichtlichen Anlass auftretenden blitzschnellen Aktionen überfordern den Patienten, weil er mit gewissen, durch Adrenalin ausgelösten körperlichen Reaktionen konfrontiert wird, deren Ursachen er nicht kennt und nicht einordnen kann. Das ist der Grund, warum ein Angstpatient Vermeidungsreaktionen zeigt. Was ihm unangenehm ist, versucht er zu vermeiden. Darum gebraucht er das Wort «Angst» möglichst nicht. Er hat es lange geschafft, bewusst oder unbewusst, oft mit viel Lügen und Tricksen, der Angst auszuweichen. Leidet er beispielsweise unter Flugangst, so ist er überzeugt von seiner ökologischen Einstellung, die ihn vom Fliegen abhält; und wer Angst vor Höhe oder Sesselliften und Bergbahnen hat, wird seine Liebe zum Meer betonen. Entscheidend ist, dass die Betroffenen oft sehr genau wissen, dass sie tricksen und dass sie sich damit eigentlich selbst sabotieren. Das eigene Selbstvertrauen wird dadurch allerdings noch mehr torpediert. Und genau das führt dann zu diesem Teufelskreis: «Ich weiss zwar, dass ich ein Lügengebilde aufbaue, schäme mich auch dafür, aber indem ich mich mit meiner Angst beschäftige, vermeide ich unangenehme Situationen.»
Zur Person
Dr. med. Pierre Loeb Facharzt für Allgemeine und Innere Medizin FMH spez. Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM Basel
Dieses Verhalten ist für Sie doch der Schlüssel zur richtigen Diagnose? Loeb: Richtig. Allerdings wird mir der Patient sein reaktives Vermeidungsverhalten nicht primär erzählen. Für ihn stehen seine Symptome im Vordergrund, also Herzklopfen, Pulsrasen, Schwindel, Luftnot etc., die immer im Zusammenhang mit bestimmten Erlebnissen, wie zum Beispiel beim Durchfahren eines Strassentunnels, auftreten. Er sagt mir dann: «Ich kann das nicht.» Diese absolute Aussage versuche ich gemeinsam mit dem Patienten sprachlich zu relativieren: «Es macht mir Mühe.» Daraus entsteht automatisch ein kleineres Problem, das wir dann gemeinsam angehen können.
Das ist ja schon eine Vorstufe des Kognitionstrainings, oder? Loeb: Genau. Ich nenne das ein zweigleisiges Vorgehen, weil ich im gleichen Moment auch nach seiner Anamnese frage, um seine Geschichte kennenzulernen, aber ich interveniere
690
ARS MEDICI 22 | 2020
INTERVIEW
Der Teufelskreis der Angst: Diagnostik
Äussere Auslöser
Symptome
Verspannung Beklemmung
Fixierung
Körperwahrnehmung (innerer Auslöser)
Situationen
Lift Flugzeug FCB-Match
Angstreflexion Physiologie, Reflex
Katastrophale Missinterpretationen
Adrenalin
Herz/Puls Atem Denken
Abbildung 1
Emotionen Angst/Panik
Gedanken
ohnmächtig Karriere
existenziell
Herzinfarkt. Früher hat man den Leuten gesagt: «Wir können Sie beruhigen, Sie haben nichts.» Das hat die Patienten weniger beruhigt als verunsichert, denn viele litten ja unter Todesangst. Heute sagt man ihnen: «Wir haben Sie sorgfältig untersucht, am Herzen liegt es nicht; Sie haben vermutlich eine Angststörung, und die kann man gut behandeln.»
Akzeptieren die Patienten diese Diagnose, oder befürchten sie, man würde sie als nicht ganz normal einstufen? Loeb: Diese Befürchtung ist natürlich gross, deshalb verstecken sich viele Patienten auch hinter ihren Symptomen – sie wollen lieber eine organische Erkrankung haben. Die Diagnose der Angststörung ist noch immer sehr stigmatisierend. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass sich der Arzt unbedingt die Zeit nehmen sollte, sich mit dem Patienten auseinanderzusetzen und die Hintergründe anzuschauen. Denn sonst besteht die Gefahr, dass man zu schnell und ausschliesslich auf die Symptome eingeht und der Patient gar nicht dazu kommt, über die Hintergründe und seine Angst zu sprechen.
Der Teufelskreis der Angst: Therapie und Ausstieg
Äussere Auslöser
Verhalten
statt Vermeiden > Exposition > Training
Körperwahrnehmung (innerer Auslöser)
Kognitiv
Reattributierung dysfunktionaler
Gedanken
Angstreflexion Physiologie, Reflex
Katastrophale Missinterpretationen
Relax
angewandte Entspannung
n. Öst
Abbildung 2
Emotionen Angst/Panik
Emotion
ausdrücken bin nicht allein
«Trauma»
bereits mit gewissen einfachen, aber wirksamen verhaltenstherapeutischen Techniken. Das macht das Ganze so spannend und bringt auch dem Patienten gleich von Beginn an Erleichterung.
Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, dann beruht die Diagnostik nicht nur auf der Anamnese, sondern auch auf dem aufmerksamen Zuhören des behandelnden Arztes, um gewisse charakteristische Formulierungen des Patienten bei der Schilderung seiner somatischen Probleme zu erkennen und dort nachzuhaken? Loeb: Korrekt. Nehmen wir zum Beispiel Herzklopfen. Um den befürchteten Herzinfarkt auszuschliessen, benötigen wir eine sorgfältige körperliche Untersuchung. Es kommt immer wieder vor, dass solche Patienten schon auf die Notfallstation gerannt sind, weil sie davon ausgingen, sie hätten doch einen
Bevor Sie mit der eigentlichen Angsttherapie beginnen, erarbeiten Sie mit dem Patienten die Hintergründe und Ursachen seiner Angststörung, damit er die Mechanismen erkennt und sein Vermeidungsverhalten einordnen kann. Wie gehen Sie vor? Loeb: Für die erste Sitzung nehme ich mir gerne 30 bis 45 Minuten Zeit und erarbeite mit ihm gemeinsam den Teufelskreis (Abbildungen 1 und 2). Hier geht es darum aufzuzeigen, dass die beklagten Angstsymptome vom Patienten inadäquat katastrophisiert werden, indem er gedanklich Konstrukte entwickelt, die tatsächlich existenziell belasten. Durch einen physiologischen Überlebensschutzreflex im Sinne einer Kampf-/Fluchtreaktion werden durch Adrenalin die ursprünglichen Symptome derart verstärkt, dass die Angstsymptomatik übersteuert wird. Der Teufelskreis ist das Herzstück und der Schlüssel zum Verständnis der Angststörung, der als Voraussetzung für die eigentliche therapeutische Arbeit, nämlich den Ausstieg aus dem Teufelskreis, angesehen werden kann. In den meisten Fällen – das ist das Grossartige an diesem Teufelskreis – hat der Patient dabei ein Aha-Erlebnis, weil er zum ersten Mal versteht, wie diese physiologischen Mechanismen zur Auslösung und Verstärkung seiner Angstzustände führen. Im nächsten Schritt geht es um den Ausstieg aus diesem Verstärkerkreis. Dies erfolgt bei mir am liebsten im Rahmen einer Gruppentherapie – kann aber durchaus auch im Einzelsetting passieren. Dort lernen die Patienten unter anderem, dass man mit Hilfe der kognitiven Therapie dysfunktionale Gedanken und Sätze korrigieren kann (z.B. «Ich kann nicht» durch «Ich habe Mühe» oder «Aus Dir wird nichts» durch «Ich gehe meinen Weg» ersetzen).
In der Gruppentherapie nutzen Sie also kognitive und verhaltenstherapeutische Massnahmen, um negative Selbstbewertungen zu korrigieren, lehren aber auch Entspannungstechniken, die den Patienten helfen können, Angstattacken aufzulösen, und als letzter entscheidender Schritt folgt die Expositionstherapie («sich aussetzen statt sich absetzen»). Wie läuft das ab, und wie hoch ist die Erfolgsquote?
ARS MEDICI 22 | 2020
691
INTERVIEW
Loeb: Die Gruppentherapie ermöglicht die gemeinsame Behandlung mehrerer Patienten und durch die Emotionalität in der Gruppe die gemeinsame Aussprache und das gegenseitige Ermuntern, sich neuen Expositionen auszusetzen und Vermeidungsverhalten zu verhindern. Die Patienten üben, das konkret umzusetzen. Die Gruppentherapie besteht aus 13 bis 15 zweistündigen Sitzungen, damit die Teilnehmer Zeit genug haben, ihre Erfahrungen und Probleme mit ihrer Angststörung darzulegen und die auslösenden Mechanismen zu verstehen. Zur Angsttherapie gehört in einem dritten Schritt auch das Erlernen der erwähnten Entspannungsübungen. Damit erhalten die Teilnehmer ein weiteres Werkzeug, erneut auftretende Körpersymptome und Angstzustände selbst besser zu bewältigen, statt sich ihnen ausgeliefert zu fühlen. Als letzter Schritt des therapeutischen Vorgehens, wenn die Patienten gelernt haben, ihre Angstsymptome korrekt zu deuten, folgt die Konfrontations- oder Expositionstherapie. Wichtig ist, den Patienten dabei nicht zu überfordern. Deshalb versuchen wir, den Stress im Umgang mit der angstauslösenden Situation zunächst so klein wie möglich zu halten, um ihn dann langsam stufenweise zu steigern, sodass die Exposition immer mit einem positiven Erlebnis enden kann. Klassisches Beispiel: Ein Patient hat Angst vor dem Tramfahren; dann wird ein Mitpatient oder sonst eine Vertrauensperson mit ihm zusammen fahren. Als nächstes werden die beiden Partner getrennt – einer sitzt vorn, der andere hinten, dann im vorderen und im hinteren Wagen, schliesslich kann der Patient allein fahren, und der andere fährt mit dem Velo hinten nach, oder der Therapeut ist telefonisch erreichbar, falls es Probleme geben sollte. Die Vermittlung all dieser Werkzeuge, um der Angst trotzen zu lernen, gelingt auch im Einzelsetting. Die Gruppenarbeit hat den grossen Vorteil, dass es hier zu Verstärkungseffekten kommt, wenn die Teilnehmer sehen, wie die anderen Fortschritte machen. Das Erleben der anderen Patienten hilft dem Einzelnen zudem, sich zu öffnen, sich mit den anderen auszutauschen und miteinander Erfolge zu erzielen. Dazu kommt, dass die Patienten den Leidensgenossen oft mehr Glauben schenken als dem Therapeuten. Nach Absolvieren des Kurses
Einteilung der Angststörungen (ICD-10)
Phobische Störungen (F 40) ▲ Agoraphobie – ohne Panikstörung – mit Panikstörung ▲ soziale Phobie – umschriebene soziale Phobie – generalisierte soziale Phobie ▲ spezifische Phobie/F 40.2)
Andere Angststörungen (F 41) ▲ Panikstörung – mittelgradig (> 4 Panikattacken/Monat) – schwer (> Panikattacken/Woche über 4 Wochen) ▲ generalisierte Angststörung ▲ Angst und depressive Störung gemischt
haben die meisten gelernt, mit ihrer Angst umzugehen, und wenn man mit einer solchen kognitiven Störung anders umgehen kann – also wieder ins Flugzeug steigen, durch Tunnels fahren oder vor Leuten sprechen kann – dann fühlen sich die meisten soweit geheilt, dass sie den Weg jetzt allein fortsetzen können. Sie gewinnen mit der Zeit auch wieder mehr Selbstvertrauen, und, daraus resultierend, lernen sie, sich den Situationen zu stellen, anstatt sie wie bisher üblich zu vermeiden. Den meisten Patienten genügt dieser Erfolg, andere aber wollen ihre (Selbst-)Erkenntnisse in einer Psychotherapie vertiefen, dazu sind sie dann auch sehr motiviert, was den Erfolg fördert.
Wie hoch ist die Rückfallgefahr? Loeb: Es gibt Patienten, die ich jahrelang nicht mehr sehe, und dann kommen sie plötzlich wieder. Bei ihnen genügen aber meist ein bis zwei Sitzungen, dann haben wir diesen Teufelskreis erneut erarbeitet und verstanden, und sie können wieder damit umgehen. In wenigen Fällen gibt es auch Patienten, die nach Jahren den ganzen Kurs noch einmal machen wollen, und hin und wieder erlebe ich auch solche Patienten, die ihre Angst nicht völlig überwinden. Dennoch profitieren letztlich auch jene allein dadurch, dass sie mit Leidensgenossen in den Gruppensitzungen zum ersten Mal den Mut hatten, über ihre Probleme zu sprechen. Für mich immer wieder vom Schönsten bei der Behandlung der Angststörungen ist, wenn Patienten, die lange dem Terror dieser Angst ausgesetzt waren, nach gelungener Therapie in der Lage sind, ihr Leben jetzt anders angehen zu können. Viele können sich erstmals aus ihren Familienkonstellationen und ihrem eingeschränkten Blickfeld lösen und ein ganz anderes Lebensgefühl erfahren. Ihre Welt ist offener und weiter geworden, und das mitzuerleben ist immer wieder eine beeindruckende Erfahrung.
Die Auslöser der Angststörungen oder Panikattacken, aber auch die Art und Weise, wie sich diese im Alltag manifestieren oder somatisiert werden, sind doch nicht immer gleich, oder? Loeb: Das stimmt, wobei ich die Erfahrung gemacht habe, dass wir mit den Patienten in den meisten Fällen gemeinsam die Geschichte rekonstruieren oder zumindest zu einer Hypothese gelangen können, die mit ihren Angstzuständen in Zusammenhang steht. Also etwa das Erinnern massiver Verlassenheitsängste aus dem Kindesalter oder eines traumatischen Erlebnisses, das in einer bestimmten Lebenssituation hochkommt, wie vor der Klasse blossgestellt zu werden oder andere emotionale Verletzungen. In diesem Zusammenhang betone ich die Rückfallgefahr. Die meisten der Patienten werden irgendwann einen Rückfall erleben, wobei sich die Angst dann oft auch durch eine völlig andere Symptomatik manifestieren kann. Wurden die Angstzustände zum Beispiel bisher immer von kardialen Symptomen und der Angst vor einem Herzinfarkt begleitet, kann ein Rückfall mit ungewohnt starken Kopfschmerzen einhergehen, sodass der Patient überzeugt ist, an einem Hirntumor zu leiden, oder es kommt zu Bauchschmerzen mit Durchfällen und Ähnlichem. Darauf weisen wir die Patienten am Schluss der Gruppentherapie hin und bereiten sie entsprechend darauf vor.
Wie gehen Sie vor, wenn die Angststörung auf einem realen Hintergrund basiert, ein Patient also beispielsweise davon
692
ARS MEDICI 22 | 2020
INTERVIEW
ausgehen muss, dass bei ihm früher oder später eine erblich bedingte schwere Krankheit zum Ausbruch kommen kann, und wenn die Angst vor dem unheilbaren Leiden mit der Zeit unerträglich wird? Sind auch solche Angstzustände behandelbar? Loeb: Absolut. Unter der Angst vor Krankheit und Tod leiden ja die meisten Menschen, und ich denke, jeder Mensch, der eine Angststörung hat, erlebt dieses existenzielle Gefühl, manchmal sogar mehrfach. Für das therapeutische Vorgehen spielt es keine grosse Rolle, ob ein realer Hintergrund existiert oder nicht. Wenn er aber real ist – beispielsweise bei einem Krebskranken, der nur noch kurze Zeit zu leben hat – dann werde ich mit ihm erarbeiten, welche Aufgaben noch auf ihn warten, was noch zu erledigen ist und mit wem er sich noch versöhnen sollte. Und je empathischer wir auf den Patienten eingehen, desto besser werden wir ihn durch diesen Prozess begleiten können.
Wenn eine medikamentöse Behandlung erforderlich wird, welche Möglichkeiten gibt es, und was setzen Sie ein? Fördern Medikamente nicht das Vermeidungsverhalten, weil sie möglicherweise nichts Wesentliches ändern? Loeb: Das sehe ich nicht ganz so. Ich gebe Patienten, die Angst haben, unter einer schweren somatischen Erkrankung zu leiden (Herzinfarkt, Hirntumor o. Ä.), zunächst gerne auch ein
Der Hausarzt muss sich für diese Patienten Zeit nehmen, denn es ist wichtig, ihre Geschichte, berufliche und Familienzusammenhänge vor dem Hintergrund ihrer Angststörungen kennenzulernen. Macht man das nicht, besteht die Gefahr, dass daraus «Zukurztherapien» resultieren, das heisst, der Patient wird lediglich rein symptomatisch behandelt, ohne dass die Hintergründe seiner Beschwerden geklärt werden.
Benzodiazepin quasi als Diagnostikum. Denn verschwinden die Beschwerden darunter, wissen wir beide, dass das Beruhigungsmittel grosse Befürchtungen lösen, jedoch die Krankheit nicht heilen kann. Das ist das eine. Das andere ist: Es ist mir lieber, ein Patient wagt einen Flug mit einem Benzodiazepin, statt nie ein Flugzeug zu besteigen und so in seinem Vermeidungsverhalten zu verharren. So gesehen sind Benzodiaze-
pine, richtig eingesetzt, wertvolle Medikamente. Allerdings müssen wir uns immer darüber klar sein, dass sie nicht die Lösung sind, sondern nur den Übergang zu einem therapeutischen Prozess erleichtern. Schafft es der Patient nicht, dem Teufelskreis der Angststörungen ohne Medikamente zu entkommen, dann setze ich Antidepressiva ein, um so zu versuchen, Linderung zu schaffen und mit dem Patienten seine Leidensgeschichte aufzuarbeiten.
Psychosomatik und Psychotherapie – sind das eigentlich zwei unterschiedliche Behandlungsansätze, oder ist diese Unterscheidung nicht gerechtfertigt? Loeb: Es sind weniger unterschiedliche Therapieansätze als unterschiedliche Herangehensweisen, denn Angstpatienten kommen ja zunächst wegen ihrer physischen Symptome in die Praxis und zeigen mir damit: Mir fehlt es am Herzen oder im Bauch, aber nicht in der Seele. Ich bin immer der Meinung, dass wir Psychosomatiker die besten Lieferanten für Psychiater sind, weil wir die Verbindung zwischen den körperlichen Symptomen und den psychischen Ursachen knüpfen und den Patienten damit aufzeigen, dass ihre Krankheit funktionell und nicht organisch bedingt ist. Und wenn unsere Patienten das verstanden haben und bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen, sind sie beim Psychiater oder Psychotherapeuten gut aufgehoben. Solange sie aber mit ihren körperlichen Symptomen und der Verbindung zu ihren Ursachen nicht zurechtkommen, sind sie beim Somatiker besser aufgehoben.
Hausärzte sind ja für viele Angstpatienten die erste Anlaufstelle wegen ihrer vermeintlich körperlichen Symptome. Aus unserem Gespräch entnehme ich, dass sie im Umgang mit diesen Patienten in erster Linie aufmerksame Zuhörer sein und gelegentlich auch selbst aktiv werden sollten. Ist das richtig? Loeb: Das ist richtig. Essenziell ist darüber hinaus: Der Hausarzt muss sich für diese Patienten Zeit nehmen, denn es ist wichtig, ihre Geschichte, berufliche und Familienzusammenhänge vor dem Hintergrund ihrer Angststörungen kennenzulernen. Macht man das nicht, besteht die Gefahr, dass daraus «Zukurztherapien» resultieren, das heisst, der Patient wird lediglich rein symptomatisch behandelt, ohne dass die Hintergründe seiner Beschwerden geklärt werden. Damit wird er jedoch langfristig nicht zufrieden sein und den Arzt wechseln. Gelingt es aber, die persönliche Geschichte des Patienten zu verstehen, die Zusammenhänge aufzuzeigen und Vertrauen aufzubauen, ist der Patient auch in der Lage, sich zu öffnen und über seine Probleme mit Arbeit, Familie oder Ehe, Drogen oder Alkohol etc. zu sprechen. Das braucht zwar Zeit, hilft jedoch, seine Beschwerden richtig einzuordnen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Claudia Reinke.
ARS MEDICI 22 | 2020
693