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BERICHT
Highlights des europäischen Herzkongresses (ESC)
Antworten auf drängende Fragen
In diesem Jahr ist auch der grösste Medizinkongress Europas mit zuletzt über 33 000 Teilnehmern dem Coronavirus zum Opfer gefallen. Die Veranstalter haben sich entschlossen, den Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) virtuell durchzuführen. Das wirkte sich jedoch nicht auf die Anzahl der Teilnehmer aus, im Gegenteil: Durch die kostenlose Teilnahme registrierten sich über 80 000 Interessierte aus 207 Ländern, davon über 20 Prozent aus Übersee, für diesen virtuellen Kongress, der einiges an Neuigkeiten zu bieten hatte.
COVID-19: Sind ACE-Hemmer/Sartane Freund oder Feind?
Nichts hat unser Leben so intensiv tangiert und verändert wie die Coronapandemie in den vergangenen Monaten, das betrifft auch die Therapie mit bestehenden Pharmaka. Birgt sie Gefahren für COVID-19-Patienten? Leistet sie einer Krankheitsverschlechterung Vorschub? Diese Fragen stellten sich auch für die Therapie mit Renin-Angiotensin-AldosteronSystem-(RAAS-)Hemmern wie ACE-Hemmern oder Angiotensin-2-Rezeptor-Blockern (ARB). Hintergrund dieser Befürchtung ist die Tatsache, dass membrangebundenes ACE-2 als funktioneller Rezeptor für SARS-CoV-2 durch die Einnahme von ACE-Hemmern oder ARB hochreguliert wird. Aus präklinischen Forschungen kamen Bedenken zur Sicherheit von COVID-19-Patienten bei einer RAAS-Hemmer-Therapie auf, andere Untersuchungen wiesen im Gegenteil auf einen Nutzen hinsichtlich der Reduktion einer Lungenschädigung und der Prävention einer Angiotensin-2-vermittelten Lungenentzündung hin. Wieder andere Beobachtungen zeigten in dieser Hinsicht gar keinen Effekt. Resultat diese Hypothesen war eine grosse Verunsicherung, die zum Teil zum präventiven Absetzen von RAAS-Hemmern bei Hypertoniepatienten mit positivem SARS-CoV-2-Test führte. Um die Frage des Einflusses von ACE-Hemmern beziehungsweise ARB auf eine schwere COVID-19-Erkrankung mit Fakten zu beantworten, führten Prof. Renato Lopes, Duke Medical Center, Durham, North Carolina (USA), und Kollegen eine randomisierte, kontrollierte Studie mit 659 Patienten unter Langzeit-RAAS-Hemmer-Therapie und mit bestätigter COVID-19-Erkrankung durch. Die wegen COVID-19 hospitalisierten Patienten wurden zwischen dem 9. April und dem 26. Juni 2020 rekrutiert. Die Studie dauerte 30 Tage. In der einen Patientengruppe wurde die ACE-Hemmer/ARB-Therapie für 30 Tage ausgesetzt, in der anderen Gruppe wurde sie fortgeführt. Als primärer Endpunkt war die 30-Tages-Mortalität definiert. Die Patienten waren im Durchschnitt 56 Jahre alt, alle litten unter einer Hypertonie, ein Drittel litt unter Diabetes, ein Drittel unter Asthma, und die Hälfte war adi-
pös. Nur wenige hatten eine koronare Herzkrankheit (4,6%)
oder eine Herzinsuffizienz (1,4%). Dyspnoe, Fieber und Hus-
ten waren die häufigsten Hospitalisierungsgründe, die Symp-
tome begannen median 6 Tage vor Spitaleinweisung.
Nach 30 Tagen zeigte sich folgendes Bild: In der Gruppe mit
pausierter ACE-Hemmer/ARB-Therapie hatten 316 Patien-
ten überlebt (91,8% aus dem Spital entlassen), 9 waren ge-
storben. Unter fortgesetzter ACE-Hemmer/ARB-Therapie
überlebten 325 Patienten (95% aus dem Spital entlassen),
9 waren gestorben. Das mediane Überleben war in beiden
Gruppen gleich (21,9 vs. 22,9 Tage; p = 0,09), und die
30-Tages-Mortalität war in beiden Gruppen vergleichbar
hoch (2,7 vs. 2,8%; Hazard Ratio: 0,97; 95%-Konfidenz-
intervall: 0,38–2,52; p = 0,95).
Gemäss Studienleiter Lopes bedeutet das also, dass es für das
30-Tages-Überleben hospitalisierter COVID-19-Patienten
keinen Unterschied macht, ob die ACE-Hemmer/ARB-The-
rapie abgesetzt oder belassen wird. Und weil es keinen Unter-
schied mache, sollte die ACE-Hemmer/ARB-Therapie bei
Hypertoniepatienten mit COVID-19 routinemässig fortge-
führt werden, so sein Fazit.
Prof. Gianfranco Parati, Universität Milano-Bicocca (I),
Kommentator der Studie, fügte hinzu, dass sich unter der
Fortführung der RAAS-Hemmer-Therapie sogar ein leichter
Vorteil abgezeichnet habe, der vielleicht bei älteren Hochrisi-
kopatienten noch deutlicher ausgefallen wäre. Die Teilneh-
mer der BRACE-CORONA-Studie waren mit 56 Jahren im
Durchschnitt doch relativ jung. Weiter sei dieses Studienre-
sultat sehr wichtig, weil es die bestehenden Zweifel nun
durch randomisierte Evidenz ausräumen könne.
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Quelle: «Hotline BRACE-CORONA», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 28. August bis 2. September 2020, virtuell.
Referenz: Lopes RD et al.; BRACE CORONA investigators: Continuing versus suspending angiotensin-converting enzyme inhibitors and angiotensin receptor blockers: impact on adverse outcomes in hospitalized patients with severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 (SARS-CoV-2) – the BRACE CORONA trial. Am Heart J 2020; 226: 49–59.
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Hypertonie: 10 Prozent weniger Ereignisse pro 5-mmHg-Senkung
Die pharmakologische Blutdrucksenkung ist bei Patienten mit Hypertonie eine bewährte und anerkannte Therapie zur Senkung des kardiovaskulären Risikos. Doch bei welchen Patienten sollte der Blutdruck wie tief gesenkt werden? Die internationalen Guidelines sind sich hier nicht in allen Punkten einig. Das gab den Anlass zur BPLTTC-Studie, die zwei Fragen untersuchte: 1. Welche Effekte hat die Hypertoniebehandlung bei Patien-
ten mit einem Blutdruck unter dem typischen Hypertoniegrenzwert (< 140 mmHg)? 2. Unterscheiden sich die Effekte einer Hypertoniebehandlung bei Patienten mit oder ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung, beziehungsweise sollten die Indikationen in der primären und sekundären Prävention unterschiedlich sein? Die Analyse von 48 randomisiert kontrollierten Hypertoniestudien mit schweren kardiovaskulären Ereignissen (MACE) als primärem Endpunkt sollte darauf eine Antwort liefern, bei wem und bei welchem Blutdruck eine Therapie am meisten nütze, wie Studienleiter Prof. Kazem Rahimi, University of Oxford (UK), berichtete. Von den 348 854 Patienten hatten 188 583 Patienten keine kardiovaskuläre Erkrankung (Anteil Frauen: 49%), 160 271 waren kardiovaskulär vorerkrankt (Anteil Frauen: 33%). Die Patienten waren im Durchschnitt 65 Jahre alt, der Ausgangsblutdruck lag in der Primärpräventionsgruppe bei durchschnittlich 157/89 mmHg, in der Sekundärpräventionsgruppe bei 146/84 mmHg. Das mediane Follow-up betrug etwa 4 Jahre. Etwa ein Drittel der Patienten beider Gruppen hatte Diabetes, 7 bis 9 Prozent hatten Vorhofflimmern, an chronischer Niereninsuffizienz litten 19 Prozent in der Primärpräventionsgruppe und 10 Prozent in der Sekundärpräventionsgruppe. Häufigste Hypertoniemedikationen in der Primärpräventionsgruppe waren ACE-Hemmer (29%), Kalziumkanalblocker (27%), Diuretika (23%), Betablocker (18%) und Angiotensin-2-Rezeptor-Blocker (11%). In der Sekundärpräventionsgruppe waren Betablocker (44%), ACE-Hemmer (36%), Kalziumkanalblocker (34%), Diuretika (21%) und Angiotensin-2-Rezeptor-Blocker (6%) im Einsatz. Ausserdem standen in der Sekundärpräventionsgruppe noch Lipidsenker (53%) und Plättchenhemmer (65%) auf der Medikationsliste, in der Primärpräventionsgruppe war das bei etwa bei 20 Prozent der Patienten der Fall. Die Analyse zeigte, dass jede Senkung des systolischen Blutdrucks um 5 mmHg im Vergleich zu keiner Intervention eine Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse von 10 Prozent bringt, (9% Primärprävention, 11% Sekundärprävention). Im Einzelnen sanken die Raten von Hirnschlag um 13 Prozent, von Herzinsuffizienz um 14 Prozent, von ischämischen Herzerkrankungen um 7 Prozent und von kardiovaskulärem Tod um 5 Prozent. Dieser Effekt zeigte sich unabhängig vom Ausgangsblutdruck in der Primär- wie auch in der Sekundärprävention. Die Verschreibung einer antihypertensiven Therapie sollte demnach nicht von einer vorbestehenden kardiovaskulären Erkrankung oder vom gemessenen Blutdruck abhängig gemacht werden. Vielmehr sollte sie als risikomodifizierende Behandlung für die Prävention von neuen oder wiederholten
kardiovaskulären Ereignissen verstanden werden, unabhän-
gig davon, wie hoch der Ausgangsblutdruck ist, so die Schluss-
folgerung des Studienleiters.
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Quelle: «Hotline BPLTTC», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 28. August bis 2. September 2020, virtuell.
Empagliflozin auch für HFrEF-Patienten
Mit der am Kongress von Studienleiter Dr. Milton Packer,
Baylor Medical Center, Dallas (USA), präsentierten
EMPEROR-Reduced-Studie empfiehlt sich nun nach Dapa-
gliflozin der zweite SGLT2-Hemmer für die Therapie von
Patienten mit Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffrak-
tion (HFrEF).
An dieser doppelblind randomisierten, multizentrischen Stu-
die nahmen 3730 Patienten mit milder bis schwerer, adäquat
therapierter HFrEF teil. Etwa die Hälfte der Teilnehmer litt
zusätzlich an einem Typ-2-Diabetes. Die Teilnehmer erhiel-
ten zusätzlich zur Herzinsuffizienztherapie entweder einmal
täglich Empagliflozin 10 mg während 34 Monaten (median
16 Monate) oder Plazebo.
Empagliflozin bewirkte bei HFrEF-Patienten mit oder ohne
Diabetes im Vergleich zu Plazebo eine signifikante Risikore-
duktion des primären Endpunkts um 25 Prozent (p < 0,001),
der als Kombination aus kardiovaskulärem Tod oder herz-
insuffizienzbedingter Hospitalisierung definiert war. Das Ri-
siko für eine erste oder wiederholte Hospitalisierung sank als
zweiter Endpunkt unter Empagliflozin im Vergleich zu Pla-
zebo signifikant um 30 Prozent (p < 0,001). Ausserdem zeig-
ten die Patienten der Verumgruppe im Studienverlauf eine
signifikante Verlangsamung des Abfalls der glomerulären
Filtrationsrate (p < 0,001) und eine signifikante Reduktion
des Risikos für renale Ereignisse um 50 Prozent (p = 0,0019),
die als chronische Dialyseabhängigkeit, Nierentransplanta-
tion oder anhaltende Reduktion der glomerulären Filtra-
tionsrate definiert war.
Schwere Nebenwirkungen traten in der Verumgruppe weni-
ger häufig auf (kardial bedingte 26,8 versus 34,0% Plazebo;
renal bedingte 3,2 versus 5,1% Plazebo). Zu einer Volumen-
depletion kam es bei 10,6 versus 9,9 Prozent, zu Hypoglyk-
ämie bei 1,4 versus 1,5 Prozent, zu Amputationen von unte-
ren Gliedmassen bei 0,7 versus 0,5 Prozent.
Diese Resultate zeigen, dass Empagliflozin einen beträchtli-
chen Nutzen für Patienten mit HFrEF bringt, unabhängig
davon, ob sie an Typ-2-Diabetes leiden oder nicht.
Mit dieser zweiten grossen Studie – nach DAPA-HF mit
Dapagliflozin – bestehe gemäss Packer nun genügend Evi-
denz, dass SGLT2-Hemmer Bestandteil einer HFrEF-Thera-
pie sein sollten, das heisst Sacubitril/Valsartan, Betablocker,
Spironolacton oder Eplerenon, Empagliflozin oder Dapa-
gliflozin.
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Quelle: «Hotline EMPEROR-Reduced», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 28. August bis 2. September 2020, virtuell.
DAPA-CKD: Dapagliflozin auch gut für Nierenpatienten
Dapagliflozin verbessert nicht nur die Prognose bei Herz-
insuffizienten, sondern es zeigt gemäss der an diesem Kon-
gress vorgestellten DAPA-CKD-Studie auch bei Patienten mit
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chronischer Nierenerkrankung (CKD) mit und ohne Typ-2-Diabetes einen grossen Nutzen: Der SGLT2-Hemmer verzögert die Notwendigkeit der Dialyse und reduziert die Mortalität. In dieser doppelblind randomisierten, multizentrischen Studie wurde untersucht, ob Dapagliflozin bei Patienten mit CKD mit und ohne Typ-2-Diabetes das Risiko für renale und kardiovaskuläre Ereignisse reduziert. Die Teilnehmer (n = 4304) wiesen eine geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) zwischen 25 und 75 ml/1,73 m2 sowie eine Albumin-Kreatinin-Ratio zwischen 200 und 5000 mg/g auf und standen unter einer ausdosierten Therapie mit ACE-Hemmern oder Angiotensin-2-Rezeptor-Blockern während mindestens der letzten 4 Wochen. Sie erhielten zusätzlich doppelblind randomisiert einmal täglich Dapagliflozin 10 mg oder Plazebo. Das Durchschnittsalter der Patienten lag etwa bei 62 Jahren, 67 Prozent von ihnen waren männlich, und etwa zwei Drittel litten auch an Typ-2-Diabetes (67,5%). Als primärer Endpunkt war die Kombination aus Verschlechterung der Nierenfunktion, das heisst ein über 50-prozentiger anhaltender Abfall der eGFR oder das Erreichen einer terminalen Niereninsuffizienz, oder ein renal oder kardiovaskulär bedingter Tod definiert. Als sekundäre Endpunkte galten 1. die Kombination aus einem über 50-prozentigen anhaltenden Abfall der eGFR oder das Erreichen einer terminalen Niereninsuffizienz oder ein renal bedingter Tod, 2. die
Kombination aus herzinsuffizienzbedingter Hospitalisation
oder kardiovaskulärem Tod und 3. die Gesamtmortalität.
Nach einer medianen Follow-up-Zeit von 2,4 Jahren zeigte sich
unter Dapagliflozin im Vergleich zu Plazebo eine Risikoreduk-
tion von 39 Prozent für den primären Endpunkt (Hazard Ratio
[HR]: 0,61; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,51–0,72;
p = 0,000000028). Der Nutzen von Dapagliflozin war für
Patienten mit und ohne Typ-2-Diabetes konsistent. Der
SGLT2-Hemmer reduzierte auch alle 3 sekundären End-
punkte signifikant (1. HR: 0,56; 2. HR: 0,71; 3. HR: 0,69),
darunter die Gesamtmortalität mit einer Risikoreduktion
von 31 Prozent. Neue Sicherheitssignale wurden nicht be-
obachtet.
Diese Studie zeige, dass Dapagliflozin bei Patienten mit CKD
das Risiko einer Verschlechterung der Nierenfunktion oder
für renal oder kardiovaskulär bedingten Tod reduzierte, so
das Fazit des Studienleiters Prof. Hiddo Heerspink, Univer-
sity Medical Centre Groningen (NL). Die Resultate be-
schrieben ausserdem den potenziellen Nutzen für Patienten
mit sogenannter austherapierter chronischer Niereninsuffi-
zienz.
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Quelle: «Hotline DAPA-CKD», Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC), 28. August bis 2. September 2020, virtuell.
Valérie Herzog
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