Transkript
FORTBILDUNG
Nicht ohne den Hausarzt!
Schwindeldiagnostik und -therapie
Patienten, die über Schwindel klagen, konsultieren häufig als Erstes den Allgemeinarzt. Durch ein strukturiertes Vorgehen lässt sich dieses Symptom gut in der Hausarztpraxis behandeln. Überweisungen zum Facharzt sollten, wenn überhaupt, zielgerichtet erfolgen und immer vom Hausarzt koordiniert werden.
Raphael Kunisch, Marco Roos
Der Fall
Die Tochter einer 78-jährigen Patientin ruft in der Praxis an und bittet den Hausarzt, nach ihrer Mutter zu sehen. Die ältere Frau fühlt sich nicht gut, kann nicht mehr richtig sehen und kaum gehen – die Tochter befürchtet einen Schlaganfall. Beim Hausbesuch, der unverzüglich folgt, zeigt sich, dass die Patientin, auf dem Sofa sitzend, einen herabgesetzten Allgemeinzustand aufweist. Sie ist jedoch zu allen Qualitäten orientiert und zeigt in der groben neurologischen Prüfung keinen Hinweis auf einen Schlaganfall. Dafür berichtet sie über Übelkeit und dass sich alles um sie herum drehe, sobald sie sich aufrichte. Die Beschwerden bestünden seit dem letzten Aufstehen vor zwei Stunden. Es erfolgt ein Dix-Hallpike-Manöver (Video unter: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Dix-Hallpike_maneuver.ogv)(7). Dabei lässt sich rechts ein deutlicher Drehschwindel mit Nystagmus provozieren, der etwa eine halbe Minute anhält und dann nachlässt. Wir stellen die Diagnose eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels (BPPV) und klären die Patientin und ihre Angehörigen über die Gutartigkeit der Erkrankung auf. Dies führt bereits zu einer spürbaren Entlastung. Da die Patientin altersbedingt das therapeutische Befreiungsmanöver nicht eigenständig vornehmen kann, erhält sie eine Heilmittelverordnung (nach Ziffer SO3). Diese fällt extrabudgetär unter besonderen Versorgungsbedarf, weil die Patientin älter als 70 Jahre ist. Als sie sich nach drei Wochen in der Praxis vorstellt, ist sie gänzlich beschwerdefrei.
MERKSÄTZE
� Je nach Ursache des Schwindels können viele unterschiedliche Disziplinen – vom Augenarzt über den Neurologen bis zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt – involviert sein. Ohne fachkundige Einschätzung des Hausarztes erfolgt eine ziellose Beanspruchung zahlreicher Spezialisten.
� Gefährliche Verläufe sind selten und treten fast immer mit Zusatzsymptomen wie neurologischen Defiziten auf.
� Besonders der Ausschluss eines Schlaganfalls schafft in der Hausarztpraxis häufig das grösste Gefühl von Unsicherheit.
Für die Diagnosestellung wegweisend ist immer die Schwindelanamnese. Um dem Hausarzt eine praktikable Handreichung zum Management von Schwindelpatienten anbieten zu können, haben wir einen primärmedizinischen Schwindelalgorithmus auf Basis der Leitlinie «Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis» der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) (http://www.degam.de; vgl. Abbildung) entwickelt: Ist nach Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe keine eindeutige Diagnosestellung möglich, sollten die Patienten beruhigt und über den meist selbst limitierenden Verlauf des akuten Schwindels vom Arzt aufgeklärt werden. Eine weiterführende Diagnostik scheint in vielen Fällen nicht zielführend. Diese fördert die iatrogene Fixierung und begünstigt die Überversorgung. Schwindel steht an neunter Stelle der häufigsten Beratungsanlässe in der Hausarztpraxis – mit einer absoluten Zahl von 2,3 Prozent aller Konsultationen (5). Knapp die Hälfte aller Schwindelpatienten überweist der Hausarzt an den Spezialisten (6). Beim Blick auf die Epidemiologie des Beratungsanlasses «Schwindel» zeigt sich jedoch, dass etwa drei Viertel aller Diagnosen durch Anamnese und körperliche Untersuchung gestellt werden können, was somit auch beim Hausarzt ohne spezielle Untersuchungsverfahren erfolgen kann. Zusätzlich hilft in der Hausarztpraxis die Prävalenz: Von 100 Patienten mit Schwindel ist bei etwa 60 keine ursächliche Erkrankung nachzuweisen. Bei rund 20 Personen liegt ein gut zu diagnostizierender benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (benign paroxysmal positional vertigo, BPPV) vor. Lediglich bei den verbleibenden 20 Patienten findet sich eine zuordenbare Diagnose. Abwendbar gefährliche Verläufe sind selten (1). Allgemeinärzte gelten aus zwei Gründen als die wichtigsten Ansprechpartner beim Leitsymptom «Schwindel»: Zum einen sind sie die erste Anlaufstelle für Patienten mit Gesundheitsproblemen. Zum anderen koordinieren sie aufgrund ihrer Lotsenfunktion eine mögliche zweite Versorgungsebene bei Spezialisten. Je nach Ursache des Schwindels können hier viele unterschiedliche Disziplinen – vom Augenarzt über den Neurologen bis zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt – involviert sein. Ohne fachkundige Einschätzung des Hausarztes werden hingegen zahlreiche Spezialisten beansprucht, was hohe Gesundheitskosten verursacht (3).
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ARS MEDICI 20 | 2020
FORTBILDUNG
Schwindelalgorithmus auf Basis der DEGAM-Leitlinie
Akuter Schwindel
«Karussell»
«Schiff»
«anders»
s/min min/h > h/Tage
s/min min/h > h/Tage
«benommen» «gangunsicher» (mit klarem Kopf)
BPPV!
M. Menière!
ÜW/EW▼▼▼
HNO
Vestibulopathie
Zervikal!
ZNS! Brille?
ÜW/EW ▼▼▼
Neuro
▼▼▼ CAVE: Red Flags
s/min min/h > h/Tage PNP!
HRST! UAW! Psychogen!
ÜW ▼▼▼
▼Ggf. ÜW ▼▼
Kardio
Psychotherapie
Abbildung: Schwindelalgorithmus auf Basis der DEGAM-Leitlinie (BPPV: benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, ZNS: zentrales Nervensystem, UAW: unerwünschte Arzneimittelwirkung, ÜW: Überweisung, EW: Einweisung, HRST: Herzrhythmusstörung, PNP: Polyneuropathie)
Schwindelanamnese: Zentral für die Diagnose
Die Definition des Begriffs «Schwindel» ist keineswegs scharf gefasst. Unter diesem Symptom subsumieren sich vielmehr unterschiedliche Empfindungen, die man anamnestisch unterscheiden muss (Tabelle 1). So kann sich hinter Schwindel ein Gefühl von Benommenheit genauso wie ein Dreh- oder Schwankschwindel verbergen. Auch andere Beschreibungen wie Geh- und Standunsicherheit sind häufig. Der Arzt sollte den Patienten die Symptomatik zunächst frei schildern lassen und das möglichst unverfälscht dokumentieren, wie zum Beispiel: «Mir zieht es den Boden unter den Füssen weg.» Im zweiten Schritt sollte anamnestisch präzis geklärt werden, in welche Kategorie sich der Schwindel einordnen lässt. Handelt es sich um eine Dreh-, Schwank- oder eine sonstige Schwindelform, und wie lange hält die Symptomatik an? Dabei unterscheidet man kurzen (Sekunden bis Minuten) von mittlerem (Minuten bis wenige Stunden) und lang anhaltendem (Stunden bis Tage) Schwindel. Mit der Kombination aus Schwindelart und -dauer ist schon eine wegweisende diagnostische Einordnung möglich (vgl. Fall). Ergibt sich hieraus noch keine klare Verdachtsdiagnose, kann man mit den sechs
W-Fragen und anhand der Prävalenz der häufigsten Ursachen die Grosszahl aller Schwindelfälle zuordnen.
Gefährliche Verläufe
Gefährliche Verläufe sind selten und treten – bis auf wenige Ausnahmen (z. B. bestimmte Kleinhirninfarkte, Wallenberg-Syndrom) – fast immer mit Zusatzsymptomen wie neurologischen Defiziten, Synkopen oder Orthostasen auf (vgl. Tabelle 2). Besonders der Ausschluss eines Schlaganfalls schafft in der Hausarztpraxis häufig das grösste Gefühl von Unsicherheit. Abgesehen von weiteren neurologischen Defiziten, die ein sofortiges Handeln indizieren, kann sich ein zerebellarer Insult auch allein durch kontinuierlichen Schwindel und Nystagmus bemerkbar machen und somit eine periphere Vestibulopathie imitieren. Um hier gut zu differenzieren, hilft die körperliche HINTS-Untersuchung mit Kopfimpulstest (head impulse), Nystagmus und Abdecktest (test of skew), die sich gegenüber aufwendiger Schnittbildgebung sogar überlegen gezeigt hat und sich problemlos in der Hausarztpraxis vornehmen lässt (4).
Tabelle 1:
Schwindelanamnese – die sechs W-Fragen
Wie? Wie lange? Was? Welche Zusatzsymptome? Welche Medikamente? Welche Ursache sieht der Patient?
Karussell, Schiff, «anders» Dauer: Sekunden, Minuten, Stunden, Tage Auslöser – Kopfdrehung, Aufstehen usw. Übelkeit, Nystagmus, Herzstolpern, Tinnitus usw. Neue Medikamente, Polypharmazie Hinweise auf psychische Komponente
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ARS MEDICI 20 | 2020
FORTBILDUNG
Tabelle 2:
Red Flags – Warnhinweise auf einen abwendbar gefährlichen Verlauf
Sehstörungen
Neurologische Defizite
Vertikaler Nystagmus
Gestörte Vigilanz
Hauterscheinungen bei Zoster oticus/ophthalmicus
Hörverlust
Bewusstseinsverlust
Sprech- und Schluckstörungen
Kritische EKG-Veränderungen
Synkopen/Orthostase
Nach Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs sollten Patienten über die Gutartigkeit und den häufig selbst limitierenden oder zumindest symptomlindernden Verlauf der unspezifischen Schwindelformen aufgeklärt und im Sinne eines abwartenden Offenhaltens begleitet werden (2).
Therapie des Schwindels
Für viele spezifische Schwindelursachen gibt es kausale Therapien wie die Befreiungsmanöver nach Sémont oder Epley beim BPPV. Bei nicht eindeutig zuordenbarer Diagnose kann man sehr gut auf eine symptomatische Therapie zurückgreifen. Die Optionen an evidenzbasierten, gut belegten Therapiemöglichkeiten sind hier überschaubar. Den grössten Therapieeffekt zeigt ein Schwindel-/Gleichgewichtstraining unter Eigenanleitung oder im Rahmen einer Heilmittelverordnung. Antivertiginosa haben nur geringe Effekte und können bei dauerhafter Einnahme einer Adaptation des Schwindels sogar im Wege stehen. Falls eine medikamentöse Therapie erwünscht ist, eignet sich das Kombinationspräparat aus Cinnarizin und Dimenhydrinat (Arlevert®), das zur symptomatischen Behandlung von Schwindel zugelassen ist und die besten Daten zur Wirksamkeit aufweist. In Anbetracht des oft günstigen Verlaufs des akuten unspezifischen Schwindels sind jedoch Aufklärung und Beruhigung die entscheidenden symptomatischen Massnahmen. Akuter Schwindel, der trotz adäquater primärer Abklärung und unter Ausschluss abwendbar gefährlicher Verläufe keiner spezifischen Diagnose zugeordnet werden kann, tritt häufig
spontan auf und spricht deshalb für eine Strategie des abwartenden Offenhaltens (watchful waiting) (1).
Zusammenfassung des Vorgehens
Die hier vorgestellte Handlungsempfehlung zeigt ein prakti-
sches Vorgehen für den Beratungsanlass «Schwindel» in der
Hausarztpraxis. Mit der Kenntnis der Prävalenz und der
Kombination aus Anamnese und zielgerichteter körperlicher
Untersuchung lassen sich die Möglichkeiten der Diagnosen
deutlich einschränken und abwendbar gefährliche Verläufe,
die ja selten sind, gut filtern.
Überweisungen des Hausarztes an den Spezialisten zur wei-
teren Diagnostik lassen sich gezielt formulieren, falls diese
überhaupt notwendig sein sollten. Die wichtigsten therapeu-
tischen Massnahmen sind Beruhigung und Aufklärung der
Patienten durch den Arzt. Mit Schwindel-/Gleichgewichts-
training, Befreiungsmanövern und wenigen Antivertiginosa
sind die Therapieansätze überschaubar.
s
Raphael Kunisch Dr. med. Marco Roos Allgemeinmedizinisches Institut Universitätsklinikum Erlangen D-91054 Erlangen
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 9/2020. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
Literatur: 1. Abholz H, Jendyk R: S3-Leitlinie «Akuter Schwindel in der Hausarztpra-
xis». 2016, Berlin: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). 2. Dros J et al.: Functional prognosis of dizziness in older adults in primary care: a prospective cohort study. J Am Geriatr Soc 2012; 60(12): 2263– 2269. 3. Grill E et al.: Health services utilization of patients with vertigo in primary care: a retrospective cohort study. J Neurol 2014; 261(8): 1492–1498. 4. Kattah JC et al.: HINTS to diagnose stroke in the acute vestibular syndrome: three-step bedside oculomotor examination more sensitive than early MRI diffusion-weighted imaging. Stroke 2009; 40(11): 3504–3510. 5. Laux G et al.: Co-and multimorbidity patterns in primary care based on episodes of care: results from the German CONTENT project. BMC Health Serv Res 2008; 8(1): 14. 6. Sczepanek J et al.: Newly diagnosed incident dizziness of older patients: a follow-up study in primary care. BMC Fam Pract 2011; 12(1): 58. 7. Genutzt unter der Creative Commons License, Autoren: Ballve Moreno J, Carrillo Munoz R, Villar Balboa I, Rando Matos Y, Arias Agudelo O, Vasudeva A, Bigas Aguilera O, Almeda Ortega J, Capella Guillen A, Buitrago Olaya C, Monteverde Curto X, Rodero Perez E, Rubio Ripolles C, Sepulveda Palacios P, Moreno Farres N, Hernandez Sanchez A, Martin Cantera C, Azagra Ledesma R [CC BY (https://creativecommons.org/licenses/ by/4.0)]
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