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STUDIE REFERIERT
Multiple Sklerose
Kann man kognitive Funktion und ZNS-Integrität langfristig schützen?
Die mit einer Multiplen Sklerose einhergehenden kognitiven Beeinträchtigungen mindern die Lebensqualität Betroffener. Aus Mangel an einer etablierten Behandlungsmöglichkeit ist das Interesse gross, beeinflussbare Faktoren zu identifizieren, die die kognitive Abnahme verzögern oder verhindern könnten.
Neurology
Ein niedriger Vitamin-D-Spiegel, Rauchen und eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus – alles etablierte Risikofaktoren für die Entwicklung einer Multiplen Sklerose (MS) – waren in einigen Studien mit einem klinisch und radiologisch aktiveren und schneller fortschreitenden Krankheitsverlauf assoziiert. Cortese et al. untersuchten nun, ob sich auch Aussagen zum langfristigen kognitiven Status ableiten lassen.
Frühere Resultate der BENEFITStudie als Fingerzeig
Während eines 5-jährigen Follow-up wurden bei den Teilnehmern der BENEFIT-Studie1, die 1 oder 2 Jahre nach Rekrutierung höhere VitaminD-Spiegel aufwiesen, weniger aktive Läsionen und ein geringeres Ausmass der Hirnatrophie gefunden. In einem auf 11 Jahre ausgedehnten Follow-up wurde nun eruiert, ob der Vitamin-D-Spiegel, Rauchen und Anti-EBNA-1- Antikörper kurz nach der Erstmanifestation einer schubförmig-remittierenden MS dazu beitragen können, die Langzeitentwicklung der kognitiven Funktion und der neuroaxionalen Integrität vorherzusagen, unabhängig von der krankheitsmodifizierenden Therapie. Bei 278 Teilnehmern mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS), die das 11-JahresFollow-up vollendeten, wurde untersucht, ob die zu Beginn sowie nach 6, 12 und 24 Monaten gemessenen 25-Hydroxy-Vitamin-D-(25[OH]D-)Werte im Serum, das Cotinin (ein Rauchbiomarker) und das EBNA-1-Immunglobulin eine Aussage über die kognitive Funk-
1 BENEFIT: Betaferon/Betaseron in Newly Emerging Multiple Sclerosis for Initial Treatment
tion nach 11 Jahren erlaubten. Die kognitive Funktion wurde anhand des Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT) erhoben, der Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit erfasst. Höhere Vitamin-D-Spiegel prognostizierten eine bessere, hohe Cotininwerte hingegen eine schlechtere kognitive Leistung: Ein um 50 nmol/l höherer mittlerer 25(OH)D-Wert in den ersten beiden Jahren war mit einer um 65 Prozent niedrigeren Wahrscheinlichkeit für eine schlechtere Performance im PASAT-Test nach 11 Jahren assoziiert. Hingegen fiel die Performance bei den Rauchern und schweren Rauchern niedriger aus als bei den Nichtrauchern. Die Anti-EBNA-1IgG-Werte erlaubten keine prognostischen Aussagen. Assoziationen mit den ebenfalls erhobenen NeurofilamentLeichtkettenproteinen (NFL) stützen diese Ergebnisse, ein 50 nmol/l höherer 25(OH)D-Mittelwert in den ersten beiden Jahren war mit einem 20 Prozent niedrigeren NFL-Wert assoziiert, Raucher wiesen um 20 Prozent höhere NFL-Werte auf als Nichtraucher. Im
begleitenden Editorial heisst es, dass die
Ergebnisse der Studie zeigten, dass der
NFL-Wert nicht nur ein nützlicher
Parameter sei, um den aktuellen Status
zu erfassen, sondern auch für die Lang-
zeitbewertung nützlich scheine (siehe
auch Kasten).
In Anbetracht der Tatsache, dass es
keine etablierte Therapie der kognitiven
Beeinträchtigung gebe und eine Vit-
amin-D-Supplementierung selbst in ho-
hen Dosen sicher sei, könne eine Supple-
mentation bei Patienten mit CIS und MS
routinemässig in Betracht gezogen wer-
den, insbesondere bei denjenigen mit
niedrigen Serumspiegeln, folgern die
Autoren. Rauchenden Patienten Hilfe
zum Rauchstopp anzubieten, bleibt von
entscheidender Bedeutung.
Mü s
Interessenlage: Die Studie wurde unterstützt vom National Institute of Neurological Disease and Stroke und von der nationalen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. Die BENEFIT-Studie wurde von Bayer unterstützt.
Quelle: Cortese M et al.: Vitamin D, smoking, EBV, and long-term cognitive performance in MS 11year follow-up of BENEFIT. Neurology 2020; 94: e1950-e1960.
Neurofilamente als Diagnose und Prognosemarker
Anhand klinischer Parameter ist eine Einschätzung der Prognose bei MS oft nicht zuverlässig möglich. Hier kann sich die Messung des Neurofilament-Leichtkettenproteins (NFL) diagnostisch, prognostisch und therapeutisch als wertvoll erweisen. Das Protein des Stützgerüsts von Neuronen wird beim Untergang von Nervenzellen freigesetzt und kann mittels Single Molecule Array (Simoa) in spezialisierten Zentren auch in kleinsten Konzentrationen im Blut gemessen werden. In einer Kohorte von über 800 neu diagnostizierten MS-Patienten wiesen die Patienten, die sich nach 2 Jahren in der höchsten Therapiestufe befanden, bereits bei Einschluss in die Studie die höchsten NFL-Konzentrationen im Blut auf. Mü
Pressemitteilung der Universität Mainz zur Studie von Bittner S et al.: Clinical implications of serum neurofilament in newly diagnosed MS patients: a longitudinal multicentre cohort study. EBioMedicine 2020; 56: 102807.
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ARS MEDICI 20 | 2020