Transkript
FORTBILDUNG
Zucker? Den kann man vergessen!
Diabetes und Demenz hängen zusammen
Demenzpatienten sind auch für den Hausarzt immer wieder eine Herausforderung. Bringt der Demente noch einen Diabetes mit, beginnt ein Pingpongspiel zwischen hyperglykämer und hypoglykämer Stoffwechsellage. Wie lässt sich eine gute Diabetestherapie mit der Demenz in Einklang bringen? Blutzuckerselbstmessung, regelmässige Medikamenteneinnahme und/oder notwendige Insulingaben, die der Patient zuvor vielleicht über Jahre selbst vornahm, können plötzlich zum Problem werden – oder sogar zum Machtkampf zwischen Arzt und Patient.
Annett Roßmann
«Meine Mutter sagt, er müsse sein Insulin spritzen. Aber wie, bitte schön, spritzt man Insulin? 15 Jahre lang hat er jeden Tag in einen Finger gestochen, ein Blutströpfchen ausgedrückt auf einen Streifen, den er in ein Messgerät steckte. Aber nun hat er alles vergessen. Es ist ihm unmöglich, sich selbst zu piksen, und da er immer wieder zurückzuckt, will es auch uns nicht gelingen. Meine Mutter gibt ihm schliesslich auf Verdacht eine ungefähre Dosis Insulin. Besser, als wenn er nichts bekommt. Er wehrt sich nach Leibeskräften, schafft es, das Fenster zu öffnen, und brüllt auf die Strasse: ‹Hilfe! Meine Frau will mich umbringen!› Passanten bleiben stehen, verfolgen die Szene. Ein Nachbar ruft die Feuerwehr.»
So beschreibt Andreas Wenderoth, Redakteur der Zeitschrift GEO, in seinem Buch «Ein halber Held» beeindruckend eine Szene aus dem Haushalt seiner Eltern, die deutlich macht, was es für einen Menschen und seine Angehörigen bedeuten kann, wenn Demenz und Diabetes als Diagnosen zusammentreffen. Ein seltener Zufall oder das Ergebnis von Wechselwirkungen?
MERKSÄTZE
� Diabetes ist grösstenteils eine Erkrankung, die vom bestehenden Übergewicht und/oder vom Alter des Patienten herrührt. Beide Faktoren sind zudem eigenständige Risiken für eine Demenzerkrankung.
� Je länger der Diabetes besteht und je länger er nicht suffizient behandelt wird, desto höher ist das Demenzrisiko für den Patienten. Deshalb sollten möglichst normoglykäme Blutzuckersituationen angestrebt werden, auch beim älteren Menschen.
� Eine gute und individuell angepasste Diabeteseinstellung ist die Grundlage für die Vermeidung einer Risikoverstärkung der Demenz. Das Demenzscreening bei längerer Diabetesdauer gilt als wichtiger Aspekt bei der aktuellen Leitliniendiskussion.
Ist es Zufall, dass so viele Menschen mit Diabetes gleichzeitig eine Demenz entwickeln? Oder gibt es dafür einen direkten Zusammenhang, beziehungsweise ist es vielleicht umgekehrt? Welche Therapieansätze sind hier angezeigt? Betrachtet man den Diabetes als Einzelerkrankung, tritt dieser in verschiedenen Formen auf. Neben dem Typ-1-, dem Typ-2- und dem Gestationsdiabetes lassen sich pankreoprive Formen nach Pankreatitis oder Pankreasoperation und einige seltene Sonderformen feststellen. Für alle Diabetestypen gilt: s Die Nahrungsaufnahme (Kohlenhydrate) ist ein entschei-
dender Faktor für den Blutzuckerspiegel und die Diabetestherapie. s Die Abstimmung der Kohlenhydratmenge auf die Insulingabe (oder umgekehrt) ist für gute Blutzuckerwerte und das Wohlbefinden des Patienten wesentlich (Vorsicht aber vor Unterzuckerungen!). s Bewegung senkt den Blutzucker. s Ein schlecht eingestellter Diabetes führt zu länger anhaltenden Phasen der (latenten) Hyperglykämie, zu Schädigungen der Gefässe und infolgedessen zum Beispiel zu Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Formen der Demenz
Betrachtet man die Demenz als Einzelerkrankung, tritt auch diese in verschiedenen Formen auf (Abbildung 1). Symptome und Verlauf können unterschiedlich sein und hängen von der Demenzform ab, aber auch von der Persönlichkeit des Patienten (Tabelle). Dazu zählen: s Vergesslichkeit s Konzentrationsprobleme s Beeinträchtigung des Denkvermögens s Schwierigkeiten bei alltäglichen Verrichtungen s Sprachprobleme s Orientierungsprobleme s Stimmungsschwankungen s Änderung des Verhaltens und der Persönlichkeit.
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Wie beeinflusst der Diabetes die Demenz? s Mit chronischen Hyperglykämien werden toxische Pro-
zesse und Entzündungsprozesse assoziiert, die dazu beitragen können, den «Alterungsprozess des Gehirns» zu beschleunigen. s Akute Hyperglykämien wirken über osmotische Verschiebungen im Hirngewebe passager kognitiv beeinträchtigend. s Unter primär degenerativen Demenzen spielt die Demenz vom Alzheimer-Typ mit einem Anteil von zirka 65 Prozent die grösste Rolle. Bei dieser Demenzform sind vaskuläre Ursachen untergeordnet. Es kommt zu Veränderungen des zerebralen Glukosestoffwechsels, zur Ablagerung von
Tabelle:
Symptome und Auswirkungen auf den Blutzucker
Symptome/Probleme bei Demenz
Vergesslichkeit
Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche
Konzentrationsschwäche
Bewegungsdrang
Fehlende Alltagskompetenzen (Einkaufen usw.) → Gewichtsabnahme
Ernährungstherapie bei Demenz zur Vermeidung von Mangelernährung Herausforderndes Verhalten
Auswirkungen auf den Blutzucker bzw. auf den Diabetes
Häufiges Essen + Vorliebe für Süsses ↑ Blutzucker
Diabetesmedikamente (Tabletten, Insulin) werden vergessen ↑ Blutzucker
Insulin wird doppelt gespritzt Insulin gespritzt und nicht gegessen ↓ Blutzucker (gefährliche Unterzuckerung)
Verwechseln der Insuline ↑↓ Blutzucker
↓ Blutzucker (gefährliche Unterzuckerung)
Jahrelang gute Diabeteseinstellung versagt → veränderte Insulinwirkung durch Gewichtsabnahme ↓ Blutzucker
Häufiges Fingerfood → Blutzuckerschwankungen
Insulininjektion als «Mordversuch», kein Insulin ↑ Blutzucker
Betaamyloid und Neurofibrillen und letztlich zur Zerstörung von Neuronen. Besonders ausgeprägt ist dies im Hippocampus, einem wichtigen Areal für das Gedächtnis. Viele Zusammenhänge mit dem Diabetes sind dabei entdeckt worden, eine monokausale Ursache aber noch nicht. Der zerebrale Glukosestoffwechsel scheint schon früh bei der Alzheimer-Demenz verändert zu sein. s Noch ist unklar, inwieweit Unterzuckerungen die Kognition und damit das Demenzrisiko verstärken (Studien zeigen allerdings Zusammenhänge).
Übergewicht und Demenz
Heute weiss man auch, dass Übergewicht das Demenzrisiko verdoppeln kann. Damit haben Demenz und Diabetes schon zwei Risikofaktoren gemeinsam: Übergewicht und Alter. Diabetes ist ausserdem zu 95 Prozent (Typ 2a und 2b bzw. ohne und mit Übergewicht) eine Erkrankung, die aufgrund des Übergewichts und/oder des Alters entsteht. Diese Faktoren sind auch immer eigenständige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Demenzerkrankung.
Wie beeinflusst die Demenz den Diabetes? s Diabetes ist stark abhängig von der Compliance des Pa-
tienten, und es ist eine Erkrankung, die eine Handlungskompetenz des Klienten voraussetzt (Selbstmanagement). s Eine gute Blutzuckereinstellung basiert auf einem guten Zusammenspiel von Ernährung, Medikamenten (Tabletten und/oder Insulin) sowie Bewegung. s Symptome der Demenz sind sehr kontraproduktiv für eine gute Diabeteseinstellung.
Aus diesen Kausalitäten ergibt sich die Notwendigkeit eines sehr individuellen Therapieregimes. Ein solcher Lösungsansatz richtet sich sehr stark nach dem aktuell vorliegenden Problem (das wechselnd sein kann) und den sozialen Ressourcen. Deshalb ist es notwendig, die Diabeteseinstellung von Menschen mit Demenz engmaschig zu beobachten und gegebenenfalls an das aktuelle kognitive Vermögen anzupassen. Darüber hinaus gibt es bei Demenzpatienten aufgrund von
Sonstige 5%
Mischformen von Demenz
15%
Vaskuläre Demenz
15%
Alzheimer 65%
Hypowahrnehmungsstörung durch Demenz
Fehlende Handlungskonsequenz → lebensbedrohliche Situationen
Abbildung 1: Häufige Demenzformen im Überblick
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1,60%
3,50%
7,31%
15,60%
26,11%
40,95%
65 bis 69 Jahre
70 bis 74 Jahre
75 bis 79 Jahre
80 bis 84 Jahre
Abbildung 2: Demenzrisiko bei Frauen und Männern ohne Diabetes nach Altersstufen
85 bis 89 Jahre
90 Jahre und älter
Quelle: Alzheimerfoschung Initiative e. V.
Bewegungsdrang und stark wechselndem Essverhalten oft Gewichtsschwankungen. Diese machen häufige Dosisanpassungen in der Insulintherapie notwendig. Demente (und deren Angehörige) benötigen deshalb eine einfache und gut handelbare Diabeteseinstellung ohne starke Schwankungen durch Hyper- und Hypoglykämien. Je nach Fortschreiten der Erkrankung sollten die Therapieziele «aufgeweicht» werden und vor allem die Symptomfreiheit im Fokus stehen. Pflegedienste und geschulte Angehörige sollte man hier explizit darauf hinweisen, dass die Insulindosis gegebenenfalls auch nach dem Essen gespritzt werden kann. Dafür ist jedoch die Verordnung eines kurz wirksamen Insulins nötig. So kann man die Insulindosis besser der schwankenden Essmenge anpassen. Neue Messsysteme (Sensoren) vereinfachen die Glukosekontrolle für den Patienten – ohne belastende Diskussionen, gefühlte Bevormundungen und Konflikte. Ein Fortschreiten der Demenz kann aber, wie erwähnt, die Evaluierung der Therapieziele für den Diabetes erfordern.
Spitalaufenthalte für Menschen mit Demenz
Stationäre Aufenthalte sind für Demente häufig extreme Stresssituationen. Die Spitäler wiederum sind oft nicht auf die individuellen Bedürfnisse dieser Patienten eingestellt. Hospitalisierungen vermeidet man deshalb am besten. Gemeinsam mit den Angehörigen sollte der Arzt hier überlegen, ob man Insulinneueinstellungen beziehungsweise Dosisanpassungen nicht besser im ambulanten Bereich vornehmen kann. Die Übermittlung aktueller Blutzuckerwerte durch Angehörige und Pflegedienste sowie die entsprechende Anpassung – möglichst mit digitaler Unterstützung – sind hier ein guter Ansatz. Sollte die Einstellung im ambulanten Setting nicht möglich sein, wäre eine Einweisung in ein «demenzsensibles Spital» ideal. Diese Spitäler haben zum Teil speziell ausgestattete Zimmer und Stationen sowie besondere Essensangebote (z. B. Fingerfood). Auch Angehörige können dort übernachten und den Patienten zum Beispiel zu Untersuchungen begleiten. Darüber hinaus achtet das Personal darauf, dass die Kontrollen engmaschig erfolgen und der Patient möglichst schnell wieder in seine vertraute Umgebung zurückkehren kann.
Fazit für die Praxis
Diabetes ist zu 95 Prozent (Typ 2a und 2b) eine Erkrankung,
die aus bestehendem Übergewicht und/oder dem Alter des
Patienten herrührt. Diese Faktoren sind auch eigenständige
Risiken für eine Demenzerkrankung. Die Prävention des Dia-
betes (Vermeidung von Übergewicht durch gesunde Ernäh-
rung und Bewegung) ist deshalb auch die Prävention der
Demenz.
Im Praxisalltag fehlt das Bewusstsein dafür leider häufig.
Nach den Ergebnissen einer Umfrage beim World Obesity
Day 2017 gaben 60 Prozent der Übergewichtigen an, dass sie
noch kein Arzt auf ihr Gewicht angesprochen habe. 45 Pro-
zent berichteten sogar, dass sie noch nie beim Arzt gewogen
wurden oder sich nicht daran erinnern können.
Eines ist sicher: Je länger der Diabetes besteht und je länger
er nicht suffizient behandelt wird, desto höher ist das De-
menzrisiko für den Patienten. Deshalb sollten möglichst nor-
moglykäme Blutzuckersituationen angestrebt werden, auch
beim älteren Menschen. Der etwas laxe Umgang mit hyper-
glykämen Stoffwechsellagen – allein vor dem Hintergrund der
klassischen Folgekomplikationen des Diabetes – hat dabei
eine besondere Brisanz.
Ein zu hoher oder zu niedriger Blutzucker verstärkt auch das
Risiko für eine Demenz. Das zeigen aktuelle Studien: 3 oder
mehr schwere Hypoglykämien in der Vorgeschichte von über
65 Jahre alten Diabetes-Typ-2-Patienten verdoppelten das
spätere Demenzrisiko (Abbildung 2).
Eine gute und individuell angepasste Diabeteseinstellung ist
die Grundlage für die Vermeidung einer Risikoverstärkung
der Demenz. Das Demenzscreening bei längerer Diabetes-
dauer gilt als wichtiger Aspekt bei der aktuellen Leitlinien-
diskussion.
s
Annett Roßmann Diakonissenkrankenhaus Dresden (zertifiziert als demenzsensibles Krankenhaus) D-01099 Dresden
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 7/2020. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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