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MEDIZINGESCHICHTE
Wie ein Geistesblitz aus Samedan die Welt eroberte
125 Jahre höchstgelegenes Akutspital Europas
Das höchstgelegene Akutspital Europas in Samedan möchte verdienterweise seinen Geburtstag feiern. Doch ausgerechnet eine epidemiologische Ausnahmesituation vergällt diese Freude. Deshalb scheint es angebracht, wenigstens einen Blick auf die bemerkenswerte Geschichte zu werfen, die vor 125 Jahren begann.
Heini Hofmann
Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten im Kanton der 150 Täler nur zwei kleine Spitäler in der Kantonshauptstadt und zugleich Eisenbahnendstation Chur, das heisst eine gut zwölfstündige, strapaziöse Pferdepostreise über den Julier vom Engadin entfernt. Die Medizin in den Alpentälern war noch rudimentär, und für die Absonderung Infektionskranker dienten Siechenhäuser, so in Samedan das Ospidel Vegl, wobei Ospidel wohl eher ein beschönigender «Deckname» für ein Sterbehospiz war, da es dort keine Behandlung gab.
Vater Apotheker – Sohn Arzt
Bloss eine gute Handvoll Ärzte betreute damals die Bevölkerung des Oberengadins. Eine markante Figur unter ihnen war Oscar Bernhard, Sohn des Apothekers Samuel Bernhard, der berühmt wurde durch seinen «heilsamen» bitter-aromatischen Kräuterlikor Iva (heute noch Engadiner Nationalgetränk), gewonnen aus der Gebirgsschafgarbe. Seine 1880 in Samedan eröffnete Iva-Fabrik war einer der ersten industriellen Kleinbetriebe im Dorf. Das gelbe Gebäude existiert heute noch, vis-à-vis der Academia Engiadina (wo früher das Kurhaus stand).
Die Gebirgsnatur prägte
den jungen Bernhard:
Mit 16 schoss er die erste
Gams, mit 18 machte er
das Bergführerpatent. In
Zürich, Heidelberg und
Bern studierte er Medi-
zin und war Assistent
beim Berner Chirurgen
und Nobelpreisträger
Theodor Kocher. Gleich
im Anschluss an das Stu-
dium und die Sanitäts-
offiziersschule eröffnete
er in Samedan eine Praxis, dann noch einen Satelliten im Bergsteigerdorf Pontresina. Bald
«Il Bernard» war von 1895 bis 1907 dirigierender (leitender) Arzt am Samedner Spital.
war «Il Bernard», wie
ihn die Bevölkerung liebe- und respektvoll nannte, sowohl im
Engadin als auch in den Südtälern ein angesehener Arzt und
Chirurg.
Das nächste Spital in Chur war vom Engadin zwölf holprige Pferdepoststunden entfernt.
Pionier der Bergrettung
Eine Arztpraxis im Gebirge war zu jener Zeit kein Zuckerschlecken: Krankenbesuche bei Tag und Nacht, Wind und Wetter oder gar im Schneesturm, zu Fuss oder mit dem Hafermotor. Bei Notfällen musste «Il Bernard» oft im Haus des Patienten operieren, in niedrigen Engadinerstuben oder auf einem Küchentisch – beim Schein einer Petroleumlampe. Dass er auch betagte Menschen operierte, erregte anfänglich Argwohn. Wenn er diese nicht in Ruhe sterben lasse, so sei dies, meinte etwa ein älterer Kollege, «eine vorwitzige Störung der Weltordnung.» Zu dieser Zeit verdrängten Forscherdrang und Bergsteigerlust Angst und Ehrfurcht vor der Alpenwelt, was zu Bergunfällen führte. Da das Rettungswesen noch in den Kinderschuhen steckte, sah Oscar Bernhard als praktisch veranlagter Arzt,
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Hochgebirgsjäger, Bergführer und Präsident der Sektion Bernina des Schweizerischen Alpen-Clubs hier Handlungsbedarf. Seine berühmten Informationstafeln (siehe Abbildung rechts) mit praxisnahen Anleitungen für die Bergrettung wurden zum Bestseller-Almanach und Arbeitsinstrument der Samariterdienste, des Alpenclubs und der Armee.
Höchstgelegenes Akutspital als internationaler Zufluchtsort
Wen wundert’s, dass dieser Machertyp, zusammen mit Gleichgesinnten, dafür verantwortlich zeichnete, dass nun auch das Engadin ein Hospital erhielt: Am 12. Mai 1895 konnte das Kreisspital Samedan auf 1750 m ü. M. mit 35 Krankenbetten eröffnen. «Il Bernard» wurde, erst 34 Jahre alt, erster «dirigierender» Arzt (heute: Chefarzt) und blieb dies bis 1907. Bereits nach einem Betriebsjahr verlauteten die Verantwortlichen: «Ihm haben wir es hauptsächlich zu verdanken, dass das Spital schon im ersten Jahr seines Bestehens sich eines guten Rufes erfreut.» Gleich tönt eine Notiz in der Nr. 19 des «Allgemeinen Fremdenblattes, St. Moritz» vom 19. August 1896: «Das Oberengadiner Kreisspital scheint immer mehr ein internationaler Zufluchtsort für Kranke zu werden. Dafür legt die Thatsache Zeugnis ab, dass neulich die Insassen eines Krankenzimmers fünf verschiedenen Sprachgebieten angehörten. Es waren da ein Romane, ein Italiener, ein Deutscher, ein Franzose und ein Engländer.» Die Tagesspitaltaxe betrug damals für die 3. Klasse 1.50 bis 2.50 Franken und für die 1. Klasse 10 bis 20 Franken.
Sonniger Gedankenblitz
Eines Tages passierte etwas Entscheidendes: Es war im Februar 1902, als im kleinen Samedner Spital dank eines Blitzgedankens eine neue Therapie entstand, die zu einem weltweiten Erfolg werden sollte. Das kam so: Eine schwärende Operationswunde bei einem durch Messerstiche schwer verletzten Italiener wollte trotz aller Bemühungen nicht abheilen. Als bei einer Morgenvisite die Sonne wärmend durch die offenen Fenster schien und eine prickelnde Luft das Krankenzimmer erfüllte, hatte «Il Bernard» den entscheidenden Gedankenblitz. Warumsollten–inAnalogiezurHaltbarmachung durch Trocknung der Bündner Bindenfleisch-Spezialität (vgl. Kasten rechts) – Besonnung und Frischluft nicht auch am lebenden Patientengewebe funktionieren und eine Wunde dadurch trocknen, granulieren und heilen? Er liess das Bett ans offene Fenster schieben und legte die Wunde frei. Schon nach anderthalb Stunden war ein erster Erfolg sichtbar, und nach wiederholter Besonnung überhäutete sich die Wunde und heilte ab.
Wiege der Heliotherapie
Dieser Erfolg veranlasste Bernhard, fortan alle infizierten Wunden mit Sonnenbestrahlung zu behandeln, später auch Fisteln, tuberkulöse Geschwüre und sogar Knochentuberkulose; denn, so fand er, die Sonne hat ja auch Tiefenwirkung. Er nutzte dabei alle Komponenten, die chemische, das Licht, die Wärme inklusive der schmerzstillenden Nebenwirkung. Die Heliotherapie der chirurgischen Tuberkulose (Gelenkund Knochentuberkulose, im Gegensatz zur Lungentuberkulose) war «erfunden» und sollte fortan ihren weltweiten Siegeszug antreten.
Eine Bernhard’sche Samariter-Lehrtafel: Transport im Steilhang (Tragbahre, Hornschlitten).
Bindenfleisch und Birchermüesli
Manchmal beruhen bahnbrechende Entdeckungen auf Zufällen
(Beispiel: Penicillin) oder auf ganz alltäglichen Dingen. So auch die
Heliotherapie, mit der weltweit Hunderttausenden von Patienten
geholfen werden konnte. Der Engadiner Alpenmediziner Oscar
Bernhard (1861–1939) kam 1902 im Kreisspital Samedan durch ein
Aha-Erlebnis auf die Idee der Sonnenbehandlung, weil er sich daran
erinnerte, wie Bündner Bauern mit Sonnenhilfe Fleisch trockneten.
Dieses Prinzip bewährte sich nun auch bei der Behandlung von Wun-
den, Fisteln und Knochentuberkulose. Bündnerfleisch schrieb Medi-
zingeschichte!
Bindenfleisch war übrigens
nicht das einzige Lebens-
mittel, das die «Erfindung»
eines Arztes stipulierte:
Zur gleichen Zeit lieferten
traditionelle Getreidemus-
speisen der Alphirten dem
Arzt und Ernährungsfor-
scher Maximilian Bir-
cher-Benner (1867–1939)
die Idee für seine «Spys»,
die später als Bircher-
müesli die Welt eroberte
Inspiration für die Heliotherapie:
und heute noch in aller
Bindenfleischtrocknung à la Renato Munde ist.
Giovanoli (Maloja, bis 2016).
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Abbildungen: Im Samedner Minispital begann der weltweite Siegeszug der Heilwirkung der Gebirgssonne (links). Als Bernhard von Samedan nach St. Moritz wechselte, baute er zuerst eine Villa mit Klinikum (Mitte). Der Siegeszug der Heliotherapie führte 1911/12 zum Bau der Sonnenklinik in St. Moritz (rechts).
Bergkrankheit im Fokus
Ein anderer Forschungsschwerpunkt im Samedner Spital betrifft Fragen der Höhenmedizin, denen sich – in neuerer Zeit – der langjährige Chefarzt der Medizinischen Klinik, Donald Marugg, angenommen hat, und zwar im Zusammenhang mit akuter Bergkrankheit inklusive Höhenhirnödem und Höhenlungenödem. Er zeigte dabei auf, dass verschiedene Faktoren mitspielen, sowohl Höhe, Klima als auch körperliche Belastung und Alter. Was stolze Männlichkeit wohl nur ungern zur Kenntnis nimmt: Frauen sind, statistisch gesehen, weniger häufig betroffen. Noch Fragen bezüglich starkes Geschlecht?
Darauf darf das Samedner Spital stolz sein! Samedan hätte dank dieses Medizinwunders mit globaler Ausstrahlung berühmt werden können, wenn man das damals richtig eingeschätzt hätte. Doch leider endet diese Erfolgsgeschichte mit einem Wermutstropfen unter dem Aspekt Tragik des Tüchtigen: Denn als «Dank» für die geleisteten Dienste wurde er aus dem Spital Samedan weggemobbt. Der Briefwechsel im Zusammenhang mit seiner Demission «an das tit. Kreisamt Oberengadin, pro Spitalcommission» spricht Bände und endet mit der Feststellung: «Dass ich solchen Undank habe erleben müssen, bemüht mich und viele Rechtgesinnte mit mir.»
Oscar Bernhard mit Kinderpatienten bei der Sonnenlichtkur auf einer Liegeterrasse im Winter.
Bilder: aus Heini Hofmann: Gesundheits-Mythos St. Moritz. Gammerter Druck und Verlag AG, St. Moritz
Vom Regen in die Traufe
Ob das Problem – das sei objektivitätshalber angefügt – nur bei der Gegenpartei lag, bleibt unbeantwortet. Fakt aber ist: Samedan hatte seinen Sohn, der später berühmt werden sollte, verloren. Doch der Tragik nicht genug: Auch in St. Moritz, wohin er nun seinen Wohnsitz verlegte, war man ihm zuerst nicht wohlgesinnt. Denn hier bangte man um den guten Ruf der Tourismusdestination, weil man nicht zwischen hoch ansteckender Lungenturberkulose und kaum bis nicht ansteckender Gelenk- und Knochentuberkulose zu unterscheiden wusste. In St. Moritz baute und betrieb er zuerst an traumhafter Hanglage eine Villa mit integriertem Minispital. Weil die Heliotherapie derart boomte und er von internationalen Patienten überrannt wurde, entstand bereits 1911/12 oberhalb der Villa Bernhard seine Sonnenklinik, das erste Engadiner Belle-Époque-Hospital, das bald Weltruf genoss. Nun wollte er direkt oberhalb seiner Klinik eine monumental dimensionierte Grosssonnenklinik bauen; doch St. Moritz legte das Veto ein und hat damit vielleicht einen möglichen Medizinnobelpreisanwärter gegroundet.
Prophet im eigenen Vaterland
Somit waren dem Heliotherapiebegründer die Hände gebun-
den, während zum Beispiel in Leysin und in anderen Ländern
die Sonnenkliniken wie Pilze aus dem Boden sprossen. Nur
im Ausland blieben seine Kenntnisse zum Bau von Sonnen-
kliniken gefragt, so im Schwarzwald auf Anfrage der Gross-
herzogin Luise von Baden, die ihn schon vom Spital Samedan
her kannte. Sein Palmarès und die internationalen Ehrungen
sind immens. Doch als Prophet im eigenen Vaterland geriet
er in Vergessenheit, zumal nun Tuberkulostatika die Helio-
therapie überflüssig machten.
Obschon der Sonnendoktor während des Ersten Weltkriegs
im sicheren Hort St. Moritz seinem Tagewerk hätte nachge-
hen können, war er sich nicht zu schade, sein medizinisches
Wissen und chirurgisches Können dort einzubringen, wo es
dringend gefragt war – an der Kriegsfront im Ausland in of-
fizieller Mission als Schweizer Militärarzt. Am 14. November
1939 starb der Sonnendoktor und Heliotherapiebegründer
aus Samedan, nachdem er doch noch das Ehrenbürgerrecht
von St. Moritz erhalten hatte, in einem schattigen Spitalzim-
mer ...
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