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Ophthalmologie
Augen auf bei kalten Händen
Das Glaukom ist weltweit die häufigste irreversible Erblindungsursache. Gesichtsfeldausfälle werden aufgrund der Kompensation durch das andere Auge und weitere Adaptationsmechanismen häufig erst spät bemerkt. Bei Patienten mit Normaldruckglaukom ist das Flammer-Syndrom häufig, das unter anderem durch kalte Hände und Füsse bei sportlichen, schlanken Personen auffällt.
Issa Rasheed Fetian, Isabelle Fuss, Asan Kochkorov
Die 61-jährige Patientin stellte sich für eine Routinekontrolle in unserer Praxis vor. Bei der Begrüssung mit Händedruck fielen kalte Hände auf. Auf Nachfrage sagte die Patientin, sie habe schon immer kalte Hände und Füsse gehabt, sogar im Sommer. Der Blutdruck sei immer tief. Sie klagte über Migräne, es bestand eine behandelte Dyslipidämie, und die Familienanamnese bezüglich Glaukom war unauffällig. Die Patientin war sportlich aktiv und erfolgreich in ihrem beruflichen Leben. Sehstörungen oder andere Augensymptome wurden verneint. Der somatische Status war unauffällig, der Blutdruck betrug 115/70 mmHg, der Body-Mass-Index 21,6 kg/m2. Aufgrund der anamnestischen und klinischen Hinweise auf ein Flammer-Syndrom (s. unten) erfolgte eine augenärztliche Untersuchung. Diese ergab ein beginnendes Normaldruckglaukom beider Augen (Augendruck beidseits 11 mmHg). Es zeigten sich beidseits diskrete Hinweise für Gesichtsfeldausfälle wie erhöhte MD (mittlere Defekttiefe) sowie Graustufendefekte im Bjerrum-Bereich. Die optische Kohärenztomografiemessung (OCT) ergab einen grenzwertig schmalen Rand der Papillen (minimum rim width, MRW) beidseits sowie eine Verdün-
MERKSÄTZE
� Das Glaukom ist die häufigste Ursache der irreversiblen Blindheit weltweit und kann bei rechtzeitiger Entdeckung behandelt werden. Patienten bemerken die sich langsam entwickelnden Gesichtsfeldausfälle häufig erst sehr spät.
� Neben dem erhöhten Augendruck (60%) spielt auch die Durchblutung des Sehnervs eine wichtige Rolle.
� Die Diagnose Flammer-Syndrom kann gestellt werden, wenn eine primäre vaskuläre Dysregulation sowie gelistete Faktoren gemeinsam auftreten.
� Das Flammer-Syndrom hat häufig keinen Krankheitswert, kann jedoch aufgrund lokaler Minderperfusion, die zeitweise auftritt, zu Organschäden führen.
nung der Nervenfasernschichtdicke (retinal nerve fiber layer, RNFL) links (Abbildung 1). Zur internistischen Ergänzung der Diagnostik erfolgte eine 24-Stunden-Blutdruckmessung, welche tief normale Werte in der Aktivphase zeigte (109/71 mmHg), in der Ruhephase jedoch ein extremes nächtliches Dipping (Ruhephase: 88/42 mmHg, Senkung in Ruhephase 19% systolisch und 41% diastolisch) (Abbildung 2). Aufgrund der augenärztlichen Befunde, der grenzwertigen arteriellen Hypotonie mit extremem nächtlichen Dipping und eines klinisch sowie anamnestisch bestehenden FlammerSyndroms konnte der verminderte okuläre Perfusionsdruck als Ursache des beginnenden Normaldruckglaukoms eruiert werden. Daraufhin wurde vom Ophthalmologen zur Blutdrucksteigerung eine systemische Mineralokortikoidtherapie mit Fludrocortisonacetat 0,1 mg (Florinef®) 3-mal wöchentlich begonnen, und 2-mal täglich Magnesium 10 mmol (Magnesiocard®) wurde zur Verbesserung der Durchblutungsregulation verordnet. Drei Monate nach Therapiebeginn war der Blutdruck in der Aktivphase normal (128/81 mmHg). Es bestand weiterhin ein extremes Dipping, mit jedoch insgesamt höheren nächtlichen Werten (101/53 mmHg, Senkung in Ruhephase 21% systolisch und 35% diastolisch) (Abbildung 3).
Erblindungsursache Glaukom
Unter dem Begriff Glaukom wird eine Gruppe von Augenerkrankungen zusammengefasst, welche zu einer progredienten und irreversiblen Schädigung des Nervus opticus führen (glaukomatöse Optikusneuropathie, GON). Die dadurch entstehenden Gesichtsfeldausfälle werden aufgrund der Kompensation durch das andere Auge und weitere Adaptationsmechanismen durch Patienten häufig erst sehr spät bemerkt. In diesem fortgeschrittenen Stadium ist eine Behandlung kaum noch möglich. Das Glaukom ist weltweit die häufigste irreversible Erblindungsursache (1). Man unterscheidet zwischen Glaukom bei erhöhtem Augendruck und Normaldruckglaukom sowie zwischen Offenwin-
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Abbildung 1: Optische Kohärenztomografiemessung (OCT); grenzwertig schmaler Rand der Papillen (minimum rim width, MRW) beidseits sowie verdünnte Nervenfasernschichtdicke (retinal nerve fiber layer, RNFL) links (Aufnahmen: Augenzentrum Brugg)
ABD-Report
AbbilduAlntggas2se:6V8 6e3r4l1aBuaafrdSweirtzBerllaundtdruckwerte in der 24-Stunden-Messung vor der Behandlung; Ruhephase (grau) sys./dia. 88/42 mmHg Abb. 2 (ABD-Report Schiller AG, Baar)
Patientenname: Katharina Hartmann Patienten-Nr.: 6096
Aufnahme Datum : 03.04.2019 Fall Nr:
[mmHg] 180 160
SYS DIA
140 120 100 80 60
40 20
[bpm] 110
HF
90 70
50
Zeit [h]:
SYS DIA
HF 15 16 17 18 19 20 21 22 23 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Zusammenfassung
AnabBc--baA2hs4kiietlSidrvdetpdnheu.daSrsanYeuSBfgSdnYeeoS3nrhmuS:naatadlVn(nD1d1eIadA9rrdmnlwloumaermrHntueagnlg)f(ul1e;nd2gd8Rte/dD8er1IuArmAoBhBmpDteHlimupgna)althh(de7a:2rmsuemcH(kgg)wraeurt)esyins.d/deira2. 140-S1t/u5n3dmenm-MHegssAubnb.g3 - Ruhephase SYS und DIA optimal (101/53 mmHg)
(AB- SDenk-uRng einpRuoherpthaSsecisht 2i1l%leSrYSAunGd 35,%BDaIAa, Erxt)rem-Dipping
Phase
Gesamt
Aktivphase Ruhephase
Zeit Messungen Mittel SYS [mmHg] (+/- SD)
14:31 - 11:30 (20:59)
26 119 (22.2)
AR0272S::0000M--0272E::00D00 ICI 14–11976 | 2011220810((271.8.5))
Mittel DIA [mmHg] (+/- SD)
72 (25.6) 81 (26.2) 53 (10.0)
Mittel HF [bpm] (+/- SD)
75 (10.2) 79 (10.6) 68 (3.6)
BD-Last SYS BD-Last DIA [%] [%]
26 15 29 18 00
Senkung Ruhephase SYS 21 % Senkung Ruhephase DIA 35 %
Smoothness-Index Morgendlicher Anstieg
0.80 33.00
kel- und Engwinkelglaukom. Das seltenere Engwinkelglaukom kann sich mit einem akuten schmerzhaften Glaukomanfall bemerkbar machen, der einen ophthalmologischen Notfall darstellt. Als ein Entstehungsmechanismus des Glaukoms wird ein Missverhältnis von Augeninnendruck und Durchblutung des Sehnervs angesehen (2), weshalb die Verbesserung der Durchblutungsregulation insbesondere bei Normaldruckglaukom eine wichtige Rolle spielt. Therapiestrategien sind die Regulation des Augendrucks mit medikamentösen und interventionellen Massnahmen sowie die Verbesserung der Durchblutung (inkl. Blutdruckregulation). Durch rechtzeitiges Veranlassen einer augenärztlichen Untersuchung bei Vorhandensein von Risikofaktoren kann einer Progression mit möglicher Erblindung vorgebeugt werden.
Flammer-Syndrom
Das Flammer-Syndrom ist nach Prof. Josef Flammer benannt, der bis 2013 Chefarzt der Augenklinik am Universitätsspital Basel war. Ihm fiel bereits als Assistenzarzt die erhöhte Inzidenz der vaskulären Dysregulation bei Glaukompatienten auf (3, 4). Das Flammer-Syndrom bezeichnet das gleichzeitige Auftreten einer primären vaskulären Dysregulation mit klinischen Auswirkungen der Durchblutungsstörung sowie weiteren typischen Faktoren. Bei der primären vaskulären Dysregula-
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Abbildung 4: Zwei Gruppen vaskulärer Dysfunktionen tragen zum Glaukom bei. Links: erhöhtes Risiko für ein Normaldruckglaukom (NTG); rechts: erhöhtes Risiko für ein Hochdruckglaukom (HTG); Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. med. Katarzyna Konieczka, Augenklinik Universitätsspital Basel, und des Biermann Verlags, Köln (6).
tion findet sich im Gegensatz zur sekundären vaskulären Dysregulation keine ursächliche Erkrankung wie zum Beispiel Atherosklerose, Multiple Sklerose oder rheumatoide Arthritis. Die Diagnose wird vorwiegend klinisch gestellt. Zu den Symptomen des Flammer-Syndroms gehören kalte Hände und Füsse, eine längere Einschlaflatenz, ein vermindertes Durstgefühl, die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen, Medikamenten und Gerüchen, ein Hang zu Perfektionismus, Tinnitus, Migräne und Muskelkrämpfe. Klinische Zeichen sind ein tiefer BMI, ein tiefer Blutdruck mit extremem Dipping, eine stumme Myokardischämie, eine veränderte Nagelfalzkapillarmikroskopie, eine erhöhte Variabalität der Hauttemperatur bei Stress sowie reversible fleckförmige weisse oder rote Verfärbungen der Haut. Das Flammer-Syndrom hat häufig keinen Krankheitswert, kann jedoch aufgrund lokaler Minderperfusion klinisch relevant werden (5). Bei Patienten mit Normaldruckglaukom (40% der Glaukompatienten) ist das Flammer-Syndrom häufig. Es gibt zwei Gruppen unterschiedlicher vaskulärer Dysfunktionen, die zum Glaukom beitragen: s Menschen mit erhöhtem Risiko für ein Flammer-Syn-
drom und damit für eine gestörte Autoregulation der Augendurchblutung. Dies wiederum erhöht das Risiko für ein Normaldruckglaukom. s Menschen mit Risikofaktoren für eine Atherosklerose und okulare Hypertonie und damit auch für ein Hoch-
druckglaukom. Beim Hochdruckglaukom werden die Ge-
fässe nach nasal verdrängt. Diese seitliche Verschiebung
der Gefässe ist beim Normaldruckglaukom schwächer
oder fehlend (3).
Weitere Informationen zum Flammer-Syndrom finden Sie
unter: http://www.flammer-syndrome.ch
s
Dipl. med. Issa Rasheed Fetian Hausarztpraxis MZ Brugg Fröhlichstrasse 5 5200 Brugg E-Mail: issa.fetian@hausarztmzb.ch issa.fetian@unibas.ch
Literatur: 1. Quigley HA, Broman AT: The number of people with glaucoma world-
wide in 2010 and 2020. Br J Ophthalmol 2006; 90(3): 262–267. 2. Gerste RD: Glaukom: eine vaskuläre Neuropathie. Deutsches Ärzteblatt
2008; 105(11): A-562/B-500/C-489. 3. http://www.flammer-syndrome.ch/glaukom 4. Gerste RD: Portrait von Josef Flammer. Wie ein kalter Händedruck Medi-
zingeschichte schrieb. Schweiz Ärzteztg 2018; 99(04): 118–120. 5. Middeke M: Die U-förmige Beziehung zwischen nächtlichem Blutdruck
und Organschäden. Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(46): 2640–2642. 6. Konieczka K, Gugleta K: Endotheliale Dysfunktionen beim Glaukom.
Ophthalmologische Nachrichten, Juli 2014.
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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