Transkript
ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Impfungen für Migranten
Welche sind prioritär?
Foto: KD
Impfungen sind das wichtigste Mittel zum Schutz vor schweren Infektionskrankheiten. Um Asylsuchende zu schützen und Krankheitsausbrüche zu verhindern, erarbeiteten Schweizer Fachleute im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit eine Empfehlung. Der Leiter dieser Expertengruppe, Prof. Philip Tarr vom Kantonsspital Baselland, gab an der Acamed in Pratteln einen Überblick.
Das Management von ansteckenden Krankhei-
ten in den Asylzentren des Bundes und der Kan-
tone, das Feststellen des Impfstatus, aber auch
das systematische Impfangebot wurden in der
Vergangenheit – selbst durch die Kantone – als
ungenügend bewertet. Zudem fehlte es für den
Fall von Ausbrüchen relevanter Infektions-
krankheiten in den Asylzentren bisher an ein-
heitlichen, national geltenden, konkreten
Prof. Philip Tarr
Richtlinien. Aus diesem Grund wurden 2018 nationale Empfehlungen entwickelt, die ein
Ausbruchsmanagement für die wichtigsten Infektionskrank-
heiten in den entsprechenden Asylzentren der Schweiz und
Impfempfehlungen für Asylsuchende darstellen. Das Doku-
ment richtet sich in erster Linie an die Pflegefachpersonen in
den Aufnahmezentren.
Bald impfen
Was sind die wichtigsten Punkte bei der Anamnese von Flüchtlingen? Nach der Aufnahme möglicher Krankheits-
Dass nicht zwangsläufig Flüchtlinge als Überträger von Infektionskrankheiten verantwortlich gemacht werden können, zeigte ein Fall im «wilden» Flüchtlingslager im französischen Calais. Dort wurden im Januar 2016 gleichzeitig zwei Masernfälle gemeldet: Ein 30-jähriger syrischer Flüchtling und ein 20-jähriger freiwilliger Helfer, der ebenfalls in dem Lager lebte. Nachdem sofort alle unter 35-jährigen Personen im Lager geimpft worden waren, ging man auf die Suche nach der Quelle der Infektion. Dabei stellte sich heraus, dass höchstwahrscheinlich nicht der syrische Flüchtling, sondern der europäische Pfleger die Masern eingeschleppt hatte. So hatte sich der Syrer seit gut einem Monat in dem Lager aufgehalten, also länger als die Inkubationszeit von Masern üblicherweise dauert. Zudem wurde der Virus-Genotyp B3 identifiziert, der zusammen mit D8 in den europäischen Ländern, aus denen die freiwilligen Helfer stammten, am häufigsten auftritt. Deshalb sei paradoxerweise wahrscheinlich der ungeimpfte Europäer für den Ausbruch verantwortlich, so die zuständigen Behörden.
Tabelle 1:
Impfungen bei Erstkonsultation für ungeimpfte* Gesuchstellende
Altersgruppe Impfung
2 Monate bis < 1 Jahr DTPa-IPV-Hib-HBV i.m. Pneumokokken i.m. 1–2 Jahre MMR s.c. ab dem Alter von 9 Monaten** DTPa-IPV-Hib-HBV i.m. MMR s.c. Varizellen s.c. 3–4 Jahre Pneumokokken i.m. DTPa-IPV-Hib i.m. MMR s.c. Varizellen s.c.* Pneumokokken i.m. 5–7 Jahre 8–14 Jahre DTPa-IPV i.m. MMR s.c. Varizellen s.c. dTpa-IPV i.m. MMR s.c. Varizellen s.c. ≥ 15 Jahre dTpa-IPV i.m. MMR s.c Varizellen s.c. Schwangere dTpa***-IPV i.m. Frauen Kommentar: MMR nicht nötig für Personen, die vor 1964 geboren sind Alter < 40 Jahre November bis Februar: Influenza s.c. HBV i.m. (falls seronegativ) Nach Entbindung: MMR und Varizellen Zur Präzisierung des Alters: 1–2 Jahre bedeutet vom 1. Geburtstag bis zum Tag vor dem 3. Geburtstag. * Gesuchstellende ohne schriftlich dokumentierte Impfungen werden als ungeimpft betrachtet. ** Bei Kontakt mit einem Masernfall, einem lokalen Ausbruch oder einer Epidemie in der Umgebung kann die 1. Dosis ab dem Alter von 6 Monaten gegeben werden. Im Falle einer ersten Impfung zwischen 6 und 8 Monaten sollte eine 2. Dosis im Alter von 9 Monaten und eine 3. Dosis im Alter von 12 Monaten verabreicht werden. *** dTpa für jede Schwangere ab dem 2. Trimenon unabhängig vom Pertussis-Impfstatus. Das minimale Intervall zur letzten Tetanusimpfung beträgt 4 Wochen. Quelle: BAG — Empfehlungen für Impfungen sowie zur Verhütung und zum Ausbruchsmanagement von übertragbaren Krankheiten in den Asylzentren des Bundes und den Kollektivunterkünften der Kantone, Version April 2019. 484 ARS MEDICI 14-16 | 2020 ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG Tabelle 2: Folgeimpfungen gemäss Schweizerischem Impfplan Impfung Alter bei Erstimpfung Totale Anzahl Dosen (Erstimpfung «0» und Folgeimpfungen) Kommentar plus Impfabstand (Monate) Kinder-Sechsfach- 2–3 Monate 3 Dosen: 0, 2 sowie 3. Dosis mit Mindestabstand von Impfung 12 Monaten i.m. 6 Monaten zwischen 2. und 3. Dosis DTPa-IPV-Hib-HBV 4–11 Monate 3 Dosen: 0, 1, 8 i.m. 1–2 Jahre 3 Dosen: 0, 2, 8 i.m. DTPa-IPV-Hib** 3–7 Jahre 3 Dosen: 0, 2, 8 i.m. Mindestabstand von 6 Monaten zwischen 2. und 3. Dosis dT(pa)-IPV 8–10 Jahre 3 Dosen: 0, 2 (dTpa-IPV), 8 (dT-IPV) i.m. ab 11 Jahre 3 Dosen: 0 (dTpa-IPV), 2 und 8 (dT-IPV) i.m. MMR 9–11 Monate* 2 Dosen: 0, ≥ 1 s.c. Kontraindiziert bei (frühestens mit 12 Monaten) Immungeschwächten und Schwangeren: Impfung nach Entbindung ≥ 12 Monate 2 Dosen: 0, ≥ 1 s.c. vor 1964 geboren keine Impfung 2. Impfung darf als Kombinationsimpfung MMRV gegeben werden Pneumokokken 2–3 Monate 3 Dosen: 0, 2, sowie Mindestabstand von 3. Dosis mit 12 Monaten i.m. 6 Monaten zwischen 2. und 3. Dosis 4–11 Monate 3 Dosen: 0, 1, 8 i.m. 12–23 Monate 2 Dosen: 0, 2 i.m. 24–59 Monate 1 Dosis i.m. Varizellen 12 Monate ≤ 40 Jahre 2 Dosen: 0, ≥ 1 s.c. Kontraindiziert bei ab 40 Jahre Keine Impfung ausser bei Ausbruch Immungeschwächten und Schwangeren: Impfung nach Entbindung; 2. Impfung darf als Kombinationsimpfung MMRV gegeben werden Hepatitis B 3–10 Jahre 3 Dosen: 0, 1, ≥ 6 i.m.* Bei Kindern unter 3 Jahren 11–15 Jahre 2 Dosen: 0, 4–6 i.m.** ist Hepatitis B in der Sechsfach- ab 16 Jahre 3 Dosen: 0, 1, 6 i.m. impfung enthalten HPV 11–14 Jahre 2 Dosen: 0, 6 i.m. Basisimpfung für Mädchen 15–19 Jahre 3 Dosen: 0, 2, 6 i.m. 11–14 Jahre, Nachholimpfung bis 19 Jahre; ergänzende Impfung für Frauen 20–26 Jahre sowie für Knaben und Männer 11–26 Jahre Meningokokken 24 Monate (catch-up bis 1 Dosis i.m. Ergänzende Impfung gemäss ACWY zum 5. Geburtstag) Schweizerischem Impfplan; 11–15 Jahre (catch-up bis 1 Dosis i.m. Konjugatimpfstoff verwenden zum 20. Geburtstag) Zur Präzisierung des Alters: 1–2 Jahre bedeutet vom 1. Geburtstag bis zum Tag vor dem 3. Geburtstag. *monovalenter Kinderimpfstoff, **monovalenter Erwachsenenimpfstoff Quelle: BAG — Empfehlungen für Impfungen sowie zur Verhütung und zum Ausbruchsmanagement von übertragbaren Krankheiten in den Asylzentren des Bundes und den Kollektivunterkünften der Kantone, Version April 2019. ARS MEDICI 14-16 | 2020 485 ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG symptome sollten einige Informationen abgefragt werden: Aus welchem Herkunftsland stammen die Asylsuchenden? Welche Länder wurden auf der Flucht durchquert? Gibt es Vorerkrankungen? Müssen Medikamente genommen werden? Kam es bereits zu Infektionskrankheiten oder Infektionen in der unmittelbaren Wohnumgebung (z.B. Skabies, HIV, Hepatitis B oder Tuberkulose)? Wann sind die Betroffenen in der Schweiz angekommen? Wurden sie bereits in der Vergangenheit geimpft? Oft bleibt die Anamnese jedoch sehr rudimentär, da Sprachbarrieren und ein Mangel an Übersetzern häufig ein ausführliches Gespräch verunmöglichen. Gerade das baldige Impfen, möglichst innerhalb der ersten Tage nach Ankunft, sei wichtig, erklärte Tarr, auch Leiter der für die Realisierung der nationalen Richtlinien zuständigen Expertengruppe. Hingegen werden Serologien zur Feststellung des Impfbedarfs in der Regel nicht empfohlen, da es nicht selten falsch-negative Antikörpertiter gäbe. Zudem seien die Resultate nicht immer einfach zu interpretieren und könnten beim Transfer der Flüchtlinge innerhalb der Schweiz leicht verloren gehen, so der Infektiologe. Bemerkenswerterweise kommen die wenigsten Flüchtlinge komplett ungeimpft in die Schweiz, sogar in Kriegsgebieten wird immer wieder geimpft. Da jedoch in den meisten Fällen kein Impfausweis vorhanden ist, sollten Flüchtlinge prinzipiell als ungeimpft betrachtet werden. Ein möglicherweise doppeltes Impfen schadet nicht, für ein «zuviel Impfen» existieren bislang keine Belege. Auch Varizellenimpfungen Nach Angaben des BAG sind 60 Prozent aller Antragsteller drei Monate nach Einreichung des Asylgesuchs nicht mehr in der Schweiz. Daher sollten nur die prioritären Basisimpfungen möglichst rasch neuerdings in den Bundeszentren durchgeführt werden und die weniger prioritären später von den kantonalen Einrichtungen. Ziel dieses schnellen Handelns ist es, Infektionsausbrüchen in den Bundeszentren vorzubeugen. Dabei sollen Asylsuchende prinzipiell gleich wie die einheimische Bevölkerung gemäss dem Schweizerischen Impfplan geimpft werden. Ausnahme ist jedoch die Varizellenimpfung. Sie wird als prioritäre Impfung bei ein- bis elfjährigen Asylsuchenden empfohlen, die noch keine Varizelleninfektion durchgemacht haben. In den Kantonen kann dann auch bei älteren Menschen (maximal bis zum 39. Lebensjahr) eine entsprechende Vakzination durchgeführt werden, wobei im- mer Kontraindikationen, vor allem Schwangerschaft und Immunsuppression, beachtet werden müssen. Gerade beim Zusammenleben auf engem Raum bestehe eine erhöhte Ge- fahr für Variezellenausbrüche, so Tarr. Solche Ereignisse wür- den in den Zentren für erhebliche Unruhe sorgen, weshalb diese Impfung wichtig sei. Nicht unter die prioritären Imp- fungen fallen Hepatitis A, Hepatitis B und HPV. Prioritäre Impfungen für ungeimpfte Asylsuchende sind (siehe auch Tabelle): s MMR (gegen Masernausbrüche in den Empfangszentren) s Varizellen (gegen Windpockenausbrüche in den Empfangs- zentren) s Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis (insbesondere um Säuglinge vor Pertussis zu schützen und um die Polio- sowie Diphtherie-Herdenimmunität in der Schweiz zu ge- währleisten) s Hib- und Pneumokokkenimpfung für Kinder unter 5 Jah- ren (zum Schutz vor invasiven Erkrankungen). s Klaus Duffner Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. med. Philip Tarr Co-Chefarzt Medizinische Universitätsklinik, Infektiologie und Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Standort Bruderholz 4101 Bruderholz E-Mail: philip.tarr@ksbl.ch Referenzen: 1. Bundesamt für Gesundheitswesen (Notter J, Ehrenzeller S, Tarr P): Emp- fehlungen für Impfungen sowie zur Verhütung und zum Ausbruchsmanagement von übertragbaren Krankheiten in den Asylzentren des Bundes und den Kollektivunterkünften der Kantone. Handbuch für Gesundheitspersonal im Rahmen des Konzeptes zur Sicherstellung der Erkennung, Behandlung und Verhütung von übertragbaren Krankheiten sowie des Zugangs zur notwendigen Gesundheitsversorgung. 2019. www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/infektionskrankheiten-bekaempfen/infektionskontrolle/gesundheitsversorgung-asylsuchende.html. Letzter Zugriff: 26.7.2019. 2. Ehrenzeller S et al.: Update 2019 für die Praxis Infektionskrankheiten und Impfungen bei Asylsuchenden. Swiss Med Forum. 2019; 19: 386–390. 486 ARS MEDICI 14-16 | 2020