Transkript
INTERVIEW
Chance auf Hilfe in scheinbar aussichtsloser Situation
Was Hausärzte über fürsorgerische Unterbringungen wissen sollten
Eine fürsorgerische Unterbringung gilt als Mittel der letzten Wahl, zuvor sollten alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Wer eine fürsorgerische Unterbringung anordnen kann, ist kantonal geregelt. Wann eine solche angeordnet werden sollte und was dabei zu berücksichtigen ist, erläutert PD Dr. med. Matthias Jäger, Direktor Erwachsenenpsychiatrie, Chefarzt Privatklinik, Psychiatrie Baselland, im Interview.
Ars Medici: Was genau versteht man unter einer fürsorgerischen Unterbringung? PDDr.med.MatthiasJäger: Eine fürsorgerische Unterbringung, kurz FU, ist eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder eine andere geeignete Einrichtung gegen den Willen der Betroffenen oder ohne deren explizites Einverständnis auf Basis der Ausführungen im Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, namentlich Artikel 426 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) (siehe Kasten). Die Voraussetzung dafür sind das Vorliegen eines Schwächezustandes im Sinne einer psychischen Störung, einer geistigen Behinderung oder einer schweren Verwahrlosung sowie eine gleichzeitig vorliegende Schutzbedürftigkeit, sodass die notwendige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Der zweite Punkt wird in der Praxis üblicherweise als akute Selbst- und/oder Fremdgefährdung ausgelegt. Die mit Abstand häufigste Begründung für eine FU in einer psychiatrischen Klinik sind eine psychische Erkrankung und eine damit einhergehende Selbstgefährdung. Grundsätzlich kann eine Unterbringung, abhängig von der Situation, auch in anderen Einrichtungen erfolgen, beispielsweise wenn akut eine somatische Behandlung erforderlich wird, der der Patient aufgrund einer fehlenden Urteilsfähigkeit aber nicht zustimmt.
Zur Person
PD Dr. med. Matthias Jäger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Direktor Erwachsenenpsychiatrie Chefarzt Privatklinik Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich Psychiatrie Baselland Liestal
Und wie häufig erfolgt eine FU in der Schweiz? Jäger: Verglichen zu anderen Ländern, ist die Rate an FU in der Schweiz hoch. Bei uns sprechen wir insgesamt von einer Rate von rund 1,6/1000 Einwohnern pro Jahr. Die kantonale Schwankung ist dabei gross, sie reicht von 0,4/1000 pro Jahr
Bei FU ist nicht zwingend davon auszugehen, dass die betroffene Person weglaufgefährdet ist, das ist zwar eine verbreitete Annahme, aber dennoch nicht die Regel.
Wäre denn auch im Akutspital ein Verbleib gegen den Willen der Betroffenen gewährleistet? Jäger: Zur Not wäre das auch dort möglich, notfalls mit Sitzwache oder gar polizeilicher Unterstützung. Bei FU ist nicht zwingend davon auszugehen, dass die betroffene Person weglaufgefährdet ist, das ist zwar eine verbreitete Annahme, aber dennoch nicht die Regel. Sie muss nicht in einem geschlossenen Rahmen erfolgen.
Artikel 426 ZGB
«Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an einer geistigen Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in eine geeignete Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen. Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind. Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann jederzeit um Entlassung ersuchen. Über dieses Gesuch ist ohne Verzug zu entscheiden.»
Quelle: Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB): Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht. 1907 (Stand 1. Januar 2020)
ARS MEDICI 14–16 | 2020
433
INTERVIEW
im Kanton Baselland bis zu 2,2/1000 pro Jahr in den Kantonen Schaffhausen und Zürich.
Wie sehen die gesetzlichen Grundlagen für eine FU aus? Jäger: Neben den bereits erwähnten Paragrafen des Kindesund Erwachsenenschutzrechtes gibt es in jedem einzelnen Kanton noch eine Ausdifferenzierung in Form des entsprechenden Einführungsgesetzes, in dem weitere Grundlagen definiert sind. Diese betreffen im Wesentlichen die Befugnis für die Anordnung einer FU. Das variiert kantonal sehr stark, ebenso, wann eine solche Anordnung überprüft werden muss. In der Regel ist das nach 6 Wochen der Fall.
Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen über mehrere Wochen hinweg bei einer FU keine Behörde involviert werden muss.
Was spielt die KESB dabei für eine Rolle? Wann muss sie informiert werden? Jäger: Wenn die Anordnung einer FU an Ärzte delegiert ist, muss die KESB in der Regel nicht informiert werden. Sie sollte mit einer Vorlauffrist von 10 bis 14 Tagen dann informiert werden, wenn die Unterbringung voraussichtlich länger als 6 Wochen dauern sollte. 85 Prozent aller Unterbringungen enden jedoch vor Ablauf der 6 Wochen. Die mittlere Dauer beträgt 14 Tage – weniger, als wenn die Patienten freiwillig in der Klinik sind.
Inwieweit fallen FU in die Zuständigkeit von Fach- oder Hausärzten? Müssen dafür spezielle Kompetenzen vorhanden sein? Jäger: Die Rolle der Hausärzte ist kantonal unterschiedlich. In den Kantonen, in denen auch Hausärzte und Spitalärzte, die keine Fachärzte für Psychiatrie sind, eine FU anordnen dürfen, machen sie das durchaus häufiger. Im Kanton Zürich zum Beispiel ist das in knapp 40 Prozent der Fall.
Wer kann eine FU anordnen? Jäger: Grundsätzlich zuständig ist die KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) des entsprechenden Bezirks, diese kann die Befugnis jedoch an geeignete Personen delegieren, üblicherweise an Ärzte. In manchen Kantonen ist das allen Ärzten erlaubt, unabhängig vom Fachgebiet, in anderen dürfen das nur bestimmte Fachärzte, zum Beispiel Fachärzte für Psychiatrie beziehungsweise Kinder- und Jugendpsychiatrie. In wieder anderen Kantonen hat nur eine kleinere Gruppe von Ärzten oder der kantonsärztliche Dienst die notwendige Befugnis. Lediglich im Kanton Baselland darf eine FU nur durch die KESB angeordnet werden, die sich dabei natürlich auf eine ärztliche Einschätzung beruft. Bei uns muss eine notfallmässige, provisorische Einweisung in Absprache mit der KESB auf Basis einer Kurzbegutachtung innerhalb von 24 Stunden durch ein Mitglied der KESB überprüft werden. Dieses Vorgehen ist in der Schweiz ein Sonderfall, aber in Europa die Regel. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, in denen über mehrere Wochen hinweg bei einer FU keine Behörde involviert werden muss. In den meisten Kantonen muss erst nach 6 Wochen die KESB hinzugezogen werden.
Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, deren Behandlung durch den Betroffenen abgelehnt wird, reicht nicht aus. Es geht primär um die Sicherheit, nicht allein um klinische Aspekte.
Eine FU kann dann aufgehoben werden, wenn die Gründe für die Anordnung nicht mehr bestehen. Ob das der Fall ist, entscheiden in den meisten Fällen die behandelnden Ärzte fortlaufend. Eine solche Situation ist natürlich immer konfliktbehaftet, weil man in einer Doppelrolle agiert und nicht, wie in einer freiwilligen therapeutischen Beziehung, nur für die Therapie zuständig ist.
Wann sollte ein Hausarzt eine FU in Betracht ziehen? Jäger: Es gibt keine fixen Kriterien, eigentlich sollte sie ja, wenn immer möglich, vermieden werden. Eine FU bleibt das Mittel der letzten Wahl, wenn die betroffene Person weder ambulant noch stationär auf freiwilliger Basis betreut werden kann. Sie ist erst dann gerechtfertigt, wenn aufgrund einer psychischen Erkrankung eine unmittelbare Gefährdung an Leib und Leben der Person selbst oder Dritter vorliegt, deren Behandlung durch keine mildere Massnahme möglich ist. Das Vorliegen einer psychischen Erkrankung, deren Behandlung durch den Betroffenen abgelehnt wird, reicht nicht aus. Es geht primär um die Sicherheit, nicht allein um klinische Aspekte.
Wie kommuniziert man die Notwendigkeit am besten? Jäger: Ausser bei massiver Erregung oder deliranten Patienten, die verbal nicht erreichbar sind, kann man in den allermeisten Fällen mit den Patienten sprechen. Man muss kommunizieren, dass man zu der Einschätzung gekommen ist, dass im Zusammenhang mit einer psychischen Belastung eine gefährliche Situation vorliegt, und dass man es nicht verantworten kann, den Patienten damit allein zu lassen. Der Patient muss wissen, dass man keine andere Möglichkeit sieht, ihm zu helfen, und dass man, sollte er mit einer Einweisung nicht einverstanden sein, eine FU anordnen muss. Die Kommunikation muss transparent sein, die eigenen Überlegungen sollten nachvollziehbar dargestellt werden, und es muss klar werden, dass man aus grosser Sorge handelt. Man muss die Betroffenen anhören, ihre Perspektive würdigen und, falls möglich, Alternativen zur Verfügung stellen.
Müssen Angehörige verständigt werden? Jäger: Es muss gefragt werden, ob eine nahestehende Person informiert werden soll. Ist das gewünscht, muss die Information über die FU schriftlich und nach Möglichkeit auch mündlich erfolgen. Sowohl der Patient als auch die informierte Person müssen unbedingt darüber aufgeklärt werden, dass gegen die Anordnung einer FU Rechtsmittel angewendet werden können. Das bedeutet, dass das zuständige Einzelgericht um Überprüfung der Anordnung der FU gebeten werden
434
ARS MEDICI 14–16 | 2020
INTERVIEW
kann. Diese Rechtsmittelbelehrung muss sowohl bei Anordnung als auch bei Aufnahme in der Klinik erfolgen.
Die Rate an FU ist kantonal sehr unterschiedlich. Wie erklären Sie sich das? Jäger: Das können wir nicht vollständig erklären, es kommen viele Faktoren zusammen. Wichtig sind sicherlich die rechtlichen Grundlagen und die prozeduralen Voraussetzungen. Wir gehen davon aus, dass es auch eine Rolle spielt, wie gross der Personenkreis ist, der zur Anordnung befugt ist, wie die Überprüfungsmechanismen sind und wie der Schulungsgrad der involvierten Personen ist. Je besser jemand ausgebildet ist und je besser er sich mit den rechtlichen Grundlagen auskennt, desto genauer werden die Voraussetzungen geprüft. Auch die Urbanizität scheint eine Rolle zu spielen, im städtischen Raum ist die Wahrscheinlichkeit grösser als im ländlichen Raum. Auf dem Land ist die soziale Kontrolle grösser, das ermöglicht eine frühere Intervention, wenn es jemandem nicht gut geht. Zudem ist der Anteil an Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Städten höher. Das kann daran liegen, dass Betroffene eher in Städten leben, aber auch daran, dass Aspekte des städtischen Umfelds psychische Erkrankungen auslösen oder verstärken können. Auch die Kultur oder gesellschaftliche Toleranz sind Aspekte, die die Rate beeinflussen können. Ebenso spielt die Stigmatisierung psychisch Erkrankter oder das Ausmass an fürsorgerischen Zielen einer Gesellschaft eine Rolle. Wenn eine Gesellschaft wie in der Schweiz ein ausgebautes Sozialsystem hat und schaut, dass es ihren Bürgern gesundheitlich möglichst gut geht, wird man eher versuchen, einer offensichtlich psychisch erkrankten Person Hilfe zukommen zu lassen. Dann wird jemand auch eher als in anderen Ländern eingewiesen und so lange in der Klinik behalten, bis es wieder besser geht. In den USA beispielsweise ist die Rate an FU deutlich geringer, deren Dauer deutlich kürzer – und dafür sieht man viel mehr offensichtlich psychisch Kranke auf der Strasse, in der Obdachlosigkeit beispielsweise.
Weitere Informationen
– Hinweise auf den Seiten der kantonalen psychiatrischen Kliniken
– Pro Mente Sana: diverse Angebote für Betroffene unter www.promentesana.ch oder direkt via QR-Code
Welche Strukturen können helfen, möglichst lang auf Zwang zu verzichten? Jäger: Dafür stehen eine ganze Reihe von Massnahmen mit niederschwelligem Zugang zur Verfügung: Angebote für Menschen in psychischen Krisen und Belastungssituationen, bei denen man mit Informationszugang zur Prävention beginnen kann, online zugängliche Informations- und Beratungsangebote, die Dargebotene Hand als Telefonberatung sowie in den Kliniken einfach zugängliche Angebote, die nicht stigmatisierend wirken und von Betroffenen gern in Anspruch genommen werden. Dazu zählen Kriseninterventionszentren, aufsuchende mobile Krisenangebote, die zu Hause oder ausserhalb von Kliniken Unterstützung anbieten, sowie Tageskliniken für akute Krisen. Zunehmend werden in den letzten Jahren in den Institutionen auch Genesungsbegleitende – Personen, die eigene Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, Behandlungen und Klinikaufenthalten haben – in die Beratung und Betreuung involviert.
Welche Chancen birgt eine solche Unterbringung für die Patienten? Jäger: Eine FU birgt die Chance, dass Menschen in einer scheinbar aussichtslosen Situation passende Hilfe und Unterstützung finden und im eigenen Lebensumfeld wieder Fuss fassen können, selbst wenn sie initial die Situation nicht richtig einschätzen konnten beziehungsweise der Meinung waren, dass sowieso alles nichts mehr nütze. Auch besteht die Chance, dass eine bereits seit Langem bestehende Erkrankung, die von den Betroffenen nicht wahrgenommen wurde, einer Behandlung zugeführt wird und es danach viel besser geht. Wir haben viele Patienten, die nach Abschluss einer FU oder sogar schon nach wenigen Tagen sagen, dass die Unterbringung gerechtfertigt gewesen sei und dass sie sehr froh darüber seien, da sie dadurch Entlastung erfahren hätten.
... und welche Risiken? Jäger: Daneben gibt es einen grossen Anteil an Personen, die das überhaupt nicht hilfreich finden. Das führt uns zu den Risiken. Zwang zu erfahren, ein Grundrecht genommen zu bekommen – die Freiheit der Selbstbestimmung: Das alles hat das Potenzial einer starken Traumatisierung respektive birgt die Möglichkeit, dass ein bestehendes Trauma reaktiviert wird. Wird dabei polizeiliche Gewalt angewendet und kommt es in der Klinik zu weiteren freiheitsbeschränkenden Massnahmen, einer Isolierung oder Zwangsanwendungen in der Therapie, kann das erhebliche Traumatisierungen zur Folge haben.
Das Interview führte Christine Mücke.
ARS MEDICI 14–16 | 2020
435