Transkript
STUDIE REFERIERT
Gichtschübe
Naproxen oder niedrig dosiertes Colchizin als First-Line-Therapie?
Bei der Behandlung gichtbedingter Schmerzattacken weisen Naproxen und niedrig dosiertes Colchizin eine vergleichbare Wirksamkeit auf. Naproxen ist jedoch mit weniger unerwünschten Wirkungen verbunden und sollte daher – sofern keine Kontraindikationen vorliegen – als First-Line-Therapie bevorzugt werden. Zu diesen Ergebnissen gelangten britische Wissenschaftler in einer multizentrischen offenen randomisierten Studie aus der Primärversorgung.
Annals of the Rheumatic Diseases
Zur Behandlung gichtbedingter Schmerzattacken stehen nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), niedrig dosiertes Colchizin (colchizinhaltige Arzneimittel sind in der Schweiz nicht mehr im Handel) oder Kortikosteroide zur Verfügung. NSAR waren in zahlreichen Studien bei Gichtanfällen mit einer guten Wirksamkeit verbunden. Allerdings kommt es dabei häufig zu Nebenwirkungen, die mitunter auch lebensbedrohlich sein können. Zudem erhielten zwischen 2001 und 2004 drei Viertel aller Gichtpatienten in Grossbritannien Diclofenac oder Indometacin, zwei der toxischsten Substanzen dieser Medikamentenklasse. Das NSAR Naproxen ist mit einem geringeren vaskulären Risiko verbunden und hat sich bei Gichtattacken als ebenso effektiv erwiesen wie Kortikosteroide. Hoch dosiertes Colchizin zeigt bei gichtbedingten Schmerzattacken ebenfalls Wirksamkeit, ist jedoch häufig mit gastrointestinalen Nebenwirkungen verbunden. Deshalb wird in Grossbritannien derzeit eine «niedrige Dosierung» von 2- bis 4-mal täglich 500 µg empfohlen.
Offene randomisierte Praxisstudie
In der multizentrischen offenen randomisierten CONTACT-(Colchicine or Naproxe Treatment for Acute Gout-) Studie verglichen Edward Roddy von der Keele University (Grossbritannien) und seine Arbeitsgruppe jetzt kürzlich die Wirksamkeit und Sicherheit von Naproxen und niedrig dosiertem Col-
chizin zur Behandlung akuter Gichtanfälle bei 399 Erwachsenen aus 100 Praxen der Primärversorgung. Im Rahmen von CONTACT erhielten 200 Teilnehmer Naproxen (750 mg sofort, anschliessend 250 mg alle 8 h über 7 Tage). Die verbleibenden 199 Patienten wurden mit niedrig dosiertem Colchizin (500 µg 3-mal täglich über 4 Tage) behandelt. Als primären Endpunkt definierten die Forscher die Veränderung der Schmerzintensität innerhalb von 24 Stunden im Vergleich zu Baseline auf einer Skala von 1 bis 10. Die Schmerzintensität wurde 7 Tage lang evaluiert.
Naproxen und Colchizin vergleichbar wirksam
Im Verlauf der 7 Tage zeigten sich in den beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die durchschnittliche Veränderung der Schmerzintensität. Die Mittelwertdifferenz zwischen Colchizin und Naproxen betrug –0,18 (95%-Konfidenzintervall [KI]: –0,53 bis 0,17; p = 0,32).
Mehr Nebenwirkungen unter Colchizin
Unter niedrig dosiertem Colchizin kam es im Vergleich zu Naproxen häufiger zu Diarrhö (45,9% vs. 20,0%; Odds Ratio [OR]: 3,31; 95%-KI: 2,01–5,44), und die Patienten litten auch öfter unter Kopfschmerzen (20,5% vs. 10,7%; OR: 1,92; 95%-KI: 1,03–3,55). Obstipation trat unter niedrig dosiertem Colchizin dagegen seltener auf als unter Naproxen (4,8% vs. 19,3%; OR: 0,24; 95%-KI: 0,11–0,54).
Fazit der Studienautoren
Die Autoren stellten im Hinblick auf die Wirksamkeit beider Medikamente keinen Unterschied fest. Naproxen war in der Praxisstudie jedoch mit weniger Nebenwirkungen verbunden und sollte daher ihrer Ansicht nach – sofern keine Kontraindikationen vorliegen – als First-Line-Therapie akuter Gichtanfälle bevorzugt werden (1).
Leserbrief…
Konstantinos Parperis von der University of Cyprus Medical School in Nikosia (Zypern) verweist in einem Leserbrief (2) zunächst auf eine neue Metaanalyse von Bally et al. (3), in der alle NSAR – auch Naproxen – mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkte verbunden waren. Deshalb sollte Naproxen seiner Ansicht nach nicht als einzige First-Line-Therapie empfohlen werden. Zudem hatten an der Studie auch Patienten mit Hypertonie und Diabetes teilgenommen. Für diese Untergruppen wäre Colchizin im Hinblick auf die Sicherheit eine sinnvolle FirstLine-Therapie, führt er in seinem Schreiben weiter aus. Bezüglich der colchizinbedingten Diarrhö verweist Parperis auf die AGREE-(Acute Gout Flare Receiving Colchicine Evaluation-)Studie. Hier lag die Rate der Diarrhö nicht bei 45,9, sondern nur bei 23 Prozent. In diesem Zusammenhang stellt er sich die Frage, weshalb Roddy et al. an den Tagen 2 bis 4 nicht die von der European League Against Rheumatism (EULAR) empfohlene Dosierung von 0,5–1 mg/Tag verabreichten.
416
ARS MEDICI 13 | 2020
STUDIE REFERIERT
Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass beide Medikamente eine wichtige Rolle in der Behandlung akuter Gichtanfälle spielen und je nach Patientencharakteristika und Komorbiditäten als Erstlinienmedikamente geeignet sind.
… und Antwortschreiben
In seinem Antwortschreiben (4) argumentiert Edward Roddy, dass die Metaanalyse von Bally et al. nur Studien mit Daten aus Gesundheitsdatenbanken beinhaltete und nur die verkauften oder verschriebenen Medikamente und nicht die tatsächlich eingenommenen erfasst wurden. In einer anderen Metaanalyse (5), in der individuelle Patientendaten aus 280 randomisierten Studien zu NSAR versus Plazebo ausgewertet wurden, war Naproxen im Gegensatz zu anderen NSAR nicht mit einem signifikant erhöhten Risiko für schwere vaskuläre Ereignisse oder den vaskulären Tod verbunden, erläutert Roddy. Die Auswahl der Colchizindosis begründet Roddy damit, dass in seiner Praxisstudie die realen Interventionen im klinischen Alltag evaluiert werden sollten. Deshalb verwendeten er und sein Team die von der British Society for Rheumatology empfohlene Dosierung. Zudem gibt die EULAR zwar eine Empfehlung für die Sofortbehandlung innerhalb von 12 Stunden nach Beginn der Schmerzattacke, jedoch nicht für länger andauernde Schmerzen. In der Praxis-
studie begannen jedoch mehr als zwei Drittel der Patienten erst 24 Stunden nach Beginn der Attacke oder noch später mit ihrer Medikation, sodass eine Dosierung entsprechend der EULAR Roddys Ansicht nach hier möglicherweise nicht geeignet gewesen wäre. Abschliessend weist Roddy noch darauf hin, dass seine Arbeitsgruppe Naproxen nicht als einzige First-Line-Option empfiehlt, sondern nur, wenn keine Kontraindikationen vorliegen.
Kommentar aus der Schweiz
Marcel Weber vom Stadtspital Triemli Zürich, Klinik für Rheumatologie, fragt sich in einem Kommentar auf der Website von Rheuma Schweiz (6), weshalb die Naproxenbehandlung mit einer Ladungsdosis begonnen wurde, die Colchizinbehandlung jedoch nicht. Da die Schmerzkurven über die 7 Studientage unter beiden Medikamenten dennoch sehr ähnlich verlaufen, könnte seiner Vermutung nach auch der Spontanverlauf bei der Schmerzlinderung eine Rolle spielen. Des Weiteren weist Weber darauf hin, dass bestimmte unerwünschte Wirkungen wie eine Niereninsuffizienz nicht untersucht wurden und so die colchizinbedingte Diarrhö in der vorgestellten Studie eine besondere Bedeutung erlangt hat. Insgesamt sieht er die Handlungsanweisung, eine gichtbedingte Schmerzatta-
cke mit NSAR zu behandeln, durch die
Studienergebnisse bestätigt. Colchizin
hält er jedoch bei Kontraindikationen
gegenüber NSAR für eine gute Alter-
native.
PS ▲
Interessenlage: Die Autoren der Originalarbeit und der Kommentare erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur: 1. Roddy E et al.: Open-label randomised pragmatic trial (CONTACT) comparing naproxen and low-dose colchicine for the treatment of gout flares in primary care. Ann Rheum Dis 2019, Oct 30, pii: annrheumdis-2019-216154; doi: 10.1136/ annrheumdis-2019-216154. 2. Parperis K: Open-label randomised pragmatic trial (CONTACT) comparing naproxen and low-dose colchicine for the treatment of gout flares in primary care. Ann Rheum Dis 2019, Nov 27, pii: annrheumdis-2019-216643; doi: 10.1136/ annrheumdis-2019-216643. 3. Bally M et al.: Risk of acute myocardial infarction with NSAIDs in real world use: byaesian meta analysis of individual patient data. BMJ 2017; 357: j1909; doi: 10.1136/bmj.j1909. 4. Roddy E, Mallen CD; CONTACT trial authors: Naproxen or low-dose colchicine for gout flares in primary care? Response to: ‹Open-label randomised pragmatic trial (CONTACT) comparing naproxen and low-dose colchicine for the treatment of gout flares in primary care› by Parperis et al. Ann Rheum Dis 2019, Dec 4, pii: annrheumdis-2019-216671; doi: 10.1136/annrheumdis-2019-216671. 5. Coxib and traditional NSAID Trialists› (CNT) Collaboration; Bhala N et al.: Vascular and upper gastrointestinal effects of non-steroidal anti-inflammatory drugs: meta-analyses of individual participant data from randomised trials. Lancet 2013; 382: 769–779. 6. Weber M: NSAR beim Gichtschub mit weniger Nebenwirkungen als Colchizin. www.rheuma-schweiz.ch, Weekly, 6. Januar 2010.
ARS MEDICI 13 | 2020
417