Transkript
FORTBILDUNG
Diagnostik bei Nackenschmerzen
Das richtige Mass finden
Nackenschmerzen machen in der Hausarztpraxis etwa 4 Prozent aller Beratungsanlässe aus. Hausärzte sind hier häufig mit Patienten konfrontiert, die bestimmte diagnostische bildgebende Verfahren und Therapiemassnahmen einfordern. Dieser Umstand setzt den Arzt oft unter Druck und kann – in Kombination mit dem täglichen Zeitmangel, dem Wunsch nach schnellem Behandlungserfolg und einer langjährigen Routine – für eine mangelnde Umsetzung der Nackenschmerzleitlinie sorgen. Das Ergebnis ist häufig eine Über- oder Fehlversorgung der Patienten.
Isabel Höppchen, Maren Wittek, Joachim Szecsenyi
Unter Nackenschmerzen versteht man Schmerzen in dem Ge biet, das kranial durch die Linea nuchalis superior, kaudal durch den ersten Brustwirbel und jeweils lateral durch die Ansätze des M. trapezius am Schultergelenk begrenzt wird (21). Zeitlich erfolgt die Einteilung von Nackenschmerzen in akut, subakut und chronisch (21). Zusätzlich differenziert man sie nach ihrer Ätiologie. Alle Nackenschmerzen, denen keine raumfordernden, entzündlichen, traumatischen oder systemi schen Prozesse zugrunde liegen, werden als nicht spezifisch bezeichnet. Im Gegensatz dazu liegen bei Verdacht auf kon krete organische Ursachen spezifische Nackenschmerzen vor (vgl. Tabelle 1) (3, 21).
MERKSÄTZE
� Grundlage der Diagnostik von Nackenschmerzen bilden Anamnese und körperliche Untersuchung.
� Bei Hinweisen auf spezifische, ernsthafte Pathologien (Red Flags) kann eine Überweisung an einen Facharzt notwendig sein. Daneben müssen auch potenzielle psychosoziale Risikofaktoren (Yellow Flags) abgeklärt werden.
� Bildgebende Verfahren sind sparsam und nur bei Verdacht auf Red Flags einzusetzen.
� Die Wirksamkeit von NSAR und Relaxanzien bei akuten Nackenschmerzen ist umstritten. Während ein kurzfristiger Einsatz (max. 12 Wochen) von NSAR empfohlen wird, spielen Relaxanzien bei nicht spezifischen Nackenschmerzen in der S1-Leitlinie auch wegen zum Teil sedierender Nebenwirkungen keine Rolle.
� Die Leitlinie empfiehlt Mobilisierung und Manipulation bei akuten, subakuten und chronischen Zuständen.
Epidemiologie
Während es in anderen Ländern zahlreiche Studien zur Häu figkeit von Nackenschmerzen gibt, mangelt es in Deutschland an einer aussagekräftigen Datenbasis. Die Global Burden of Disease Study ordnete Nackenschmerzen im Jahr 2010 als den vierthäufigsten Grund für Einschränkungen der Lebens qualität ein (18). Hoy et al. (13) schätzen die Punktprävalenz von Nacken schmerzen auf 0,4 bis 41,5 Prozent in der Gesamtbevölke rung. Die Neuerkrankungsrate von Nackenschmerzen steigt mit zunehmendem Alter und erreicht einen Peak zwischen 35 und 49 Jahren (13). Die Prävalenz in Industriestaaten, hier vor allem in städtischen Regionen, wird allgemein höher ein geschätzt (13). Nackenschmerzen haben meist einen harmlosen Charakter mit hoher spontaner Heilungstendenz. Ähnlich wie Schmer zen in der Lumbalregion können Nackenschmerzen einen episodischen Verlauf über das gesamte Leben eines Betroffe nen nehmen und werden von verschiedensten äusseren und persönlichen Faktoren beeinflusst (2, 13). Während sich akute Zustände innerhalb von zwei Monaten von selbst bes sern können, leidet die Hälfte der Patienten weiter an Be schwerden oder bekommt Rückfälle (2). Betroffene beschrei ben dabei Einschränkungen im Alltag (beim Autofahren, bei der Computerarbeit oder der Teilnahme an sozialen Aktivi täten), was wiederum die Belastung durch die Krankheit er höhen kann (13).
Probleme in der Hausarztpraxis Ein kausaler Zusammenhang zwischen Befund und beklagten Symptomen lässt sich bei nicht spezifischen Nackenschmer zen selten herstellen (6). Bildgebende Verfahren dienen des halb häufig nur dem Bedürfnis von Ärzten und Patienten, organische Ursachen nachzuweisen. Zervikale Spondylosen, Osteoarthrosen oder Bandscheibendegenerationen finden sich jedoch auch bei beschwerdefreien Patienten und können daher meist nicht als alleinige Auslöser für Nackenschmerzen gelten (6). Nur in weniger als 1 Prozent der Fälle sind hier
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Tabelle 1:
Einteilung von Nackenschmerzen (eigene Darstellung in Anlehnung an die DEGAM-Leitlinie)
Nach Dauer
Akut
0–3 Wochen
Subakut
4–12 Wochen
Chronisch
>12 Wochen
Nach Ätiologie
Nicht spezifisch Spezifisch
Keine spezifisch behand lungs- oder abklärungs bedürftige Ursache
Verdacht auf radikuläre Reizung, Trauma, Z. n. Operation, System erkrankung
Zeichen einer gefährlichen Grunderkrankung, wie Tumoren, Infektionen, Arachnoidalblutungen oder Dissektion der A. vertebralis, als Ursache nachweisbar (11). Hausärzte sind oft in der Situation, dass sich subjektive Emp findungen des Patienten von den objektiven Beurteilungen des Arztes unterscheiden (23). Die Erwartung der Patienten, einen Anspruch auf eine Therapie zu haben, ist äusserst präsent (23). Ein gleichzeitiger Mangel an körperlicher Selbstkompe tenz oder eine Vermeidungshaltung fördert unangemessene
Forderungen nach medizinischen Leistungen. Patienten sind meist vom Vorhandensein einer physischen Ursache über zeugt, während psychische Einflussfaktoren nicht in Betracht gezogen oder kategorisch ausgeschlossen werden (23).
Diagnostik
Der strukturierten Diagnostik von Nackenschmerzen liegen eine ausführliche Anamnese sowie eine körperliche Untersu chung zugrunde. Diese geben das Ausmass des weiteren Vor gehens und des Therapieumfangs vor (Abbildung) (22).
Red Flags und Yellow Flags Für die Entscheidung, ob eine Überweisung an einen Facharzt notwendig ist, sind sogenannte Red Flags (RF) heranzuzie hen. Diese müssen bei der Anamnese und der Diagnostik durch den Hausarzt berücksichtigt werden (2, 3, 23, 24). Bei RF handelt es sich um Hinweise auf eine spezifische, ernst hafte Pathologie, welche die Ursache für die Symptome des Patienten sein kann (Tabelle 2) (3). Eine oberflächliche Dia gnostik sowie eine Vernachlässigung der Äusserungen des Patienten können hier eine gravierende Unter- oder Fehlver sorgung nach sich ziehen (23). Dies passiert etwa durch ein fehlerhaftes oder unbegründetes Einsetzen invasiver Thera piemassnahmen, eine Vernachlässigung des Untersuchens von RF oder eine verspätete beziehungsweise unkommentierte Überweisung des Patienten an einen Facharzt. Neben RF existieren auch sogenannte Yellow Flags (YF). Unter YF sind psychosoziale Risikofaktoren zu verstehen, die einen Einfluss auf Krankheitsverlauf und Schmerzwahrneh
Red Flags und Yellow Flags für die hausärztliche Untersuchung von
Nackenschmerzen
Dauer
Nicht spezifische Nackenschmerzen
Akut Subakut Chronisch
Therapie entsprechend der Schmerzdauer
Verdacht auf ernsthafte Ursache
Spezifische Nacken-
schmerzen
Notfall
Weitere Diagnostik
Sofortige Abklärung
Überweisung/Einweisung
Abbildung: Strukturiertes Vorgehen in der Hausarztpraxis (eigene Darstellung in Anlehnung an die DEGAM-Leitlinie) ARS MEDICI 13 | 2020
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Tabelle 2:
Red Flags und Yellow Flags für die hausärztliche Untersuchung von Nackenschmerzen (eigene Darstellung)
Red Flags
Yellow Flags
s Traumata s rheumatoide Arthritis s infektiöse Symptome s Spondylarthropathie s konstitutionelle Symptome:
Fieber, Leistungsminderung, (Nacht-)Schweiss, Gewichtsverlust s Langzeittherapie mit Kortiko steroiden s neurologische Zeichen s Alter < 20 bzw. > 50 Jahre s frühere Tumorerkrankungen
s niedriges Bildungsniveau s geringe berufliche Qualifika
tion s Angst, beruflichen Anforde
rungen nicht gerecht zu wer den s Angst, soziale Absicherung zu verlieren s berufliche Unzufriedenheit s Verlust des Arbeitsplatzes s soziale Probleme am Arbeits platz
mung haben können (Tabelle 2). Der Hausarzt sollte für YF sensibilisiert sein, um entsprechend reagieren und mit dem Patienten darüber sprechen zu können (5). Psychosoziale Kompetenzen sind hierfür notwendig.
Bildgebende Verfahren Man muss ausdrücklich darauf hinweisen, dass bildgebende Verfahren nur bei Verdacht auf RF und somit sparsam einzu setzen sind. Werden Röntgen, Magnetresonanztomografie (MRT) und Computertomografie (CT) als Screeninginstru mente angewandt, kann die Aufmerksamkeit fälschlicher weise auf radiologische Details, zum Beispiel altersentspre chende degenerative Veränderungen, gelenkt werden. Dies kann zu einer Pathologisierung des Patienten beitragen. Bei nicht traumatischen Nackenschmerzen ist deshalb nach Aus schluss von RF auf eine Bildgebung zu verzichten (22). Die Indikation für ein bildgebendes Verfahren liegt vor, wenn neurologische Defizite oder radikuläre Schmerzen auftreten oder ein Frakturverdacht vorliegt (22). All diese Beschwerden können zum Beispiel durch Bandscheibenvorfälle, Foraminal stenosen oder vorangegangene HWS-Traumata (z. B. durch einen Auffahrunfall) ausgelöst werden und erfordern eine weitere diagnostische Abklärung (22). Nach Ausschluss spezifischer Nackenschmerzen beziehungs weise nach Überweisung des Patienten an entsprechende Fachärzte steht die Unterstützung des Spontanverlaufs im Vordergrund. Die hausärztliche Behandlung sollte vor allem Aufklärung und Beratung des Patienten, Hilfe zur Beibehal tung der Aktivitäten sowie, falls nötig, eine kurzfristige an algetische Therapie umfassen. Ziel ist es, die Massnahmen sinnvoll zu begrenzen und gleichzeitig einer Chronifizierung der Erkrankung entgegenzuwirken.
Anamnese Im Gespräch sollte der Arzt vorrangig die Charakteristika der Nackenschmerzen erfassen, wie zum Beispiel den zeitlichen Verlauf der Beschwerden, die Schmerzqualität, die Lokalisa tion und etwaige Ausstrahlungen in die Arme (22). Informa tionen über frühere Krankheitsepisoden sowie deren Thera pien, die Medikamentenanamnese und Komorbiditäten sind zu dokumentieren (22).
Therapie nicht spezifischer Nackenschmerzen
Die S1-Leitlinie «Nackenschmerz» (21) listet verschiedene konservative Therapieoptionen für nicht spezifische Nacken schmerzen auf. Aufgrund der weitgehend unzureichenden Studienlage lässt sich der Stellenwert der genannten Therapie optionen gegenüber Spontanverlauf, Plazeboeffekten und therapeutischer Zuwendung jedoch nicht eindeutig benen nen.
Körperliche Untersuchung Bei der Inspektion sollte vor allem auf funktionelle Fehlstel lungen oder schmerzbedingte Haltungen (z. B. Kopfhaltung) geachtet werden. Auch benachbarte Abschnitte der Halswir belsäule (HWS), wie Kiefergelenk und Schultergürtel, sind zu berücksichtigen. Die Untersuchung der Schulter ist hierbei besonders bedeutsam, da vor allem Tendinitiden und Bursiti den ausstrahlende Schmerzen in die Arme verursachen kön nen und somit schwer von einer Radikulopathie zu unter scheiden sind (22). Miosis, Ptosis und Enophthalmus können Hinweise auf ein Horner-Syndrom sein (22). Die Palpation umfasst eine Untersuchung der tastbaren knö chernen Strukturen und des Weichteilgewebes. Ein leichter Druck auf Dorn- und Querfortsätze verursacht normalerweise keine Schmerzen (22). In der Muskulatur können schmerzhafte Punkte gefunden oder getastet werden (sog. Triggerpunkte) (22). Schwellungen der Lymphknoten sollte der Arzt als Hin weis auf eine infektiöse oder entzündliche Erkrankung berück sichtigen (22). Die Beweglichkeitsprüfung der HWS umfasst Bewegungen in Reklination, Inklination, Rotation und Seitnei gung im Seitenvergleich. Bei ausstrahlenden Schmerzen in die Arme ist gegebenenfalls eine neurologische Untersuchung der Arme (Sensibilität, Motorik, Reflexe) nötig (22).
Medikamentöse Behandlung Dass Relaxanzien eine schmerzlindernde Wirkung auf Na ckenschmerzen haben, ist nur durch eine schwache Evidenz belegbar (1). Aus diesem Grund und wegen der bekannten sedierenden Nebenwirkungen vieler Relaxanzien empfiehlt die Leitlinie keine Gabe bei nicht spezifischen Nackenschmer zen (21). Für die nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) gibt es widersprüchliche Hinweise, dass sie bei akuten Na ckenschmerzen schmerzlindernd wirken können (19, 26). Die Leitlinie empfiehlt dennoch eine kurzfristige Gabe über ma ximal zwölf Wochen, wobei Patienten über mögliche Neben wirkungen aufgeklärt werden sollten (21).
Mobilisation und Manipulation Die Leitlinie empfiehlt Mobilisierung und Manipulation bei akuten, subakuten und chronischen Zuständen (21). Auf grund der Studienlage lässt sich jedoch sagen, dass hier die Art der Anwendung von entscheidender Bedeutung ist. Bei akuten Nackenschmerzen beschreibt ein Review, dass mul tiple zervikale Manipulationen effektiver in der Schmerzlin derung sein können als die Medikation (9). Bei chronischen Nackenschmerzen scheint eine einmalige zervikale Manipu lation nur zur kurzfristigen Schmerzlinderung (< 6 Monate)
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beizutragen (9). Es gibt zudem moderate Evidenz, dass eine Kombination aus Manipulation und verschiedenen Mobili sationstechniken chronische Schmerzen langfristig reduzieren und die Funktion verbessern kann (4).
Akupunktur Für die in der Leitlinie empfohlene Akupunktur bei chroni schen Nackenschmerzen findet sich in der Literatur nur schwache Evidenz für eine kurz- bis mittelfristige schmerz lindernde Wirkung auf Beschwerden, die im Zusammenhang mit chronischen Nackenschmerzen stehen (21, 27).
Injektionen Die Leitlinie empfiehlt keine Injektion von Lokalanästhetika bei Nackenschmerzen (21). Die widersprüchliche Studienlage bezüglich intramuskulärer und epiduraler Injektionen sowie hinreichend beschriebene Komplikationen durch Injektionen (z. B. Infektionen) unterstützen diese Empfehlung (19, 21).
Bewegungstherapie und Physiotherapie
Die Leitlinie rät von einer Ruhigstellung durch immobilisie
rende Massnahmen ab und empfiehlt eine frühe Wiederauf
nahme von Aktivität schon in der akuten Phase (21). Welche
Aktivitäten bei akuten Nackenschmerzen konkret schmerz
lindernd sind, lässt sich jedoch nicht eindeutig sagen. Aktuelle
Studien fanden zudem nur schwache Evidenz dafür, dass Be
wegungstherapie bei akuten Nackenschmerzen überhaupt
schmerzlindernd wirkt (8). Bei subakuten und chronischen
Nackenschmerzen spricht eine starke Evidenz für einen multi
modalen Therapieansatz. Eine Kombination aus Bewegungs
therapie und Mobilisation scheint bei chronischen Zuständen
erfolgreicher in der langfristigen Schmerzlinderung zu sein als
die Bewegungstherapie allein (4, 12, 14). Hinsichtlich acht
samkeitsorientierter Bewegungsprogramme wie Yoga gibt es
wiederum nur schwache Evidenz für eine kurz- bis mittelfris
tige Linderung chronischer Nackenschmerzen (8, 17).
Für sonstige physiotherapeutische Massnahmen lässt sich
keine bis eine schwache Evidenz bezüglich der Wirksamkeit
nachweisen. Massageanwendungen, so zeigten Reviews, brin
gen keine signifikante Verbesserung der Schmerzintensität
über einen Tag hinaus (15, 25).
Auch andere Massnahmen wie die manuelle Traktion, die
Elektrotherapie, die kraniosakrale Therapie oder das Schröp
fen zeigen lediglich eine schwache Evidenz für eine langfristige
Schmerzlinderung (7, 10, 16, 20).
s
Maren Wittek Isabel Höppchen Prof. Dr. med. Joachim Szecsenyi Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung Universitätsklinikum Heidelberg D-69120 Heidelberg
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 20/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
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