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FORTBILDUNG
Weibliche Lustlosigkeit: Stolpersteine und Strategien
Diagnostik und Therapie von chronischen Sexualstörungen bei Frauen
Jede zehnte Frau leidet unter ihrer Lustlosigkeit. Sehr viel mehr Frauen, nämlich jede dritte, haben keine Lust, leiden aber nicht darunter, suchen demzufolge auch keine Hilfe. Oft fällt es Frauen mit Sexualproblemen schwer, dieses Thema beim Arzt anzusprechen. In der Praxis lauern dann einige Stolpersteine, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Mit einem guten sexualmedizinischen Wissen lässt sich die weibliche Lustlosigkeit meist gut behandeln.
Elia Bragagna
Der schwierigste Schritt ist sicherlich der Einstieg, denn nur 6 Prozent der in einer US-Studie befragten Frauen gaben an, sich dafür gezielt einen Termin geben zu lassen (1). In den allermeisten Fällen findet das Gespräch über ihr sexuelles Problem während einer Routineuntersuchung statt oder bei einem Arztbesuch aus irgendeinem medizinischen Grund. Die Herausforderung besteht dabei meistens darin, abschätzen zu können, wie viel Zeit für dieses unerwartete zusätzliche Feld zur Verfügung steht, ohne dabei den Routinebetrieb zu stören.
MERKSÄTZE
� Die Therapie der weiblichen Lustlosigkeit mag im ersten Moment kompliziert und aufwendig erscheinen. Sie ist es aber nicht, wenn man die ersten Stolpersteine meidet und für die zwei wichtigsten Hürden (sexualmedizinische Wissensdefizite und knappe Zeitressourcen) eine Lösung findet.
� Sexualmedizinisches Wissen kann man sich relativ leicht in entsprechenden zertifizierten Lehrgängen aneignen. Gleichzeitig baut man sich dabei auch ein interdisziplinäres sexualmedizinisches Netzwerk auf, um Patientinnen im Bedarfsfall weiterleiten zu können. Im Anschluss daran fällt es einem leicht, in kürzester Zeit eine seriöse Sexualanamnese zu erheben und eine sexualmedizinische Diagnose zu stellen, aus der klar ersichtlich ist, auf welcher Ebene die Ursachen der Sexualstörung liegen und mit welchen passenden Therapieoptionen diese behandelt werden kann.
� Patientinnen mit chronisch bestehenden Sexualstörungen können nicht mit einer einzigen Intervention geheilt werden. Dies gilt es auch den Patientinnen zu vermitteln. Es werden einige Schritte zur Therapieoptimierung notwendig sein, bis die Betroffene wieder eine für sie befriedigende Sexualität erleben kann.
Ohne gezielte Sexualanamnese geht es nicht
Achtung: Steht wenig Zeit zur Verfügung, sollte der Patientin in wertschätzender Art und Weise gezielt dafür ein Ersatztermin angeboten werden. Wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, gilt es, den nächsten Stolperstein zu meiden. Wer hofft, ohne eine gezielte Sexualanamnese, einfach mittels eines Tipps oder eines Rezepts, das Problem beheben zu können, handelt nicht nur unseriös, sondern wird auch in den seltensten Fällen helfen können. Es gibt nicht «die typische lustlose Frau». Es gibt vitale und/oder kranke, betagte Frauen, die unter dem Symptom leiden, genauso wie junge, sportliche und/oder kranke Frauen und unterschiedliche Frauen in der Phase des Wechsels. Jede mit einer anderen sexuellen Vorgeschichte und vor allem mit einem unterschiedlichen Partner. Die einen haben einen verständnisvollen Partner, der verstehen kann, dass ein Therapieerfolg sich oft erst nach einer gewissen Zeit einstellt. Andere haben Partner, die das überhaupt nicht interessiert. Sie wollen so schnell wie möglich eine Partnerin, die sexuell funktioniert. Unwissenheit über weibliche Sexualität ist einer der häufigsten Stolpersteine. Die klassische Aussage zu diesem Thema («Weibliche Sexualität findet im Hirn statt!») zeugt vor allem von der Unwissenheit der Kollegen. Natürlich findet Sexualität auch im Hirn statt, sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Nur was ist damit gemeint? Die allermeisten assoziieren damit, dass mit der Patientin psychisch etwas nicht stimmt. Das assoziieren auch die Patientinnen, die diesen Satz von ihren Ärzten hören. Das Gehirn von Frau und Mann speichert vom ersten Moment des Lebens an Erfahrungen ab, die sie im Umgang mit emotionalen und körperlichen Bedürfnissen, Nähe und Abgrenzungsbedürfnissen sowie mit körperlichen und psychischen Übergriffen von ihrer prägenden Umgebung und vielem mehr erlebt haben. Im konkreten Kontakt mit einem Sexualpartner findet automatisch ein Abgleich mit den gespeicherten Erfahrungen statt. Löst der Abgleich eine positive Vorfreude aus, wird das parasympathische System akti-
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viert, das den Körper für eine sexuelle Begegnung bereit macht. Führt der Abgleich allerdings zu Irritationen, dann reagiert der Körper abwehrend, sympathikoton. Eine ungestörte Sexualität von Frau und Mann ist also das Endergebnis einer möglichst störungsfreien Sexualentwicklung, von persönlichen Lernerfahrungen und von ungestörten Körperfunktionen. Im Praxisfall wird es daher nötig sein, sich zuallererst zu vergewissern, dass all die Strukturen, die eine ungestörte Sexualität ermöglichen (zentrales Nervensystem [ZNS], nervale, endokrine, kardiovaskuläre, muskuläre und genitale Strukturen), intakt sind, also nicht von sexualrelevanten Erkrankungen, Operationen, Traumata, Bestrahlungen oder Medikamenten beeinträchtigt sind. Wenn hier keine Auffälligkeiten vorliegen, sollte im Rahmen einer kurzen Sexualanamnese erhoben werden, welche partnerschaftlichen, beruflichen, finanziellen oder familiären Stressoren der Frau zusetzen, sodass ihr System beziehungsweise ihr Körper sympathikoton reagiert und sie deshalb Sexualität meiden möchte. Im Stress des Routinebetriebs wird oft übersehen, dass eine der Ursachen für weibliche Lustlosigkeit ein Sexualproblem des Partners ist. So ist zum Beispiel jede zweite Partnerin eines Mannes mit Ejaculatio praecox lustlos. Von diesen leiden 78 Prozent an irgendeiner Sexualstörung. Ejaculatio praecox zählt zu den häufigsten Sexualstörungen des Mannes (2). Genauso können natürlich alle anderen Sexualstörungen des Partners die Lust der Frau negativ beeinflussen (3). Achtung! Hat eine lustlose Frau, die ärztliche Hilfe sucht, immer eine Sexualstörung? Sehr häufig, fast in den meisten Fällen, kommt die Frau, weil sie nicht so häufig oder in den Abständen Sex haben will wie ihr Partner. Dabei handelt es sich nicht um eine Sexualstörung, sondern um ein partnerschaftsdynamisches Problem, bei dem nicht die Frau behandelt gehört, sondern das Paar, das eine für beide befriedigende Lösung finden muss. Als ein grosser Stolperstein erweist sich noch unser gesellschaftliches Bild der Lust, das geprägt ist von der spontanen Lust, wie sie klischeehaft den Männern zugeschrieben wird. Sehr viele Männer geben an, dass ihre Frauen im Laufe der Jahre kaum mehr von sich aus ein sexuelles Bedürfnis verspüren und nicht mehr auf sie zugehen. Es stimmt, dass ein Grossteil der Frauen nach der Verliebtheitsphase ein anderes Muster der sexuellen Lust beschreibt. Sexuelle Lust entsteht bei ihnen oft durch intime Nähe, ein gutes Gespräch, schöne gemeinsame Erlebnisse, zärtliche Zuwendungen und vieles mehr. Das entspricht eher der responsiven Lust. Die Frau reagiert auf Intimität körperlich mit einem sexuellen Bedürfnis. Diese Frauen sind also keinesfalls lustlos. Sie haben nur andere Startimpulse, als uns über Softpornos vermittelt wird. In diesem Fall gilt es, für die Patientin herauszufinden, welche Situationen dafür geeignet sind, intime Nähe beim Paar zu erzeugen.
Ursachenforschung auf mehreren Ebenen
Vor jeder Therapiemassnahme wird erhoben, auf welcher Ebene die Ursache der Sexualstörungen liegt: auf der somatischen, psychischen, sozialen und/oder einer gemischten Ebene.
Somatisch bedingte Lustlosigkeit Grob lassen sich drei Themenschwerpunkte bei somatisch bedingter Lustlosigkeit herausarbeiten: sexualrelevante Erkrankungen, endokrine Einflussfaktoren und Medikamente (4, 5).
Sexualrelevante Erkrankungen Zu den wichtigsten Störfaktoren zählen bei den Frauen chronische Müdigkeit, Erschöpfung, Depression, Angststörungen, Harninkontinenz, der allgemeine Gesundheitszustand, Hypooder Hyperthyreose.
Endokrine Einflussfaktoren Ein Absinken der Steroidhormone ist oft von einem verminderten sexuellen Interesse begleitet, denn Östrogene und Androgene aktivieren im ZNS das neurobiologische System des Sexualtriebs und regeln peripher unter anderem die genitale Durchblutung, die Elastizität und die Sensibilität der vulvovaginalen Strukturen.
Medikamente Medikamente mit folgenden Wirkungen haben ein kontrasexuelles Potenzial: s zentralnervös wirksame Medikamente (z. B. Antidepres-
siva, Antipsychotika, Lithium) s endokrin wirksame Medikamente (z. B. Antiandrogene,
Antiöstrogene, Aromatasehemmer, hormonelle Kontrazeptiva, H2-Rezeptor-Blocker, Spironolactone) s vegetativ/durchblutungsregulierend wirksame Medikamente (z. B. Betablocker, Thiaziddiuretika, Anticholinergika).
Psychosoziale Hauptrisikofaktoren Die Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Schicht, eine längere Partnerschaft (v. a. mehr als 20 Jahre), gepaart mit partnerschaftlicher und sexueller Unzufriedenheit und der Unfähigkeit, (sexuelle) Bedürfnisse zu kommunizieren, zählen zu den Hauptursachen psychosozial verursachter Lustlosigkeit (1).
Therapieoptionen
Wenn die Ursachen der Lustlosigkeit erhoben worden sind, wird mit der Patientin das passende Therapieangebot (somatopsychosozial) besprochen (4, 5). Die Basisberatung ist dabei immer ein integraler Bestandteil jeder Therapiemassnahme. Die Patientin kann so den Zusammenhang zwischen der Ursache der Lustlosigkeit und der daraus resultierenden Sexualstörung verstehen, und es kann damit leichter eine Verbesserung eintreten. Sollten psychotherapeutische Interventionen nötig sein, gilt es, sich zuerst bewusst zu machen, ob man fachlich und zeitlich in der Lage ist, das abzudecken. Auf keinen Fall sollte man, nur damit etwas angeboten wird, mit irgendwelchen Tipps aufwarten, die nicht auf konkreten Anhaltspunkten basieren. Nichts irritiert Patientinnen mehr als der Standardtipp bei Alltagsstress: «Trinken Sie ein Glas Sekt, und Sie werden sehen, die Lust kommt ganz von selbst.» Stellt sich heraus, dass die Frau ein komplett sexualfeindliches Leben führt, in dem es keinen Platz für ihre eigenen Bedürfnisse gibt, keine Zeit für Erholung und schon gar keine Zeit für das Paar,
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kann man versuchen, ihr den Blick dafür zu öffnen, dass eine sexualfreundliche Lebensgestaltung essenziell ist, damit – aus neurobiologischer Sicht – der Körper überhaupt ein Bedürfnis für Sexualität entwickeln kann. Oft benötigen die Frauen aber eine sexualtherapeutische Begleitung, vor allem dann, wenn die Sexualstörung schon sehr lange besteht und daraus eine negative Beziehungsdynamik entstanden ist. Bei der Therapie der somatisch bedingten Lustlosigkeit gilt es zuallererst, immer zu evaluieren, ob somatische Faktoren, die zu einer Lustlosigkeit führen können, eventuell einer Therapieoptimierung bedürfen (z. B. inadäquat therapierte Depression). Ebenso gilt es zu überprüfen, ob kontrasexuelle Medikamente eventuell ersetzt werden können oder deren Dosis reduziert werden kann und ob der Hormonstatus passt.
Medikamentöse Therapie der Lustlosigkeit Das Expertenteam der Internationalen Gesellschaft für Sexualmedizin (ISSM) überprüfte die bestehende wissenschaftliche Literatur zur Therapie der weiblichen Lustlosigkeit. Im Folgenden werden die Schlüsse, die in den Standard Operating Procedures (SOP) zusammengefasst wurden, dargestellt.
Hormonelle Therapie Eine systemische oder lokale Östrogentherapie ist, wenn die Patientin es wünscht und keine Kontraindikationen bestehen, bei den klassischen peripheren Symptomen als Folge des Östrogenmangels indiziert, also bei vaginaler Atrophie, verminderter genitaler Vasokongestion und Lubrikation, Abnahme der lustvollen genitalen Erregungsempfindung und des Erregungsaufbaus mit resultierenden Orgasmusproblemen. Die Datenlage zu Testosteron ist noch widersprüchlich. Zudem gibt es seit 2012 kein zugelassenes Präparat am Markt. Die Wirksamkeit von Dehydroepiandrosteron (DHEA) konnte nicht nachgewiesen werden, allerdings scheint sich mit der intravaginalen DHEA-Applikation eine vielversprechende Option aufzutun. Tibolon konnte in Studien seine positiven Effekte unter Beweis stellen.
Ein pflanzliches Medikament zur Behandlung der weiblichen
Lustlosigkeit wird aus den Blättern der südamerikanischen
Pflanze Turnera diffusa gewonnen (6). Das Medikament
wirkt über drei Ansatzpunkte. Zum einen wirkt es im ZNS
über die GABA-(γ-Aminobuttersäure-) und die Glutamatre-
zeptoren stressreduzierend, zum anderen verbessert es durch
Erhöhung des Testosteronspiegels die sexuelle Motivation. In
der Peripherie fördert Turnera diffusa die genitale Erregung
und damit die Lubrikation, indem sie die Bildung von Stick-
stoffmonoxid (NO) anregt und dessen Abbau hemmt. Wie
bei allen pflanzlichen Medikamenten bedarf es einer mehr-
wöchigen Einschleichphase, bevor sich die volle Wirkung
entfalten kann.
s
Dr. med. Elia Bragagna Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychosomatik, Psychound Sexualtherapeutin A-1190 Wien
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien als Nachdruck aus «JATROS Gynäkologie & Geburtshilfe» 1/2019 in «Der Allgemeinarzt» 41/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
Literatur: 1. Shifren JL et al.: Sexual problems and distress in United States women:
prevalence and correlates. Obstet Gynecol 2008; 112(5): 970–978. 2. Hobbs K et al.: Sexual dysfunction in partners of men with premature
ejaculation. Int J Impot Res 2008; 20(5): 512–517. 3. Fisher WA: Sexual experience of female partners of men with erectile
dysfunction: the female experience of men‘s attitudes to life events and sexuality (FEMALES) study. J Sex Med 2005; 2(5): 675–684. 4. Bitzer J et al.: Sexual desire disorder in women. Introduction and overview. Standard operating procedure (SOP Part 1). J Sex Med 2013; 10(1): 36–57. 5. Hartmann U: Sexualtherapie. Springer, 2018. 6. Szewczyk K, Zidorn C: Ethnobotany, phytochemistry, and bioactivity of the genus Turnera (Passifloraceae) with a focus on damiana-Turnera diffusa. J Ethnopharmacol 2014; 152(3): 424–443.
Zentral wirksame Medikamente Offiziell sind, auch in der Schweiz, keine zentral wirksamen Medikamente zugelassen. Oxytocin zeigte sich in Studien Plazebo nicht überlegen. Seit einigen Jahrzehnten wird «off-label» das Antidepressivum Bupropion mit seiner dopaminergen/noradrenergen Wirkung angewendet. Vorsicht bei der Kombination mit Medikamenten mit einem CYP2D6-enzymatischen Abbauweg! Bupropion reduziert zum Beispiel den aktiven Metaboliten von Tamoxifen.
Peripher wirksame Medikamente Phosphodiesterase-(PDE-)5-Inhibitoren werden erfolgreich «off-label» zur adjuvanten Behandlung der genitalen Erregungsstörung mit ihren negativen Folgen für die responsive Lust angewandt. Dies betrifft vor allem postmenopausale Frauen oder solche, bei denen die genitale Erregung durch Krankheiten, Operations- und Bestrahlungsfolgen oder Medikamentennebenwirkungen beeinträchtigt ist. Sie können von der substanzinduzierten Vasodilatation und Vasokongestion profitieren (z. B. Frauen mit Multipler Sklerose, Diabetes mellitus).
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