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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Personalisierung der Pharmakotherapie bei Depression
Therapeutisches Drug-Monitoring und Implementierung der Pharmakogenomik
Zur Unterstützung einer pharmakologischen Therapie bei Depression stehen verschiedene biologische Tests zur Verfügung. Im Folgenden ein Überblick über die verfügbaren Tests und deren sinnvollen Einsatz zur Personalisierung der Therapie sowie die Zusammenarbeit zwischen betreuendem Arzt und klinischem Pharmakologen.
Pierre Baumann und Alexander Jetter
Die Depression ist gemäss der WHO weltweit der Hauptgrund für Arbeitsunfähigkeit. Das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, erreicht 15 bis 18 Prozent (1). Patienten, die an einer Depression erkranken, werden häufiger beim Allgemeinarzt als in einem psychiatrischen Setting angetroffen (2). Das Schweizerische Gesundheitsobser-
Indikationen für das therapeutische Drug-Monitoring von Antidepressiva
✔ Dosisoptimierung nach Eindosierung oder nach Dosisänderung
von Antidepressiva mit einem hohen TDM-Empfehlungsgrad
(obligatorisch z. B. für Lithium)
✔ Verdacht auf unzuverlässige Einnahme der Antidepressiva,
unzureichende Adhärenz
✔ Kein oder ungenügendes Therapieansprechen bei empfohlener
Dosis
✔ Unerwünschte Arzneimittelwirkung bei klinischer Besserung unter
der empfohlenen Dosis
✔ Rückkehr der Symptomatik unter adäquater Dosis
✔ Messung der Arzneistoffkonzentration zur Bestimmung der
individuell optimalen Wirkstoffkonzentration, wenn der Patient
den erwünschten Therapieeffekt erreicht hat
✔ Kombinationsbehandlung von Antidepressiva mit Wechselwir-
kungspotenzial oder Verdacht auf eine Arzneimittelinteraktion
✔ Anwesenheit einer genetischen Besonderheit im Arzneimittel-
metabolismus (Defektmutante, Genmultiplikation)
✔ Schwangere oder stillende Patientin
✔ Patient im Kindes- oder Jugendalter
✔ Alterspatient (≥ 65 Jahre)
✔ Patient mit Intelligenzminderung
✔ Forensischer psychiatrischer Patient
✔ Patient mit pharmakokinetisch relevanter Komorbidität (hepatische
oder renale Funktionsstörung, kardiovaskuläre Erkrankung)
✔ Vor Beginn, während und nach Ende einer Therapie, die den
Metabolismus des Antidepressivums induziert oder steigert, um
Dosisanpassungen vornehmen zu können
✔ KbeliineismchpefoBhelsesneernuenng,DaobseernA uftre ten von
unerwünschten (mod.
Wirkungen nach [4, 5])
vatorium (Obsan) berichtete 2016, dass 30 Prozent der Bevölkerung an Depressivität leiden. Bei 73 Prozent der Personen mit starken Depressionssymptomen treten zusätzlich körperliche Beschwerden auf. Personen, welche in den vergangenen 12 Monaten wegen psychischer Beschwerden behandelt wurden, liessen sich zu 41,8 Prozent von einem Psychiater behandeln, zu 38,7 Prozent von Psychologen beziehungsweise nicht ärztlichen Psychotherapeuten, aber auch zu 12,9 Prozent von Allgemeinärzten (3). Es ist jedoch bisher noch nicht gelungen, einen zuverlässigen biologischen Test zu entwickeln, welcher erlaubt, eine «Depression» (Major Depression) zu diagnostizieren oder ihren Verlauf vorherzusagen. Hingegen gibt es im Rahmen der Therapiedurchführung biologische Tests, die zunehmend besser validiert und etabliert sind. So bewähren sich bei einer Pharmakotherapie Plasmaspiegelbestimmungen von psychotropen Pharmaka (therapeutisches Drug-Monitoring, TDM) zur Therapieoptimierung. Ihre Kombination mit pharmakogenetischen Tests sollte zunehmend zur Entwicklung einer personalisierten Therapie führen. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, für welche Tests die Evidenz für ihren Nutzen ausreichend ist, um sie in präzisen Situationen klinisch sinnvoll anzuwenden.
Therapeutisches Drug-Monitoring
Im Rahmen einer Psychopharmakotherapie hat sich das TDM zur Therapieoptimierung gut etabliert. Die entsprechenden Konsensusleitlinien der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) gibt es seit 2004. Diese Empfehlungen der AGNPTDM-Gruppe sind kürzlich in einer stark erweiterten und frei zugänglichen Fassung (siehe Linktipp) wieder neu aufgelegt worden (4), so auch in einer nur leicht gekürzten deutschen Fassung (5). Diese Übersichtsarbeit basiert auf diesen Konsensusleitlinien, die mit ihren 1385 Literaturstellen auch zur ergänzenden Lektüre einladen.
Indikationen und Empfehlungsgrade für das TDM
Prinzipiell sollte TDM nur in Situationen eingesetzt werden, in denen es, wie im Kasten links dargestellt, eine Indikation für die Konzentrationsmessung gibt. Der Nutzen hängt unter
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anderem von der antidepressiven Medikation ab. Der unterschiedliche TDM-Empfehlungsgrad ist auf unterschiedliche pharmakologische Eigenschaften der Medikamente (Beziehung der Blutkonzentrationen zu Wirksamkeit und/oder Toxizität) sowie die Evidenz des Nutzens von TDM für das jeweilige Medikament zurückzuführen (Welche Empfehlung zur Therapieänderung lässt sich aus den Ergebnissen ableiten?). Selbstverständlich besteht bei einer Behandlung mit Lithium die Pflicht, regelmässig Blutbestimmungen durchzuführen; sie geht mit einem hohen Empfehlungsgrad einher, weil durch die Lithiumbestimmung toxische und wirkungslose Behandlungen erkannt und vermieden werden können. Es wurden 4 Empfehlungsgrade definiert: «dringend empfohlen» (Grad 1) (z. B. Lithium), «empfohlen» (Grad 2) (z. B. Amitriptylin, Venlafaxin), «nützlich» (Grad 3) (z. B. Fluoxetin) und «potenziell nützlich» (Grad 4) (z. B. Agomelatin) (siehe Tabelle, nächste Seite) (4).
Therapeutische und dosisbezogene Referenzbereiche
In erster Linie interessiert es den behandelnden Arzt zu erfahren, ob die gemessenen Plasmaspiegel des Antidepressivums und seines eventuellen aktiven Metaboliten innerhalb des «therapeutischen Referenzbereichs» liegen*. Diese Information liefert aber noch keine zufriedenstellende Erklärung für die pharmakokinetische Situation des Medikaments beim Patienten. Eine zweite Frage ist deshalb, ob der Plasmaspiegel des Medikaments in dem Bereich liegt, der bei der verschriebenen Dosis zu erwarten ist. Dieser «dosisbezogene Referenzbereich» (Tabelle) basiert auf Datenerhebungen bei Patienten, welche weder pharmakogenetische Besonderheiten aufwiesen noch Komedikationen erhielten oder an einer somatischen Krankheit litten, die die Pharmakokinetik des Medikaments beeinflussen könnte. Selbstverständlich sollte es sich um Patienten handeln, bei denen man einigermassen zuversichtlich ist, dass sie das Medikament auch regelmässig einnehmen. Der für eine bestimmte Dosis normalerweise zu erwartende Plasmaspiegelbereich kann berechnet werden (siehe Kasten unten). Auf Seite 7 ist ein klinisches Beispiel zum besseren Verständnis aufgeführt.
Berechnung des zu erwartenden Plasmaspiegelbereichs
Zur Ermittlung des zu erwartenden Plasmaspiegelbereichs muss die Tagesdosis mit den DRC-Faktoren (dose related concentration) multipliziert werden (siehe Tabelle). Diese sind aus in der Literatur extrahierten pharmakokinetischen Daten (Clearance, Bioverfügbarkeit und Eliminationshalbwertszeit) zusammengesetzt. Die Tabelle informiert über den Mittelwert («mittel») und die Grenzwerte «niedrig» und «hoch»; sie entsprechen dem Bereich des Mittelwerts ± einer Standardabweichung (SD). Der Bereich enthält 68 Prozent einer Normalverteilung der DRC-Faktoren. Die Mulitplikation derTagesdosis mit dem niedrigen und dem hohen Faktor ergibt die untere beziehungsweise obere Grenze des dosisbezogenen Referenzbereichs.
Einige praktische Hinweise zur optimalen Verwendung von TDM
Üblicherweise wird das Blut zur TDM-Bestimmung kurz vor Einnahme der nächsten Dosis abgenommen (sog. Talspiegel), bei einigen Medikamenten muss aber aufgrund kurzer Halbwertszeiten die Abnahme früher erfolgen (siehe Tabelle). Eine sofortige Plasmaspiegelbestimmung kann aufschlussreich sein bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen oder bei Verdacht auf einen Mangel an Adhärenz auf die Behandlung. Wird eine unregelmässige Einnahme vermutet, ist eine wiederholte Bestimmung sinnvoll. Sonst soll für das TDM allgemein das Erreichen des Fliessgleichgewichts (steady-state) nach einer Zeitspanne von zirka 5 Halbwertszeiten des Medikaments (und seines aktiven Metaboliten) abgewartet werden, denn die therapeutischen Referenzbereiche wurden unter diesen Bedingungen definiert. Für Antidepressiva mit einem hohen TDM-Empfehlungsgrad (siehe Kasten S. 364) kann es sinnvoll sein, schon nach Erreichen des Steady-State eine Bestimmung vorzunehmen, aber auch bei einer Erhöhung der Dosis oder insbesondere bei Vorliegen einer Komedikation, welche mit dem Metabolismus des Antidepressivums interferiert, also gegebenenfalls bereits 1 bis 2 Wochen nach Beginn einer Behandlung. Eine Studie zeigt, dass das TDM von Citalopram bereits eine Woche nach Therapiebeginn Vorteile bietet. ➜ Es empfiehlt sich prinzipiell, das TDM zu begründen und vor der Blutabnahme zu verifizieren, ob mithilfe der Information aus dem TDM die weitere Behandlung verbessert werden kann.
Basiswert kann nützlich sein
Vor allem für das Antipsychotikum Clozapin wurde gezeigt, dass Patienten oft einen «persönlichen» optimalen Spiegel haben (maximale therapeutische Wirkung bei möglichst geringem Auftreten von Nebenwirkungen), bei den Antidepressiva ist die Evidenz mangels Studien weniger ausgeprägt. Die Feststellung eines solchen Basiswerts wird deshalb konsensusmässig als eine der Indikationen für das TDM emfohlen. Gerade bei jahrzehntelangen Therapien ist es nützlich, über einen solchen Wert zu verfügen, welcher Auskunft gibt über den beim individuellen Patienten bei einer bestimmten Dosis gemessenen Plasmaspiegel. Theoretisch kann sich der optimale Plasmaspiegel aufgrund von Alterungsprozessen im Laufe der Jahre ändern. Auch die Kenntnis der «optimalen Dosis» allein ist nicht ausreichend zuverlässig, weil sich bei Interaktionen mit Komedikationen oder Komorbiditäten der Plasmaspiegel ändern kann, trotz gleichbleibender Dosis.
Behandlung von Kindern und Jugendlichen bedarf besonderer Vorsicht
Im Zusammenhang mit TDM von Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen muss zunächst festgestellt werden, dass in der Schweiz praktisch keine neueren Antidepressiva für die Behandlung von Kindern zugelassen sind. Der behandelnde Arzt muss deshalb möglichst alle Vorsichtsmassnahmen ergreifen, um die Behandlung sicher zu gestalten. Zwar mangelt es bei dieser Population an pharmakokinetischen Untersuchungen, und es ist auch nicht sicher, dass alle bei Erwachse-
* Es wird daran erinnert, dass diese Referenzbereiche aus diesbezüglichen Studien abgeleitet worden sind, aber sie sind auch das Ergebnis eines Konsensus innerhalb
der AGNP-TDM-Gruppe. Diese Bereiche könnten deshalb nicht als voll evidenzbasiert betrachtet werden.
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Tabelle: Empfehlungsgrade und Referenzbereiche für therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) von Antidepressiva und Empfehlungsgrade basierend auf Evidenzniveaus für pharmakogenetische Tests gemäss (4). Analoge Angaben für die Erhaltungstherapie weiterer Neuropsychopharmaka können (4) entnommen werden.
Arzneistoff und aktiver Metabolit
Therapeutischer Referenzbereich
Empfehlungsgrad zur DRC-Faktoren* Anwendung von TDM
mittel niedrig hoch
Agomelatin
7–300 ng/ml (1–2 h nach 50 mg p.o.)
4
2,78 1,52 4,04
Amitriptylin
1 0,65 0,46 0,83
Nortriptylin
0,48 0,28 0,68
Amitriptylin plus
80–200 ng/ml
1,12 0,73 1,51
Nortriptylin Bupropion
10–100 ng/ml
2 0,19 0,12 0,27
Hydroxybupropion
850–1500 ng/ml
3,46 1,32 5,60
Citalopram
50–110 ng/ml
1 1,52 1,07 1,96
Clomipramin
1 0,60 0,24 0,96
N-Desmethylclomipramin
Clomipramin plus
230–450 ng/ml
1,11 0,42 1,79 1,71 0,67 2,75
N-Desmethylclomipramin
Desipramin
100–300 ng/ml
2 0,39 0,11 0,66
Doxepin
2 0,39 0,18 0,61
N-Desmethyldoxepin
Doxepin plus
50–150 ng/ml
0,40 0,18 0,61 0,79 0,36 1,22
N-Desmethlydoxepin
Duloxetin
30–120 ng/ml
2 0,43 0,28 0,58
Escitalopram
15–80 ng/ml
2 1,05 0,59 1,51
Fluoxetin N-Desmethylfluoxetin
3 5,14 1,35 8,93 6,04 2,12 9,96
Fluoxetin plus
120–500 ng/ml
11,18 3,47 18,89
N-Desmethylfluoxetin
Fluvoxamin
60–230 ng/ml
2 0,23 0,17 0,29
Imipramin
1
Desipramin
0,37 0,25 0,49 0,73 0,63 0,82
Imipramin plus
175–300 ng/ml
1,10 0,88 1,31
Desipramin
Maprotilin
75–130 ng/ml
2 0,93 0,42 1,45
Mianserin Mirtazapin
15–70 ng/ml 30–80 ng/ml
3 1,03 0,63 1,44 2 2,63 1,82 3,43
Moclobemid
300–1 000 ng/ml
3 0,80 0,48 1,11
Nortriptylin
70–170 ng/ml
1 0,71 0,53 0,88
Paroxetin
20–65 ng/ml
3 0,60 0,37 0,83
Reboxetin Sertralin
60–350 ng/ml 10–150 ng/ml
3 10,8 5,94 15,6 2 0,42 0,26 0,58
Trazodon
700–1 000 ng/ml
2 4,82 3,35 6,29
Trimipramin
150–300 ng/ml
2 0,61 0,43 0,79
Venlafaxin (XR)
2 0,24 0,12 0,36
O-Desmethylvenlafaxin
Venlafaxin plus
100–400 ng/ml
1,04 0,78 1,30 1,28 0,90 1,67
O-Desmethylvenlafaxin
Vortioxetin
10–40 ng/ml
2 1,11 0,94 1,28
FDA-Etikettierung: «nutzbarer Test», bei Evidenzniveau 1A (PharmGKB)**
CYP2D6
CYP2C19 CYP2D6
CYP2D6 CYP2D6, CYP2C19
CYP2D6 CYP2C19
CYP2D6 CYP2D6
CYP2D6
CYP2D6
CYP2D6
Abkürzungen: TDM: therapeutisches Drug-Monitoring; DRC: dose-related concentration; FDA: Food and Drug Administration; PharmGKB: Pharmacogenomics Knowledgebase *DRC (dose related concentration): zur Berechnung von dosisbezogenen Referenzbereichen der Muttersubstanzen, Metaboliten und der aktiven Fraktion. Um den dosisbezogenen Referenzbereich zu berechnen, muss die Dosis mit dem niedrigen und dem hohen Faktor multipliziert werden, was die untere beziehungsweise obere Grenze des dosisbezogenen Referenzbereichs ergibt. **Andere FDA-Annotationen bei hohem PharmGKB-Evidenzniveau (1A, 2A): Amitriptylin-CYP2C19: keine Annotation (1A); Imipramin-CYP2C19: keine Annotation (2A); Mirtazapin-CYP2D6: keine Annotation (2A); Paroxetin-CYP2D6: informativer Test (1A); Trimipramin-CYP2C19 : keine Annotation (2A)
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➜ Bei vielen Indikationen und anderen Fragestellungen ist es von Vorteil, gegebenenfalls mit einem Experten zusammenzuarbeiten. Dabei ist es wichtig, das Anforderungsformular sorgfältig auszufüllen, damit der Experte im klinisch-chemischen Labor und/oder der klinische Pharmakologe über möglichst viele Informationen verfügt, um die Ergebnisse zu kommentieren. Eine blosse Mitteilung von «Zahlen» (Konzentrationen) ist meist ungenügend.
ADME
A = 1. Absorbtion
D = 2. Distribution
M = 3. Metabolismus
E = 4. Elimination
Abbildung: Schicksal des Medikaments im menschlichen Organismus.
nen erhobenen Referenzbereiche hier gültig sind. Bisherige Untersuchungen mit einigen Antidepressiva sind jedoch ermutigend. Ein deutsch-schweizerisches-österreichisches Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, das TDM für Kinder und Adoleszenten weiterzuentwickeln (6).
Augenmerk auch auf Ältere und Schwangere
Bei älteren Patienten haben sich bestimmte Empfehlungen wie die Beers-, die Priscus- und die Start-Stopp-Kriterien eingebürgert, wonach die Verschreibung von gewissen Medikamenten bei Patienten in dieser Alterskategorie möglichst vermieden werden soll, wie kürzlich wieder sehr detailreich dargestellt wurde (7). Besonders im Fokus stehen Wirkstoffe, die anticholinerge Mechanismen aufweisen, so auch trizyklische Antidepressiva. Indes kann hier das TDM hilfreich sein, um die Dosis optimal anzupassen, zumal diese Patienten an Komorbiditäten leiden und deshalb auch Komedikationen benötigen, welche pharmakodynamisch und pharmakokinetisch mit dem Antidepressivum interagieren (4). In der Schwangerschaft erfährt der weibliche Organismus viele Änderungen, welche einen Einfluss auf die Pharmakokinetik von Medikamenten haben können. So ist ein TDM unter anderem vor allem für Lamotrigin äusserst wichtig, das ja nicht nur für die Epilepsie, sondern auch für bipolare Depressionen zugelassen ist (8).
Pharmakogenetische Tests
Im Rahmen einer Pharmakotherapie wird zwischen einer pharmakokinetischen und einer pharmakodynamischen Phase unterschieden. In Bezug auf Letztere erweist sich eine Untersuchung von Genen, die für die Rezeptoren oder Neurotransmittertransportproteine kodieren und für die pharmakologische Wirkung von Antidepressiva verantwortlich sind, noch nicht als sinnvoll. Hingegen ist eine HLA-A*31:01- oder HLA-B*15:02-Genotypisierung vor einer Carbamazepinbehandlung je nach ethnischem Hintergrund sehr empfohlen, da die Wahrscheinlichkeit eines Auftretens von schwerwiegenden dermatologischen Nebenwirkungen bis hin zum Stevens-Johnson-Syndrom vom Genotyp abhängt (siehe Fachinformation unter www.swissmedicinfo.ch). Der folgende Text ergänzt frühere Empfehlungen zur Anwendung von pharmakogenetischen Tests in der Psychiatrie (9). Pharmakogenetische Tests im Rahmen der pharmakokinetischen Phase sind unter bestimmten Bedingungen empfehlenswert. Das Schicksal eines Antidepressivums im menschlichen Organismus wird neben Umweltfaktoren (Rauchen, Nahrung, Komedikationen …) und persönlichen Faktoren (Geschlecht, Alter, Nierenfunktion …) auch von genetischen Faktoren geprägt. All diese Faktoren spielen eine Rolle bei den vier Etappen, die ein Medikament im Organismus durchläuft: Absorption, Distribution (Verteilung), Metabolismus und Elimination (ADME) (siehe Abbildung). Der Zugang von psychotropen Pharmaka an den Wirkungsort im Zentralnervensystem und ihre Elimination aus dem Organismus werden von Transportmolekülen und Abbauenzymen reguliert, für welche genetische Polymorphismen beschrieben wurden. Zu den wichtigsten Enzymen, die in einer Phase-1-Reaktion die meisten psychotropen Medikamente metabolisieren, gehören Enzyme der Cytochrom-P450-Familie, nämlich CYP1A2, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A4. Es sind vor allem die genetischen Polymorphismen von CYP2D6 und CYP2C19, die für die Psychopharmakotherapie der Depression eine klinische Bedeutung haben, während bei CYP1A2 und CYP3A4 vor allem nicht genetische Faktoren die Enzymaktivität bestimmen.
Rolle der genetischen Polymorphismen
Seit ungefähr 10 Jahren wird diskutiert, ob die genetischen Polymorphismen des Arzneistofftransporters P-Glykoprotein ebenfalls für den therapeutischen Erfolg einer antidepressiven pharmakologischen Behandlung wichtig sind. Das ABCB1Gen (ATP binding cassette) kodiert für das P-Glykoprotein, das dafür sorgt, dass nach dem Transport von verschiedenen psychotropen Pharmaka vom Darm ins Blut und vom Blut ins Hirn durch die Blut-Hirn-Schranke ein Rücktransport erfolgt, um den Organismus vor solchen Fremdstoffen zu schützen (siehe Abbildung). Die Ergebnisse einer ersten klinischen
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Studie (10) wiesen darauf hin, dass die klinische Response von depressiven Patienten auf eine Behandlung mit gewissen antidepressiven P-Glykoprotein-Substraten wie Citalopram von ihrem genetischen Status abhängt, indem Responder und Nonresponder sich in ihrem ABCB1-Genotyp unterschieden. Der pharmakogenetische Status spielte keine Rolle bezüglich Therapieerfolg bei Patienten, die mit dem Nichtsubstrat Mirtazapin behandelt worden waren. Tatsächlich wurde bei mit Citalopram behandelten Mäusen festgestellt, dass bei solchen, die kein ABCB1-Protein hatten (knock-out), die Konzentration von Citalopram im Gehirn viel höher war als bei denjenigen, die den «wild type»-Genotyp aufwiesen (10). Die klinischen Studien wurden bisher ungenügend bestätigt, und es gibt auch keine Studien über den Transport von Antidepressiva ins Hirn bei Menschen unterschiedlichen Genotyps. Selbst Autoren, die massgeblich an den Studien mitgewirkt haben, beurteilen die Studienlage als ungenügend, um den ABCB1-Test bei allen depressiven Patienten sozusagen routinemässig zu empfehlen (11). Zwillingsstudien haben schon vor über 50 Jahren die ersten Hinweise dafür geliefert, dass der Metabolismus von trizyklischen Antidepressiva genetisch determiniert ist. Später wurde gezeigt, dass zwei wichtige, für ihren Metabolismus verantwortliche Cytochrom-P450-Enzyme einen genetischen Polymorphismus aufweisen, nämlich CYP2D6 und CYP2C19.
Linktipps
Konsensusleitlinien zur Anwendung von TDM der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP)
In der Universität Stanford, USA, beherbergte pharmakogenetische Datenbank PharmGKB (The Pharmacogenomics Knowledgebase)
Empfehlungen der Dutch Pharmacogenetics Working group (DPWG)
Empfehlungen des Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium (CPIC) zu pharmakogenetischen Tests
Empfehlungen der US-Regierung zu pharmakogenetischen Tests
Da anfangs die für eine Genotypisierung notwendigen Methoden noch nicht zur Verfügung standen, wurden vorerst nur Phänotypisierungen vorgenommen: Patienten erhalten eine Dosis einer Testsubstanz, beispielsweise Dextromethorphan, ein Substrat von CYP2D6. Im Urin oder Blut werden die Muttersubstanz und ihr Metabolit Dextrorphan bestimmt. Das Verhältnis der Konzentrationen von Muttersubstanz zu Metabolit erlaubt die Aufteilung der Patienten in eine Gruppe, die sich aus normalen, intermediären und ultraschnellen Metabolisierern (EM, IM resp. UM; extensive, intermediate resp. ultrarapid metaboliser) zusammensetzt, und in eine Gruppe von defizienten Metabolisierern (PM; poor metaboliser), die kein funktionsfähiges CYP2D6 besitzen. Die Phänotypisierung ist auch heute noch wertvoll, vor allem bei Enzymen wie CYP1A2 und CYP3A4, bei denen vor allem Umwelt- und Ernährungsfaktoren die Enzymaktivitäten bestimmen. CYP2D6-Phänotypisierungen sind jedoch empfindlich auf Komedikationen, welche dieses Enzym hemmen, indem sie den EM-Phänotyp in einen PM-Phänotyp umwandeln können (Phänokonversion). Die Genotypiserung ist heute vor allem für CYP2D6 und CYP2C19 üblich. Vereinfachend zusammengefasst, sind bei einem EM zwei aktive Allele präsent, bei einem genetischen PM liegt kein aktives Allel vor. Bei einem UM sind es entweder zwei sehr aktive Allele, oder es besteht eine Genmultiplikation (mit beispielsweise drei aktiven Allelen), was zu einem sehr aktiven Enzymprotein führt und deshalb einen ultraschnellen Metabolismus als Konsequenz hat (12). Es können aber nicht alle UM mittels einer Genotypisierung erfasst werden.
Bedeutung von Empfehlungen für pharmakogenetische Tests
Heute werden dem behandelnden Arzt zahlreiche genetische Tests von Laboratorien angeboten. Es besteht jedoch die Gefahr, dass viele und zudem kostspielige Tests ihr Versprechen nicht erfüllen, weil für viele die wissenschaftliche Evidenz für ihren Nutzen mangelhaft ist (13). So ist es notwendig und glücklicherweise der Fall, dass unabhängige Organisationen die bestehende Literatur analysieren, die Evidenz beurteilen und daraus Empfehlungen ableiten. Es handelt sich beispielsweise um das Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium (CPIC) und die von der Universität Stanford beherbergte PharmGKB (The Pharmacogenomics Knowledgebase), aber auch um die Dutch Pharmacogenetics Working Group (DPWG) (Empfehlungen siehe Linktipps). Diese Organisationen veröffentlichen regelmässig Leitlinien für die klinische Anwendung von pharmakogenetischen Tests auf der Basis veröffentlichter und valider Studien. Eine kürzlich durchgeführte Vergleichsstudie zeigt, dass sie im Grossen und Ganzen ähnliche, das heisst nicht widersprüchliche Empfehlungen veröffentlichen (14). Unter den von der PharmGKB definierten vier Evidenzniveaus sind die beiden folgenden hervorzuheben, die einerseits die beste Evidenz (Niveau 1A) und andererseits einen möglichen Hinweis auf eine noch zu untersuchende mögliche Evidenz (Niveau 3) beschreiben (15): Niveau 1A: Medikament-Gen-Paare, für welche eine Leitlinie des CPIC oder einer auf Pharmakogenomik spezialisierten medizinischen Gesellschaft existiert oder für welche der entsprechende pharmakogenetische Test in einer Institution des
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Pharmacogenomics Research Network (PGRN) oder in einem anderen bedeutenden Gesundheitssystem implementiert ist. Niveau 3: Medikament-Gen-Paare, bei denen eine einzelne, signifikante Assoziationsstudie noch nicht repliziert wurde, oder in mehreren Studien evaluierte Medikament-Gen-Paare, für die eine klare Evidenz für eine Assoziation fehlt. In den von Swissmedic veröffentlichten Arzneimittelinformationen gibt es kaum Empfehlungen für pharmakogenetische Tests im Zusammenhang mit der Behandlung mit Medikamenten. Hingegen annotiert die PharmGKB Label von Medikamenten, die von der US Food and Drug Administration (FDA), der European Medicines Agency (EMA), der Pharmaceuticals and Medical Devices Agency (PMDA), Japan, und der Health Canada (Santé Canada) (HCSC) anerkannt sind (siehe Linktipps). Eine im Jahr 2017 von der FDA veröffentlichte Liste enthielt 26 Biomarker, die nur die Psychiatrie betreffen. Auch hier gibt es verschiedene Niveaus, und zwar handelt es sich um sogenannte Annotationen, die etwas über den klinischen Wert des pharmakogenetischenTests aussagen: 1. Obligatorische Genotypisierung 2. Empfohlene Genotypisierung 3. Nutzbare Genotypisierung 4. Informative Genotypisierung. Im Zusammenhang mit Antidepressiva gibt es als höchste Bewertung nur «Nutzbare Genotypisierung» (siehe Tabelle), mit folgender Erläuterung: «Die Arzneimittelinformation erwähnt nicht direkt genetische Tests oder die Untersuchungen von Gen-, Protein- oder Chromosomen-Varianten, aber sie enthält Informationen über Unterschiede in Wirksamkeit, Dosierung oder Toxizität im Zusammenhang mit solchen Varianten. Dies kann auch Kontraindikationen für das Medikament in einer Untergruppe von Patienten beinhalten, wobei aber ein Test in der Arzneimittelinformation nicht explizit verlangt oder empfohlen wird.» Für «Informative Genotypisierung» lautet die Präzisierung: «Die Arzneimittelinformation erwähnt die Implikation eines Gens oder des entsprechenden Proteins in der Pharmakokinetik oder Pharmakodynamik des Medikamentes, aber es liegt keine Information vor, welche die Schlussfolgerung erlaubt, dass Varianten dieser Gene/Proteine zu einem unterschiedlichen klinischen Behandlungsergebnis (Wirkung, Nebenwirkung) führen.» In der Tabelle sind Antidepressiva mit den Empfehlungen für pharmakogenetische Tests gelistet, Folgendes wird festgestellt: 1. Für kein Antidepressivum gibt es eine FDA-Etikettierung
(«Annotation») «Obligatorischer Test» oder «Empfohlener Test», und nur für 12 Antidepressiva gibt es die Etikettierung «Nutzbarer Test», wenn zugleich von PharmaGKB ein Evidenzniveau 1A angegeben wird. 2. Es ist auffallend, dass nur CYP2D6- und CYP2C19-Genotypisierungen genannt werden. 3. In Bezug auf eine ABCB1-Genotypisierung: Für kein einziges Medikament gibt es eine FDA-Etikettierung, und 3 ist das höchste Evidenzniveau, das von PharmGKB angegeben wird.
TDM mit pharmakogenetischen Tests kombinieren: eine Fallstudie
Nach diesem theoretischen Teil soll im Folgenden eine mögliche Anwendung von TDM in Kombination mit pharmakogenetischen Tests als Illustration dienen (s. Kasuistik rechts).
Kasuistik
Schwer einstellbarer 62-jähriger Patient mit Depression
Bei einem 62-jährigen depressiven Patienten schlugen während 10 Jahren alle möglichen Therapieversuche mit Antidepressiva fehl (16). Anlässlich einer Hospitalisierung wurden bei einer Behandlung mit Clomipramin 225 mg/Tag die folgenden Plasmaspiegel gemessen: Clomipramin: 58 ng/ml; Desmethylclomipramin: 87 ng/ml; Summe der beiden aktiven Komponenten: 145 ng/ml. Sie liegt weit unter dem heute geltenden therapeutischen Plasmaspiegelbereich: 230 bis 450 ng/ml (siehe Tabelle). Es stellt sich dann die Frage, ob die gemessenen Plasmaspiegel denen entsprechen, die bei einer bestimmten Dosis zu erwarten sind. Hierzu wird die Tagesdosis mit den Faktoren multipliziert, welche die untere respektive obere Schwelle der zu erwartenden Konzentrationen zu berechnen erlauben (siehe Tabelle ): Clomipramin: 225 × 0,24 = 54 ng/ml respektive 225 × 0,96 = 216 ng/ml; Desmethylclomipramin: 95 ng/ml respektive 403 ng/ml; aktive Fraktion: 151 ng/ml respektive 619 ng/ml. Auch hier zeigt sich, dass die gemessenen Konzentrationen knapp unterhalb des dosisbezogenen Referenzbereichs liegen.
Clomipramin wie auch sein pharmakologisch aktiver Metabolit Desmethylclomipramin werden durch CYP2D6 hydroxyliert. Beide Verbindungen werden auch N-demethyliert, und es ist bekannt, dass CYP2C19, CYP2D6, CYP1A2 und auch in gewissem Masse CYP3A4 Clomipramin zu Desmethylclomipramin demethylieren. Bei diesem Patienten wurde aufgrund der gemessenen Medikamentenplasmaspiegel vermutet, dass es sich um einen sehr schnellen Metabolisierer handelt. Tatsächlich ergab eine Phänotypisierung mit Dextromethorphan und Mephenytoin (einer Markersubstanz für CYP2C19), dass der Patient ein schneller Metabolisierer von CYP2D6- und CYP2C19-Substraten ist (16). Eine erste Genotypisierung von CYP2D6 erlaubt einerseits nur auszuschliessen, dass beim Patienten eine genetische Defizienz dieses Enzyms vorliegt. Andererseits erlaubt die Phänotypisierung mit Dextromethorphan nicht zuverlässig, zwischen schnellen und ultraschnellen Metabolisierern zu unterscheiden. Erst später, als die entsprechende molekulargenetische Technik zur Verfügung stand, wurde bei diesem Patienten eine Genmultiplikation von CYP2D6 festgestellt, die damit den ultraschnellen Metabolismus von Clomipramin erklärt (17).
Die Tabelle zeigt, dass Clomipramin zu den Antidepressvia gehört, für welche die FDA eine Annotation «Nutzbarer Test» bei einem Evidenzniveau 1A (PharmGKB) angibt. Weitere Hinweise für einen schnellen Metabolismus bei diesem Patienten waren sein Status als Raucher (Induktion von CYP1A2), aber auch die extrem niedrigen Plasmaspiegel von Trimipramin (auch ein Substrat von CYP2D6), womit der Patient vorher erfolglos behandelt worden war. Leider konnte mit den damals noch nicht zur Verfügung stehenden Genotypisierungsmethoden nicht geprüft werden, ob der Patient auch ein ultraschneller Metabolisierer von CYP2C19-Substraten ist.
Jedenfalls bewirkte erst eine Komedikation mit Fluvoxamin 100 mg/Tag eine spektakulär rasche klinische Besserung, einhergehend mit einem vierfachen Anstieg der Clomipramin- und einer Halbierung der Desmethylclomipraminspiegel als Folge der Hemmung von CYP1A2, CYP3A4, CYP2D6 und CYP2C19 durch Fluvoxamin (16). In Fachkreisen wird hier von einer Phänokonversion gesprochen, indem durch eine pharmakokinetische Interaktion der Patient von einem ultraschnellen in einen defizienten Metabolisiererstatus gebracht wurde. Eine ähnliche Fallbeschreibung bestätigt die hier beschriebenen Befunde (18).
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ZERTIFIZIERTE FORTBILDUNG
Oft handelt es sich um komplexe Situationen, in denen mehrere Enzyme für den Metabolismus von Psychopharmaka verantwortlich sein können, und zwar für verschiedene Abbauwege. Das TDM erlaubt in einem ersten Schritt, etwas über die allgemeine Verfügbarkeit des Medikaments im Organismus zu erfahren. Eine gezielte Genotypisierung gibt präzise Hinweise, welche Abbauwege beim betroffenen Patienten genetische Besonderheiten aufweisen, und es kann somit eine Behandlungsstrategie entwickelt werden. Da das Ergebnis der Genotypisierung lebenslang Gültigkeit hat, hätte eine frühere Genotypisierung, beispielsweise bereits bei der Behandlung mit dem CYP2D6-Substrat Trimipramin, die Voraussage erlaubt, dass eine Monotherapie mit Clomipramin auch wenig Chancen auf Erfolg verspricht (16). Es wurde in dieser Situation eine Kombinationstherapie eingesetzt. Ausserdem wäre eine Therapie mit einem Antidepressivum möglich gewesen, dessen Metabolismus weniger von CYP2D6 (und CYP1A2) abhängig gewesen wäre. Eine mögliche Alternative wäre beispielsweise Trazodon gewesen. In den Fallbeispielen wird auch deutlich, dass die eine Methode der Therapieindividualisierung nicht die andere ersetzt, sie aber sinnvoll ergänzen kann und dem Patienten dadurch erfolglose Therapieversuche erspart werden können. Abschliessend ist zu empfehlen, bei solchen Kombinationstherapien auf jeden Fall Plasmaspiegelmessungen der beteiligten Medikamente aus Sicherheitsgründen vorzunehmen, auch wenn der Genotyp bekannt ist. Als Zwischenbemerkung sei hier erwähnt, dass es im Allgemeinen nicht möglich ist, mithilfe von Medikamentenplasmaspiegeln festzustellen, ob bei einem Patienten eine genetische Defizienz von P-Glykoprotein vorliegt.
Hinweise zum Einsatz von pharmakogenetischen Tests bei der Therapie mit Antidepressiva
1. Bei einer Pharmakotherapie erweist sich gemäss FDA eine Genotypisierung von CYP2D6 und CYP2C19 für eine begrenzte Anzahl von Antidepressiva als «nutzbar», wobei die Evidenz hoch ist (PharmGKB).
2. Der Empfehlungsgrad «sehr empfohlen» (obligatorisch) oder «empfohlen» wird für keine Genotypisierung erreicht.
3. Gemäss FDA und pharmakogenetischer Konsensus-Konsortien wird bei keinem Antidepressivum eine Genotypisierung von ABCB1 (P-Glykoprotein) empfohlen.
4. Grundsätzlich soll die Entscheidung für eine Genotypisierung oder eine Phänotypisierung von Cytochrom-P450-Enzymen nur aufgrund von Ergebnissen von Plasmaspiegelbestimmungen (TDM) der Antidepressiva getroffen werden.
5. Es ist nicht sinnvoll, Genotypisierungen oder Phänotypisierungen vorzunehmen, wenn das betroffene Antidepressivum kein Substrat des zu testenden Enzyms oder Transportproteins ist.
6. In Anbetracht der Komplexität der Kombination TDM/Pharmakogenetik ist eine Zusammenarbeit zwischen dem behandelnden Arzt, dem klinischen Pharmakologen und gegebenenfalls einem Laborspezialisten empfehlenswert.
7. Die Zusammenarbeit zwischen dem behandelnden Arzt und dem klinischen Pharmakologen ist notwendig und in der Analysenliste vorgeschrieben, um dem Patienten eine Rückvergütung der Genotypisierungskosten durch die Grundversicherung zu ermöglichen.
Verordnung und Rückvergütung von pharmakogenetischen Tests
Im Folgenden ein paar Hinweise zu pharmakogenetischen Tests in Bezug auf Cytochrom-P450-Enzyme. Zur Rückvergütung der Kosten von pharmakogenetischen Tests durch die Grundversicherung an den Patienten trat am 1. Januar 2017 eine Änderung einer Verordnung auf Bundesebene in Kraft (der Analysenliste), wonach die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten für gewisse pharmakogenetische Tests zu übernehmen hat, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Zurzeit können nur fünf Tests von allen Ärzten unabhängig von ihrem Facharzttitel krankenkassenpflichtig verschrieben werden, wobei einer ein in der Neuropsychiatrie verschriebenes Medikament direkt betrifft. Es handelt sich, wie bereits oben erwähnt, um die Medikament-Gen-Paare Carbamazepin-HLA-A*31:01 beziehungsweise -HLA-B*15:02, je nach ethnischer Herkunft des Patienten. Im Fall einer zukünftigen Anerkennung der Erstattungsfähigkeit von pharmakogenetischen Tests zulasten der obligatorischen Krankenversicherung muss berücksichtigt werden, dass es sich immer um Medikament-Gen-Paare handelt. Eine Genotypisierung «auf Vorrat» ist damit nicht erstattungsfähig, sondern es muss ein konkretes medizinisches Problem mit einem Medikament vorliegen, das durch die pharmakogenetische Untersuchung besser gelöst werden könnte. Die Liste dieser Tests wird von der Schweizerischen Gesellschaft für Klinische Pharmakologie und Toxikologie (SGKPT), zu welcher die Sektion Swiss Group of Pharmacogenomics and Personalized Therapy (SPT) gehört, jährlich aktualisiert. Um für Tests, die Medikament-Gen-Paare betreffen, die nicht auf der Liste erwähnt werden, eine Rückvergütung durch die Krankenkassen zu erwirken, muss der Test von einem Arzt mit eidgenössischem Weiterbildungstitel in klinischer Pharmakologie und Toxikologie verordnet werden. Damit soll die fachgerechte Verschreibung von pharmakogenetischen Tests gefördert werden, um so die Gesundheitkosten tief zu halten. Anders ist die Vergütungssituation bei TDM-Laboruntersuchungen: Diese können vom verschreibenden Arzt direkt angeordnet werden und werden von der Krankenkasse rückerstattet.
TDM und pharmakogenetische Tests nicht nur bei Depression nützlich
Diese Darstellung bezieht sich zwar speziell auf die Psychopharmakotherapie der Depression, lässt sich aber auch auf andere Situationen ausweiten, in denen TDM und pharmakogenetische Tests bei einer Pharmakotherapie im Bereich Allgemeinmedizin und Innere Medizin nützlich sein könnten. Beispielsweise hält die FDA fest, dass bei einer Behandlung mit Tramadol der Status eines ultraschnellen Metabolisierers (CYP2D6) als Folge einer tiefen Atemdepression lebensgefährlich sein kann. Im ersten Moment ist es überraschend, aber bei Tramadol handelt es sich um ein sogenanntes Prodrug, das selbst eine geringe pharmakologische Aktivität aufweist, aber in aktive Metabolite umgewandelt wird. Auch hier wird TDM («Nutzbarer Test», Evidenz 1A) empfohlen. Im Kasten links einige Hinweise, um TDM und pharmakogenetische Tests in der Therapie mit Antidepressiva möglichst sinnvoll anzuwenden.
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ZERTIFIZIERTEFFOORRTTBBIILLDUNG
Zusammenarbeit mit der klinischen Pharmakologie
Es ist einleuchtend, dass für eine optimale Anwendung von TDM die Zusammenarbeit zwischen dem behandelnden Arzt, dem Labor und einer in Pharmakokinetik und -genetik spezialisierten Fachperson notwendig ist. In der Neuropsychiatrie behandeln Psychiater und Allgemeinärzte den Patienten oft gemeinsam. Aufgrund seiner Ausbildung und häufig vorhandenen Laborausrüstung ist es letztlich der Allgemeinmediziner, der für die Frage von TDM und pharmakogenetischen Tests in erster Linie die Initiative übernehmen könnte – in Absprache mit dem behandelnden Psychiater/Psychotherapeuten. Die aktuelle Debatte zeigt aber auch, dass es eher an unabhängigen Experten im Bereich TDM und Pharmakogenetik in der Psychiatrie mangelt. So gibt es beispielsweise in vielen Kantonen keinen klinischen Pharmakologen. Es ist deshalb notwendig, entsprechende Strukturen besser bekannt zu machen, um die genannte Zusammenarbeit zu fördern.
Ansprechpartner in der Schweiz
Abteilungen oder Kliniken für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, die Medikamenteninformationsdienste betreiben und für pharmakogenetische Fragen kontaktiert werden können, sind an allen schweizerischen Universitätsspitälern vorhanden (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich) sowie am Ospedale Civico in Lugano. Ein TDM von Antidepressiva wird von allen klinisch-chemischen Laboratorien der Universitätsspitäler, der grossen Kantonsspitäler sowie von den meisten privaten medizinischen Laboratorien angeboten. s
MERKSÄTZE
� Die Plasmaspiegelbestimmung von Psychopharmaka (therapeutisches Drug-Monitoring, TDM) ist ein wertvolles Werkzeug zur Optimierung der Psychopharmakotherapie.
� Das sorgfältige Ausfüllen des Anforderungsformulars ist Bedingung, um Experten vom Labor und der klinischen Pharmakologie eine bestmögliche und sehr empfehlenswerte Kommentierung der Ergebnisse zu ermöglichen.
� Die Entscheidung für eine Geno- oder Phänotypisierung von Cytochrom-P450-Enzymen soll nur aufgrund von Plasmaspiegelbestimmungen (TDM) der Antidepressiva getroffen werden.
� Damit eine Rückvergütung der Genotypisierungskosten durch die Grundversicherung möglich ist, ist in der Analysenliste vorgeschrieben, dass der behandelnde Arzt mit einem klinischen Pharmakologen zusammenarbeitet.
Korrespondenz: Prof. hon. Pierre Baumann, Dr. rer. nat. Département de Psychiatrie (DP-CHUV) Université de Lausanne 1008 Prilly-Lausanne E-Mail: pierre.baumann@chuv.ch
PD Dr med. Alexander Jetter Klinik für Klinische Pharmakologie und Toxikologie Universitätsspital Zürich Universität Zürich 8091 Zürich E-Mail: alexander.jetter@usz.ch
Interessenlage: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.
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