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Epileptischer Anfall, Epilepsie und Syndrome
Was Hausärzte zur neuen Epilepsieklassifikation wissen müssen
Die Therapie eines Patienten mit einer Epilepsie ist differenzierter und umfassender geworden, und sie geht weit über die Verordnung von Antiepileptika hinaus. Die Klassifikation von epileptischen Anfällen und Epilepsien ist wichtig, um den Patienten so gezielt wie möglich zu behandeln. Den Hausärzten kommt dabei eine wichtige Rolle zu, sowohl für die exakte Beobachtung und Beschreibung der Anfälle als auch für die Evaluation von Komorbidität und potenziell ätiologischen Faktoren.
Thomas Dorn
Die Klassifikation pathologischer Phänomene ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung und die Anwendung effizienter Verfahren in Diagnostik und Therapie. Sie ermöglicht die in Praxis und Wissenschaft notwendige Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren in der Medizin. Im Folgenden werden, ausgehend von den Definitionen für epileptische Anfälle und Epilepsien, die seit 2017 gültigen Klassifikationssysteme der International League Against Epilepsy (ILAE) dargestellt und ihre Relevanz für den klinischen Alltag in der Hausarztpraxis beleuchtet.
Was ist ein epileptischer Anfall ...
Unter einem epileptischen Anfall versteht man eine vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns. Es kommt zu einer abnormen Synchronisierung der neuronalen Aktivität in neokortikalen, thalamokortikalen sowie limbischen Netzwerken und auch in Hirnstammnetzwerken. In Abhängigkeit von Lokalisation und Ausdehnung der Funktionsstörung führt das zu unterschiedlichen Symptomen. Diese Symptome und
MERKSÄTZE
� Die Klassifikation von Anfällen und Epilepsien soll durch einen Neurologen/Epileptologen erfolgen. Dieser ist dabei auf Informationen angewiesen, wie sie am besten zeitnah nach ihrem Auftreten in der Hausarztpraxis oder beim Notfalleinsatz gewonnen werden können.
� Das Wissen um die Existenz und die Zielsetzung der Klassifikation ist für die Hausarztpraxis relevant, weil es dazu beiträgt, dass Beobachtungen gut strukturiert, die richtigen Fragen gestellt und die relevanten Informationen weitergegeben werden können.
� Diese Informationen sollten in eigenen, umgangs sprachlichen Worten weitergegeben werden.
ihre zeitliche Abfolge, das heisst die Semiologie eines epileptischen Anfalls, geben uns somit Auskunft über den Ort der Entstehung der Anfälle und die zu Beginn beziehungsweise im weiteren Verlauf involvierten Hirnstrukturen. Die Ätiologie epileptischer Anfälle ist sehr unterschiedlich. Die Semiologie der Anfälle weist nur in sehr seltenen Fällen auf die genaue Ursache hin. Ein epileptischer Anfall kann als provozierter Anfall in einem vollkommen gesunden Gehirn zum Beispiel durch einen toxischen Einfluss oder einmalig auch im Rahmen einer akuten Hirnerkrankung oder -schädigung auftreten. Hier spricht man (noch) nicht von einer Epilepsie.
... und was eine Epilepsie?
Als Epilepsie bezeichnet man die pathologische Bereitschaft des Gehirns, unter normalen Bedingungen epileptische Anfälle zu generieren. Eine Epilepsie kann somit durch zahlreiche verschiedene, genetisch verursachte oder erworbene Hirnveränderungen beziehungsweise Hirnerkrankungen bedingt sein. Neben epileptischen Anfällen können dabei andere neurologische (z. B. eine Parese), neuropsychologische (z. B. Gedächtnisstörungen) oder auch psychiatrische Symptome (z. B. eine depressive Verstimmung) auftreten. Gemäss der früheren Definition wurden für die Diagnose einer Epilepsie mindestens zwei unprovozierte epileptische Anfälle im Abstand von mindestens 24 Stunden gefordert. In der aktuellen Definition der ILAE sind es das Auftreten mindestens eines, nicht zwingend unprovozierten Anfalls, einer dauerhaften Veränderung im Gehirn, welche die Anfallswahrscheinlichkeit erhöht (z. B. ein Anfall mehr als zwei Wochen nach einem Hirninfarkt), und eventuell assoziierte neurobiologische, kognitive, psychologische und soziale Störungen (1).
Klassifikation der Anfallsformen
Die Klassifikation der epileptischen Anfallsformen wurde in einer umfangreichen, inzwischen ins Deutsche übersetzten Veröffentlichung vorgestellt (2), die durch eine ebenfalls bereits übersetzte Anleitung ergänzt wurde (3). Bei der Klassi-
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Tabelle
Parameter zur Klassifikation der Anfallsformen*
Parameter Erleben Motorisch
Nicht motorisch
Sonstiges
Fokaler Beginn
bewusst/nicht bewusst
Automatismus atonisch klonisch epileptische Spasmen hyperkinetisch myoklonisch tonisch
autonom Innehalten kognitiv emotional sensibel/sensorisch
Übergang von fokal zu bilateral tonischklonisch
Generalisierter Beginn
–
tonisch-klonisch klonisch tonisch myoklonisch myoklonisch-tonischklonisch atonisch epileptische Spasmen
(= Absence): typisch atypisch myoklonisch Lidmyoklonien
–
Unbekannter Beginn
–
tonisch-klonisch epileptische Spasmen
Nicht klassifiziert
mangelhafte Informationen
Innehalten –
*nach (2) Die genannten Begriffe werden in diesem Artikel nicht näher erläutert; für ausführliche Erklärungen wird auf Fisher et al., 2018 (2), verwiesen.
fikation von Anfällen spielt in erster Linie die durch direkte Beobachtung beziehungsweise in Eigen- und Fremdanamnese erschliessbare Semiologie der Anfälle eine Rolle. Sie kommt allerdings – wie ihre Vorgängerin auch – nicht ganz ohne zusätzliche Informationen aus dem EEG aus, wie weiter unten noch erläutert wird. Die gesamte Klassifikation der Anfälle ist in der Tabelle wiedergegeben.
Fokale, generalisierte und nicht klassifizierte Anfälle Es geht dabei zunächst um die für die Therapie bedeutsame Unterscheidung von Anfällen mit fokalem Beginn, das heisst einem Beginn in einem umschriebenen Areal im Bereich einer Hirnhemisphäre, und solchen mit generalisiertem Beginn, bei denen von Anfang an beide Hirnhälften in das Anfallsgeschehen einbezogen sind. Nun gibt es Anfälle, die auch bei Anfallsbeobachtung im Video-EEG weder der einen noch der anderen Kategorie zugeordnet werden können, wofür in der aktuellen Klassifikation neu der Begriff «unbekannter Beginn» eingeführt wurde. In der alten Klassifikation wurden diese als «nicht klassifiziert» bezeichnet. Dieser Begriff ist in der aktuellen Klassifikation nur für die Anfälle reserviert, zu denen dem Arzt nicht genug Informationen vorliegen, um sie zu klassifizieren. Diese Herangehensweise ist neu und sehr vernünftig. Oft liegen in der Tat nicht genügend Informationen zu der Semiologie eines Anfalls vor. Bevor dann – wie es oft in Arztbriefen der Fall ist – irgendwelche Fachbegriffe verwendet werden, die nicht zutreffen, ist es besser, das fehlende Wissen auch als solches zu kennzeichnen und eine genauere Abklärung anzustreben. Diese umfasst ein Video-EEG-Monitoring, bei dem Patienten während und nach Anfällen befragt werden können und bei dem
sich dann vielleicht sogar herausstellt, dass gar keine epileptischen, sondern dissoziative Anfälle oder Synkopen vorliegen.
Fokale Anfälle Bei der weiteren Klassifikation der Anfälle mit fokalem Beginn ist vor allem die Unterscheidung in solche mit bewusstem und solchen mit nicht bewusstem Erleben von Bedeutung. Diese Begriffe ersetzten die früheren Begriffe «einfach-fokal» (= «einfach-partiell») beziehungsweise «komplex-fokal» (= «komplex-partiell»), die nicht ohne Weiteres verständlich und immer umstritten waren. In der Praxis dürfte die Unterscheidung dieser beiden Anfallsformen trotz der neuen Begriffe schwierig sein, da es ohne eine gezielte Befragung des Patienten und seines Umfelds nicht immer möglich ist, die Bewusstseinslage eines Patienten zu beurteilen. So kann es sein, dass ein Patient, der während eines Anfalls nicht ansprechbar wirkt und Automatismen zeigt, sich danach dennoch genau an Ereignisse während des Anfalls erinnert, zum Beispiel an das Hinzukommen einer Person oder daran, welche Worte ihm zugerufen wurden. Unabhängig von der Dichotomie bewusst/nicht bewusst, bietet das neue Klassifikationssystem noch andere Begriffe an, um fokale Anfälle genauer zu charakterisieren. So wird auch unterschieden zwischen Anfällen mit motorischem Beginn und solchen mit nicht motorischem Beginn. In beiden Kategorien können die auftretenden Phänomene noch genauer weiter klassifiziert werden. Allerdings hängt das von der Beobachtungsgenauigkeit ab, die ausserhalb der Bedingungen eines Video-EEG-Monitorings üblicherweise nicht besonders hoch sein dürfte. Ausserhalb des Settings eines elektrophysiologischen Labors ist es hingegen oft einfacher, die Frage zu beantworten, ob ein
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fokal beginnender Anfall in einen bilateralen tonisch-klonischen Anfall übergeht (früher als sekundär generalisierter Anfall bezeichnet).
Generalisierte Anfälle Auch bei den Anfällen mit generalisiertem Beginn kann zwischen motorischen und nicht motorischen Anfällen unterschieden werden. Zu Letzteren gehört auch die Absence. Wie in der alten Klassifikation ist auch sie als generalisierter Anfall mit Bewusstseinsstörung ohne motorische Symptome definiert. Sie ist in ihrer typischen Form ohne mitlaufendes EEG nicht zu unterscheiden von einem von Beginn an nicht bewusst erlebten fokalen Anfall mit Innehalten. Eine rein auf semiologischen Aspekten beruhende Anfallsklassifikation gelingt also auch mit der neuen Klassifikation nicht, was in der zuständigen ILAE-Kommission lange diskutiert wurde. Es sei hier noch angemerkt, dass der Begriff «Absence» im deutschsprachigen Raum trotz der nun vorliegenden Klassifikation auch weiterhin sowohl von Laien als auch von Ärzten (inkl. Neurologen) wahrscheinlich nicht korrekt verwendet werden wird. Es ist zu befürchten, dass er auch für alle Anfälle mit Bewusstseinsstörung ohne deutlichere motorische Entäusserungen beziehungsweise für alle Anfälle, die nicht als generalisiert oder bilateral tonisch-klonisch klassifiziert werden, wird herhalten müssen.
Warum ist die korrekte Klassifikation der Anfälle wichtig?
Generalisierte Anfälle haben eine andere Pathophysiologie als Anfälle mit fokalem Beginn. Bei generalisierten Anfällen können bestimmte Antiepileptika, wie zum Beispiel Valproinsäure, besonders gut wirken, während andere, wie zum Beispiel Carbamazepin, sogar Anfälle provozieren können. Bei fokalen Anfällen kann Carbamazepin hingegen sehr gut wirken. Ausserdem können Patienten mit fokalen Anfällen, die durch Medikamente nicht vollständig unterdrückt werden können, durch einen epilepsiechirurgischen Eingriff anfallsfrei werden (4). Für die Bestimmung des Hirnareals, das bei einem epilepsiechirurgischen Eingriff entfernt werden muss, um Anfallsfreiheit zu erreichen, ist wiederum die detaillierte Klassifikation der Anfälle eines Patienten anhand deren Semiologie wichtig. Die Symptome zu Beginn eines Anfalls ergeben neben Befunden in EEG und MRI wichtige Hinweise auf ihren Ursprungsort im Gehirn.
Limitationen der neuen Anfallsklassifikation
Obwohl gerade die Charakteristik zu Beginn eines Anfalls besonders wichtig ist, berücksichtigt die neue Klassifikation weniger den Beginn eines Anfalls als vielmehr die für den Anfall charakteristischen Symptome. Es gibt fokale Anfälle, die zunächst bewusst, im weiteren Verlauf aber nicht mehr bewusst erlebt werden; diese werden in der vorliegenden Klassifikation nicht von solchen unterschieden, die von Beginn an nicht bewusst erlebt werden. Der für die Lokalisationsdiagnostik in der Epilepsiechirurgie so wichtige Gesichtspunkt der Anfallsevolution wurde in der neuen Klassifikation nicht konsequent aufgegriffen. Die Klassifikation berücksichtigt indessen eher die Symptome, die für den Patienten und sein Umfeld relevant erscheinen beziehungs-
weise zur Schwere und zum Gefährdungspotenzial eines Anfalls beitragen. Auch hier zeigt sich, dass an der Erarbeitung der Klassifikation Akteure aus verschiedenen Bereichen der inzwischen schon sehr weit subspezialisierten Epileptologie beteiligt waren. Wir haben es mit einer Kompromisslösung zu tun, die weiterhin zu Diskussionen Anlass geben wird.
Anfälle besser genau beschreiben als falsch klassifizieren
Anhand der oben genannten Erläuterungen wird deutlich, dass es dem nicht überwiegend epileptologisch tätigen Arzt schwerfallen dürfte, einen Anfall korrekt zu klassifizieren. Deshalb sollten alle an der Versorgung eines Patienten mit Epilepsie Beteiligten bemüht sein, einen beobachteten Anfall besser mit ihren eigenen Worten hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs der Symptome genau zu beschreiben, als zu versuchen, den Anfall zu klassifizieren oder mit irgendeinem Fachbegriff zu versehen. Mit einer guten Beschreibung und genauen Angaben, wie die Informationen zu einem anfallsartigen Ereignis gewonnen wurden, ist dem Neurologen besser gedient als mit falsch angewendeten Fachtermini, wobei im Extremfall ein anfallsartiges Ereignis fälschlicherweise als epileptisch eingestuft wird, dem eine ganz andere Pathophysiologie zugrunde liegt (z. B. eine Synkope oder ein dissoziativer Anfall).
Warum braucht es noch eine (neue) Klassifikation der Epilepsien?
Auch wenn die Klassifikation von Anfällen bereits wichtige Rückschlüsse auf die Therapie zulässt, kann daraus nur in Einzelfällen auf eine bestimmte Ätiopathogenese und damit auch auf spezifischere Therapieoptionen geschlossen werden – so wie das zum Beispiel bei sogenannten gelastischen Anfällen der Fall ist. Diese gehen bei erhaltenem oder leicht beeinträchtigtem Bewusstsein mit einem grund- und emotionslosen Lachen oder Kichern einher und sind oft auf ein Hamartom (Missbildungstumor) im Hypothalamus zurückzuführen, dessen (radio-)chirurgische Entfernung im Gegensatz zur alleinigen medikamentösen Therapie die Anfallsfreiheit ermöglichen kann (5). Um einen Patienten mit epileptischen Anfällen optimal behandeln und betreuen zu können, ist es notwendig, die Ätiopathogenese sowie Begleitsymptome und Begleitkrankheiten genauer zu bestimmen. Das wurde bereits in der vorgängigen Klassifikation aus dem Jahre 1989 versucht, in der die Klassifikation der Anfälle in die Kategorien «partiell» («fokal») und «generalisiert» auf einer ersten Achse und die Ätiopathogenese mit den Begriffen «idiopathisch», «symptomatisch» und «kryptogen» auf einer zweiten Achse berücksichtigt wurden. Diese Begriffe widerspiegeln das damals nur gering vorhandene Wissen um die mannigfachen Ätiologien der Epilepsien. Bereits damals hatte man aber erkannt, dass es Epilepsien mit relativ typischen fokalen oder generalisierten Anfällen gibt, die eine gewisse Altersgebundenheit hinsichtlich der Erstmanifestation und auch eines in manchen Fällen möglichen Verschwindens aufweisen und bei denen es zu familiären Häufungen kommt, weswegen man von einer genetischen Ätiologie ausging. Auch mit hochauflösenden MRI-Verfahren hat man bis heute
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Komorbidität
Stufe 1: Anfallsformen
fokal
unklassifiziert generalisiert
Stufe 2: Arten der Epilepsie
fokal generalisiert unklassifiziert
kombiniert generalisiert
und fokal
Ätiologie
strukturell genetisch
infektiös
immunvermittelt
metabolisch unbekannt
Stufe 3: Epilepsiesyndrom
Abbildung: Bestandteile der Klassifikation von Epilepsien. Bei der Diagnose sollten auf allen drei Stufen Ätiologien und Komorbidität berücksichtigt werden (nach [6]). Es sind mehrere Ätiologien bei demselben Patienten möglich.
keine strukturelle Pathologie finden können. Diese Epilepsien bezeichnete man als idiopathisch fokale oder generalisierte Epilepsien. Als symptomatisch wurden hingegen Epilepsien klassifiziert, die auf eine definierte, meist strukturelle Hirnpathologie bezogen werden konnten, die häufig auch noch zu anderen neurologischen Symptomen (z. B. Paresen, intellektuelle Behinderung usw.) führten. Kryptogen waren diejenigen Epilepsien, die weder als idiopathisch noch als symptomatisch klassifiziert werden konnten. Mit den immensen Fortschritten in den Neurowissenschaften, vor allem in der Neurogenetik und der Neuroimmunologie, und ihren Auswirkungen auf die Therapie in den letzten drei Jahrzehnten entstand die Notwendigkeit, die ätiopathogenetische Achse in einer neuen Klassifikation differenzierter zu gestalten (6).
Anwendung der neuen Epilepsieklassifikation
Ausgehend von der Anfallsklassifikation, erfolgt hier ähnlich wie in der alten Klassifikation zunächst eine Zuordnung in die Kategorien «fokal», «generalisiert», «kombiniert generalisiert und fokal» oder «unklassifiziert». Danach wird gemäss ätiopathogenetischer Kategorien klassifiziert: «strukturell», «genetisch», «infektiös», «metabolisch», «immunvermittelt» oder «unbekannt». In der Abbildung wird dieses Vorgehen bei der Klassifikation der Epilepsien veranschaulicht. Mit «genetisch» sind vor allem die in der alten Klassifikation als idiopathisch bezeichneten Epilepsien gemeint. Der genaue genetische Hintergrund ist aber bei den meisten Be-
troffenen unklar, abgesehen bei einzelnen Familien mit autosomal-dominanten Formen. Man nimmt in den meisten Fällen ein Zusammenspiel von für sich allein nicht überschwellig pathogenen Varianten verschiedener Gene an; umfassend bewiesen wurde diese Hypothese allerdings noch nicht. Hingegen gibt es Epilepsien bei strukturellen Hirnveränderungen, die eine bereits genau definierte genetische Grundlage haben, trotzdem aber der Kategorie «strukturell» zugeordnet werden müssen. Hierzu zählt zum Beispiel die Epilepsie im Rahmen einer tuberösen Sklerose, einer autosomal-dominant vererbten Phakomatose, bei der auch strukturelle Hirnveränderungen eine Rolle in der Epileptogenese spielen. Hier steht inzwischen eine den vielschichtigen Krankheitsverlauf modifizierende Therapie mit dem mTOR-Inhibitor Everolimus (Votubia®) zur Verfügung. Das Medikament ist in der Schweiz zugelassen für die Therapie der zum Syndrom gehörenden subependymalen Riesenzellastrozytome und der renalen Angiomyolipome, deren Wachstum gebremst werden kann, sowie als Add-on-Antiepileptikum. Strukturell bedingt sind auch die Epilepsien nach zerebralen Traumata und Hirninfarkten sowie bei Hirntumoren. In den vergangenen Jahren hat sich auch gezeigt, dass es zerebrale Autoimmunopathien mit epileptischen Anfällen, also immunvermittelte Epilepsien gibt, die zum Teil auf immunologische Therapien sehr gut ansprechen und damit sogar ausheilen können, bei denen Antiepileptika hingegen weitgehend unwirksam sind (4).
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Komorbiditäten, seltene Erkrankungen und intellektuelle Behinderung bei Epilepsie
Aus der erwähnten Abbildung zur Epilepsieklassifikation geht auch der Bezug zu den von der Ätiologie stark abhängigen Komorbiditäten hervor. Diese zum Beispiel neuropsychologischen oder psychiatrischen Beschwerdebilder bestimmen den Leidensdruck und die Behinderung eines Betroffenen oft mehr als die Anfälle selbst. Während die symptomatische Therapie mit Antiepileptika diese Symptomatiken nur marginal bessern kann, ist das mit auf die Ätiopathogenese gerichteten krankheitsmodifizierenden beziehungsweise kausalen (v. a. immunologischen) Therapien deutlich besser möglich. Natürlich handelt es sich bei den erwähnten genetisch oder immunologisch bedingten Syndromen und Erkrankungen jeweils um seltene Erkrankungen. Seltene genetische oder immunologische Erkrankungen betreffen jedoch häufig das Gehirn, was wiederum oft zu epileptischen Anfällen führt. Deshalb begegnen Neurologen/Epileptologen relativ häufig Patienten mit seltenen Erkrankungen. Die Fortschritte in der Neurogenetik führten darüber hinaus zu der Erkenntnis, dass intellektuelle Behinderungen, in deren Kontext oft auch Epilepsien auftreten, sehr oft eine genetische Grundlage haben, deren Kenntnis nicht nur Auswirkungen auf die Epilepsietherapie, sondern auch auf die gesamte Betreuung des Betroffenen hat.
Bedeutung der neuen Epilepsieklassifikation für die Praxis
Wie für die Klassifikation der Anfallsformen gilt auch für die der Epilepsien, dass die Klassifikation nicht in der Hausarztpraxis erfolgen sollte. Vielmehr soll die Vorstellung der neuen Klassifikation an dieser Stelle den Hausarzt für den Wissenszuwachs sensibilisieren, der in den vergangenen Jahrzehnen stattgefunden und dazu geführt hat, dass die Therapie eines Patienten mit einer Epilepsie differenzierter und umfassender geworden ist und somit weit über die Verordnung von Antiepileptika hinausgeht. Für die Identifizierung der therapeutisch zunehmend relevanten Ätiologie einer Epilepsie reicht die Beschränkung auf die rein epileptologischen Aspekte nicht aus. Hinweise auf zugrunde liegende Erkrankungen liefern oft Kenntnisse aus sorgfältig zusammengetragenen Beschwerden und Befunden aus der gesamten medizinischen Vorgeschichte. Diese Informationen sollten beim betreuenden Hausarzt abrufbar sein, da sie von den Patienten selbst und ihren Angehörigen oft nicht erhältlich sind. Die Kenntnis dieser Aspekte begünstigt einen zielgerichteteren Einsatz teurer Laboranalysen und apparativer Diagnostik. In einem nicht nur auf die Therapie der Anfälle gerichteten Betreuungssetting kommen der Hausarztpraxis als Teil eines Netzwerks vor allem bei Epilepsiepatienten mit Komorbiditäten beziehungsweise seltenen Erkrankungen anspruchsvolle Aufgaben bei der Koordination der verschiedenen Spezialisten und der nicht ärztlichen Therapeuten sowie dem Therapiemonitoring und der Kommunikation mit dem gesamten Familiensystem zu.
Fazit
s Die neue Klassifikation der epileptischen Anfallsformen und der Epilepsien versucht, das aktuelle Wissen um die vielgestaltigen epileptischen Anfälle und deren vielfältige Ursachen zu bündeln. Sie stellt einen Kompromiss zur Beschreibung des grossen, aber dennoch sehr unvollständigen Wissens um komplexe Krankheitsbilder dar.
s Der Neurologe/Epileptologe ist bei der Anfallsklassifikation auf Informationen zur Semiologie anfallsartiger Ereignisse angewiesen, wie sie am besten zeitnah nach ihrem Auftreten in der Hausarztpraxis oder beim Notfalleinsatz gewonnen werden können.
s Diese Informationen sollten in eigenen, umgangssprachlichen Worten und nicht in Form der für die Klassifikation üblichen Fachtermini weitergegeben werden. Die Kenntnis der Belange der Klassifikation trägt dazu bei, dass die Beobachtungen gut strukturiert, die richtigen Fragen gestellt und die relevanten Informationen weitergegeben werden können.
s Die neue Klassifikation der Epilepsien sensibilisiert für die vielschichtige Ätiopathogenese der Epilepsien, die für Gestaltung und Steuerung der individuellen Therapie immer bedeutender wird.
s Hausärzte können nicht nur wichtige Informationen für die Etablierung der Diagnose beisteuern, sondern auch die zunehmend nicht mehr nur aus Antiepileptika bestehende Therapie koordinieren und zum Teil monitorisieren, wobei besonders bei Patienten mit einer intellektuellen Behinderung beziehungsweise einer seltenen Krankheit mehrere Komorbiditäten zu beachten sind.
Dr. med. Thomas Dorn Clinique Bernoise Montana Leitender Arzt Neurologie Imp. Palace Bellevue 1 3963 Crans-Montana E-Mail: thomas.dorn@bernerklinik.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Fisher RS et al.: A practical clinical definition of epilepsy. Epilepsia 2014;
55: 475–482. 2. Fisher RS et al.: Operationale Klassifikation der Anfallsformen durch die
Internationale Liga gegen Epilepsie: Positionspapier der ILA-Klassifikations- und Terminologiekommission. Z Epileptol 2018; 31: 272–281. 3. Fisher RS et al.: Anleitung (instruction manual) zur Anwendung der operationalen Klassifikation von Anfallsformen der ILAE 2017. Z Epileptol 2018; 31: 282–295. 4. Dorn T: Diagnostik und Therapie der Epilepsien. Schweiz Med Forum 2015; 15(23): 542–550. 5. Striano S et al.: The clinical spectrum and natural history of gelastic epilepsy-hypothalamic hamartoma syndrome. Seizure 2005; 14: 232–239. 6. Scheffer IE et al.: ILAE-Klassifikation der Epilepsien: Positionspapier der ILAE-Kommission für Klassifikation und Terminologie. Z Epileptol 2018; 31: 296–306.
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