Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Wer liebt sie nicht, die Verschwörungstheorien? Sie sind spannend, lustig, unterhaltend, erschreckend, bestätigen eigene Vorurteile, man muss sie nicht beweisen, Mutmassungen genügen völlig, sie könnten theoretisch fast alle wahr sein, jede zehnte ist es vermutlich sogar (das ist ja das Faszinierende daran), sie liefern unendlich Gesprächsstoff, erzeugen Solidarität unter Gleichdenkenden – kurz: Gäbe es keine, man müsste sofort welche erfinden.
sss
Eine der ältesten Verschwörungstheorien ist die der Brunnenvergiftung:Während der Pestepidemien im 14. Jahrhundert wurde Juden und anderen Randgruppen vorgeworfen, sie hätten durch die Vergiftung der öffentlichen Brunnen die Seuche verursacht, um die Christen auszurotten. Könnte Ihnen bekannt vorkommen, oder? Bill Gates hat das Virus – zusammen mit den Chinesen? – entwickelt, gleichzeitig mit einem Impfstoff, den er demnächst den Menschen gegen teures Geld verkaufen wird, sodass er endlich der reichste Mann der Welt würde. Ja mei, das tönt zwar nicht nach der zehnten Theorie, die tatsächlich wahr ist, aber ehrlich gesagt: Vielleicht war’s ja nicht Bill Gates, sondern ein chinesischer Milliardär, und sein Ziel war nicht, einen Impfstoff anzubieten, sondern die westliche Wirtschaft zu schwächen. Das tönt doch schon um ein Promille weniger aberwitzig. Noch ein Promille und noch ein Promille weniger, und irgendwann landen Sie bei einer Theorie, die nicht einmal Sie für total unmöglich halten. Ist das Virus vielleicht doch bei einem Unfall im virologischen Labor in Wuhan entwichen, in dem biologische Kampfstoffe entwickelt und getestet wurden? Sehen Sie. Nichts ist am Ende irrwitzig genug, um nicht für möglich gehalten zu werden!
sss
Die frivole Gisela, leicht genervt: In der Schweiz ist es wie immer: Ob Kinder das Coronavirus übertragen oder nicht, ist von
Kanton zu Kanton verschieden. (Und in der Schweiz auf jeden Fall anders als im Rest Europas. So viel Sonderfall muss sein.)
sss
Frage an die Bewunderer des schwedischen Wegs: Haben eigentlich alle «mit» oder «an» SARS-CoV-2 Verstorbenen zugestimmt, dass sie sich für die Herden immunität opfern wollen?
sss
Für spätere Leser: Die Coronaviruszeit ist die Periode in der Geschichte der Menschheit, so zwischen Januar 2020 und den frühen Dreissigern des 21. Jahrhunderts, in der die Menschen darüber stritten, ob man eher «mit» oder eher «an» einer Krankheit sterbe, in der man Alte in Altersheimen wie weiland Sieche in Siechenhäusern versorgte, in der Millionen von Eltern entdeckten, dass Kinder sehr lästig sein können, wenn sie zu Hause sind, anderen hingegen auffiel, dass Familie das ist, was in der Wohnung und zur Unterhaltung an Erbaulichem übrig bleibt, wenn Fussball, Formel 1, Tennis und Skifahren wegfallen, in der man den uralten Nutzen von Grenzen wieder entdeckte, dass man sie nämlich nicht nur freizügig aufheben, sondern auch schliessen kann, in der fast die gesamte Industrie – von Autobauern bis Kleiderfabrikanten – begann, Billionen von Gesichtsmasken und Tausende von Beatmungsgeräten zu produzieren, in der viele Normalbürger ihr Haar länger und wirrer trugen und sich im Freien vor allem Biker und übergewichtig Gewordene tummelten, in der der kometenhafte Aufstieg der Epidemiologen und Virologen in die Zen tren der Macht und der TV-Talkshows begann und in der Statistiken und das Streiten darüber auf Facebook zum Kreativsten und Unterhaltendsten gehörte, was die Gesellschaft zu bieten hatte.
sss
Unsere Nachbarin, letzte Woche noch ein bisschen verzweifelt: «Wo soll ich
mich, wenn der Lockdown endlich vorbei ist, nur zuerst anmelden? Bei den Weight Watchers, bei den Anonymen Alkoholikern oder beim Coiffeur?» Und jetzt? Die Haar kurz, die Haaransätze gefärbt. Und an die übrigen Nachteile des Lockdowns habe sie sich eigentlich ganz gut gewöhnt.
sss
Herr Winter (vielleicht auch Sommer) leidet an Doromanie. Sie leiden nicht daran, oder? Es ist die Sucht, dauernd und wahllos irgendjemandem ein Geschenk zu machen. Schön für die Freunde und Bekannten von Doromanen. Im Gegensatz dazu steht die Oniomanie. Die dürfte Ihnen – nur von Freund(inn)en her natürlich – eher bekannt sein: die exzessive Lust am Shoppen. Kann genauso teuer zu stehen kommen wie die Doromanie. Und ins Verderben führen, wenn die beiden Süchte kombiniert vorkommen. Häufiger noch als die Doro- ist allerdings die Doxomanie: die Sucht nach Ruhm, die, so scheint’s, eine ganze Generation befallen hat, die «Generation Casting». Journalisten und ähnliche Berufsgruppen kennen aber auch die Paradoxomanie. Es ist das unwiderstehliche Bedürfnis, aussergewönliche bis absonderliche (eben: paradoxe) – manchmal auch bloss «verrückt» formulierte, aber durchaus richtige – Meinungen zu vertreten. Paradoxomane sind das Salz in der Suppe für (fast) alle Zeitungsmacher. Was wären die Medien ohne Impfgegner, ohne Chemtrail-Warner, Pizzagate-Enthüller, Bilderberg-Verschwörer, Roswell-Aufklärer, Umvolkungsverängstigte und … ganz aktuell: Corona-Komplott-Gläubige?
sss
Und das meint Walti: Auch in Zeiten von Corona kann man in Daten ertrinken und trotzdem nach Informationen dürsten.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 10 | 2020