Transkript
FORTBILDUNG
Psychiatrie für Nichtpsychiater
Behandlung seelischer Störungen in der Hausarztpraxis
Patienten mit seelischen Störungen sind beim Hausarzt häufig. Sogar bei psychiatrischen Krankheitsbildern ist er meist die erste Anlaufstelle. Auch wenn die Kommunikation hier diffizil scheint: Einfache Fragen helfen, eine psychiatrische Erkrankung festzustellen oder auszuschliessen.
Christine Winter, Julia Shababi-Klein
Eine frühe Identifikation psychiatrischer Erkrankungen ermöglicht auch eine frühe Behandlung mit einem günstigeren Krankheitsverlauf (1) und geringeren Kosten. Derzeit machen psychische Erkrankungen 14 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage aus (2) und sind mit über 40 Prozent der häufigste Grund für Frühverrentung (3). Pro Jahr fallen Krankheitskosten in Höhe von 68 Milliarden Euro für knapp 18 Millionen psychisch kranke Erwachsene in Deutschland an. Die WHO schätzt, dass sich diese Kosten bis 2030 mehr als verdoppeln (4). Psychische Erkrankungen sind häufig und führen die Liste der Erkrankungen an, welche die Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen. Von den rund 80 Prozent der Erwachsenen, die mindestens einmal im Jahr einen Allgemeinmediziner aufsuchen, leiden 25 Prozent an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung (5, 6). Ärztliche und psychologische Psychotherapeuten werden hingegen nur von etwa 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung innerhalb eines Jahres kontaktiert (7, 8).
MERKSÄTZE
� Eine frühe Identifikation psychiatrischer Erkrankungen ermöglicht auch eine frühe Behandlung mit einem günstigeren Krankheitsverlauf und geringeren Kosten. Hausärzte leisten meist die Grund-, wenn nicht sogar die Hauptversorgung psychiatrischer Patienten.
� Die Erscheinungsbilder psychischer Erkrankungen variieren stark und werden mit DSM-5 und ICD-10 nach vorherrschenden Symptomen klassifiziert. Wenige Screeningfragen helfen jedoch, die häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder schon beim Allgemeinarzt zu erfassen.
� Nach der Diagnose erfolgt die Einschätzung des Schweregrads, aus dem sich das weitere Vorgehen ergibt. Bei schwereren Verläufen, ernsteren Diagnosen und diagnostischer Unsicherheit muss eine Überweisung zum Spezialisten er folgen. Ein Notfall erfordert immer eine sofortige symptomorientierte, gezielte Therapie.
Hausärzte leisten also meist die Grund-, wenn nicht sogar die Hauptversorgung psychiatrischer Patienten. Hier einige Beispiele: Der Praxisbetrieb hat sich verzögert. Frau G., langjäh rige Diabetespatientin, hat erhöhten Redebedarf. Seit ein paar Wochen fühle sie sich so leer. Ihre Enkelkinder, die ihr immer so viel Freude gemacht hätten, wolle sie gerade nicht mehr sehen. Herr B. macht sich Sorgen um sein Herz. Ein Arbeitskol lege hätte gerade einen Herzinfarkt gehabt, er habe jetzt auch solche Beklemmungen in der Herzgegend. Die neue Patientin Frau C. drängt den Arzt, ihr codeinhaltige Hustentropfen zu geben. Der beklagte Reizhusten lässt sich aber nicht bestätigen. Nicht selten stehen unspezifische Symptome im Vordergrund, die nicht sofort an eine psychische Erkrankung denken lassen: Der 38-jährige Herr M. stellt sich vor. Seit ein paar Wochen ginge es ihm immer schlechter. Er habe häufig Kopfschmerzen, sein Nacken sei bretthart. Ausserdem habe er ein Brennen auf der Zunge. Es fühle sich so an, als ob Säure vom Magen durch den Rachen zum Mund hochsteige. Er habe schreckliche Angst, unter Speiseröhrenkrebs zu leiden. Die Patienten wehren Gespräche über ihr psychisches Be finden ab, da psychische Erkrankungen schambesetzt und stigmatisierend sind, beharren stattdessen auf somatischen Symptomen: Natürlich mache er sich Sorgen, sagt Herr M. Das habe aber nichts mit seinen Symptomen zu tun, die seien ja da, er bilde sich das nicht ein.
Eine psychische Erkrankung kommt selten allein
Schlafstörungen habe er schon länger, berichtet Herr M., der sich ständig Sorgen macht. Als seine Frau neulich spätabends noch nicht zu Hause gewesen sei, habe er schreckliche Angst um sie gehabt, was sich in kribbelnden Händen, Herzrasen und Panik geäussert habe. Die Sorgen versetzten ihn in ständige Alarmbereitschaft, gleichzeitig sei er erschöpft und schaffe es kaum noch, sich abzulenken. Mit mehreren Gläsern Wein am Abend habe er zumindest für ein paar Stunden Ruhe. Die Erscheinungsbilder psychischer Erkrankungen variieren stark. Mit DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Auflage 5) und ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision) werden sie nach vorherrschenden Symptomen
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Tabelle 1:
Screeningfragen und Präsentiersymptome der häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder in der Allgemeinpraxis
Krankheit Angst (15%) Depression (10%)
Alkohol (10%) Zwang
Somatoforme Störungen
Frage Kennen Sie Panikattacken? Machen Sie sich häufig Sorgen? Haben Sie sich während des letzten Monats oft niedergeschlagen oder hoffnungslos gefühlt, unter vermindertem Spass und Interesse an Dingen gelitten?
(Anm.: So werden zwei Drittel der Haupt symptome, die für die Diagnose bereits einer leichten Depression vorliegen müssen, im relevanten Zeitintervall erfasst.) Ich möchte eine Vorstellung davon bekommen, wie viel Alkohol Sie im vergangenen halben Jahr durchschnittlich getrunken haben.
Haben Sie quälende Gedanken, die Sie loswerden möchten, aber nicht können? Müssen Sie wieder holt Dinge tun, die Ihnen unsinnig erscheinen?
(Anm.: Die Zwangsstörung gilt als die «heimliche» Erkrankung, von Zwängen wird im Allgemeinen nicht unaufgefordert berichtet.) Wann hatten Sie zuletzt keine körperlichen Beschwerden? Sind Erkrankungen bei Ihnen häufig hartnäckig und kompliziert?
Präsentiersymptome Unruhe, Hyperhidrosis, Verspannungen, gastro intestinale Beschwerden, Vermeidungsverhalten Gewichtsabnahme, gastrointestinale Beschwerden, Schmerzen, Verspannungen, sexuelle Funktions störungen
Alkoholfahne, Entzugssymptome, juristische/ soziale Probleme, richtungsweisende körperliche Symptome, Stürze, Angst- und depressive Störungen Handekzem, Kratzspuren, sozialer Rückzug, Probleme am Arbeitsplatz
Diffuse, bunte Beschwerdeschilderung; Drängen auf umfassende Diagnostik; häufiger Arztwechsel; Selbstmedikation
klassifiziert. Zur Diagnose der schweren Depression etwa müssen 2 von 3 Haupt- und mindestens 4 von 7 Zusatzsymptomen vorliegen. Damit ergeben sich 192 klinische Phänotypen, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden und jeweils mit oder ohne psychotische Symptome auftreten können. Die diagnostischen Optionen sind begrenzt. Psychiatrische Erkrankungen stellt man anhand des Krankheitsverlaufs und der Symptomkonstellation im psychopathologischen Befund fest: Veränderung im Wahrnehmen, Denken, Handeln und Fühlen sowie im Einheitserleben und in der Ichhaftigkeit. Diagnostisch entscheidend ist die Erhebung von psychopathologischem Befund und Krankheitsanamnese, da es in der Psychiatrie nichts anderes gibt, auf was sich die Diagnose stützen lässt: keinen Biomarker, Laborparameter oder messbaren Reflex.
Diagnosefindung
Gewahrsein Allgemeinärzte und Psychiater müssen sich darüber bewusst sein, dass der Hausarzt oft nicht nur der erste, sondern auch der einzig erwünschte Ansprechpartner für psychiatrische Patienten ist. Das fordert ihm ständiges Gewahrsein ab und verpflichtet den Psychiater, den Hausarzt durch schnelle Übernahme und telefonkonsiliarische Hilfe zu unterstützen.
Screeningfragen In der knapp bemessenen Zeit einer Sprechstunde kann man dem ungeübten Kollegen auch keine umfassende psychiatri-
sche Diagnostik abverlangen. Wenige Fragen helfen jedoch, die häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder schon beim Allgemeinarzt zu erfassen (Tabelle 1). Es empfiehlt sich, diese bei allen Patienten zu erfragen, die eine Schlafstörung angeben, denn diese gibt es bei fast allen psychischen Erkrankungen. Zwingend ist eine psychiatrische Exploration immer dann, wenn Patienten im Verhalten auffällig erscheinen, Präsentier- (Tabelle 1) oder gar psychiatrische Symptome benennen.
Abbau von Hemmschwellen Die Kombination der allgemeinärztlichen und psychiatrischen Befunderhebung schafft Vertrauen und wirkt einer Stigmatisierung entgegen. Auch bizarre Symptome werden auf der Symptomebene ernst genommen, nicht bagatellisiert oder pathologisiert. Die Gesprächsführung ist offen. Fragen nach unklaren Stellen in der Symptomschilderung werden direkt (zur Validierung unangenehmer Wahrnehmungen und zum Abbau von Hemmschwellen) sowie geschlossen (zur Vermeidung von Verheimlichungstendenzen) gestellt. Suizidalität muss der Arzt in jeder psychiatrischen Untersuchung direkt erfragen.
Behandlungsstrategien
Nach der Diagnose erfolgt die Einschätzung des Schweregrads, aus der sich das weitere Vorgehen ergibt. Ein Notfall erfordert immer eine sofortige symptomorientierte, gezielte Therapie, um eine Gefahr für die Gesundheit
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Tabelle 2:
Empfehlungen zur Einleitung einer Behandlung mit Antidepressiva
Bedarf
Wählen Sie nach Ausschluss
von Kontraindikationen …
Patient hat gute Erfahrungen mit
dieses Antidepressivum
Antidepressivum
Sedierung
Mirtazapin, Trazodon,
Trimipramin, Amitriptylin
oder Doxepin
Antriebssteigerung
SSRI oder SSNRI
verträglich bei Herzerkrankungen,
Sertralin
Glaukom, Prostatahypertrophie
keine anticholinergen Neben
SSRI oder SSNRI
wirkungen
keine sexuellen Funktions
Bupropion
störungen oder Gewichtszunahme
gegebene Überdosierungsgefahr
SSRI oder SSNRI,
v. a. Sertralin oder Duloxetin
Einmalgabe
SSRI oder SSNRI
Genannt sind die gängigsten Antidepressiva bzw. bevorzugten
Wirkstoffgruppen. Vor und mindestens halbjährlich während jeder
antidepressiven Behandlung müssen EKG- und Labordiagnostik
(TSH, FT3, FT4, Leberwerte, Kreatinin, Diff-BB) erfolgen.
SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, SSNRI: selektive SerotoninNoradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, TSH: thyreoideastimulierendes Hormon, FT3: freies Trijodthyronin, FT4: freies Thyroxin, Diff-BB: Differenzialblutbild
des Patienten (Eigengefährdung) und/oder anderer (Fremdgefährdung) abzuwenden. Bei nicht gegebener Einwilligung erlaubt der sogenannte rechtfertigende Notstand die Behandlung in einer somatischen und die Unterbringung nach Betreuungsrecht beziehungsweise die Behandlung in einer psychiatrischen Abteilung (in Deutschland gemäss PsychKG [Gesetz über Hilfen und Schutzmassnahmen bei psychischen Krankheiten], in der Schweiz gemäss dem Verfahren der Fürsorgerischen Unterbringung im Rahmen des Erwachsenenschutzrechts). Die Überweisung zum Spezialisten (stationär oder ambulant) muss bei mittelgradigen bis schweren Krankheitsverläufen, fraglicher Suizidalität, Schizophrenie, bipolarer Störung, psychiatrischer Komorbidität, medikamentöser Kombinationsbehandlung, Therapieresistenz und diagnostischer Unsicherheit erfolgen. Die Initiierung einer medikamentösen Therapie ist möglich, wenn bei weniger stark ausgeprägten Krankheitsverläufen eine direkte Übernahme in eine psychiatrische Behandlung nicht möglich oder seitens des Patienten nicht gewünscht ist. Die häufigsten beim Allgemeinarzt verschrie-
benen Medikamente gehören zur Gruppe der Antidepressiva. Tabelle 2 fasst hier einige Empfehlungen zusammen.
Weitere Möglichkeiten
Häufig kommt dem Allgemeinarzt auch die Aufgabe zu, psy-
chisch vulnerable Patienten in Krisensituationen zu stützen.
Gerade wenn noch keine manifeste psychiatrische Erkran-
kung vorliegt, sollte man den Patienten die von den Kassen
bezuschussten Präventionsprogramme empfehlen, wobei
psychotherapeutisch fundierte den reinen Entspannungspro-
grammen vorzuziehen sind.
s
Prof. Dr. med. Christine Winter Psychotherapie Auguststr. 84 10117 Berlin E-Mail: kontakt@winter-praxis.berlin
Dr. med. Julia Shababi-Klein JSK Privatpraxis Kastanienallee 18 D-14052 Berlin E-Mail: jsk@jsk-privatpraxis.de
Interessenlage: Die Autorinnen haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 14/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorinnen.
Literatur: 1. Dell‘Osso B et al.: Can long-term outcomes be improved by shortening
the duration of untreated illness in psychiatric disorders? A conceptual framework. Psychopathology 2013; 46(1): 14–21. 2. Bundespsychotherapeutenkammer: Die Qualität der Versorgung in Psychiatrie und Psychosomatik. Eine Auswertung der Qualitätsberichte der Krankenhäuser, 2016. https://www.bptk.de/wp-content/uploads/ 2019/01/20160622_BPtK-Studie_Qualitaetsberichte_KH_web.pdf 3. Deutsche Rentenversicherung: Jahresbericht 2016. https://dakmitgliedergemeinschaft.de/wp-content/uploads/2017/08/jahresbericht_ download2.pdf 4. Bloom DE et al.: The global eonomic burden of non-communicable diseases. Geneva: World Economic Forum, 2011; http://www3.weforum. org/docs/WEF_Harvard_HE_GlobalEconomicBurdenNonCommunicable Diseases_2011.pdf 5. Jacobi F et al.: Erratum to: Mental disorders in the general population: study on the health of adults in Germany and the additional module mental health (DEGS1-MH). Nervenarzt 2016; 87(1): 88–90. 6. Jacobi F et al.: Mental disorders in the general population: study on the health of adults in Germany and the additional module mental health (DEGS1-MH). Nervenarzt 2014; 85(1): 77–87. 7. Rattay P et al.: (2013) Utilization of outpatient and inpatient health services in Germany: results of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2013; 56(5-6): 832–844. 8. Robert Koch-Institut: Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, gemeinsam getragen von RKI und Destatis. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/ Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/ gesundheit_in_deutschland_2015.pdf?__blob=publicationFile
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