Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Coronaviruspandemie
Werden andere Erkrankungen zu wenig beachtet?
Die Schweizer Bevölkerung hat wegen der ten sozialen Phänomene zu erfassen. Die
Coronakrise in den ersten Wochen des Umfragen erlaubten für die Schweiz reprä-
Lockdowns durchschnittlich 6 von 10 me- sentative Aussagen zu der Entwicklung der
dizinischen Behandlungen nicht bean- erfassten Indikatoren, heisst es in einer
sprucht, beispielsweise bei Haus- und Medienmitteilung der ZHAW. Das Projekt
Zahnärzten oder im Spital. Die Absage «COVID-19 Social Monitor» wird vom Win-
oder Verschiebung der Behandlung er- terthurer Institut für Gesundheitsökono-
folgte entweder auf eigenen Wunsch (ca. mie der ZHAW und vom Institut für Epi-
20%), auf Initiative der Ärzte und Spitäler demiologie, Biostatistik und Prävention der
(ca. 70%) oder aus einem anderen Grund Universität Zürich durchgeführt (2).
(ca. 10%) (1). Der grösste Anteil der Absa- Dass während der Coronaviruspandemie
gen betraf Zahn- und Augenärzte, wäh- weniger Patienten mit anderen Erkrankun-
rend bei den Hausärzten nur ein Drittel der genzuihrenÄrztenoderinsSpitalkommen,
Termine nicht wahrgenommen wurden berichten auch andere Institutionen und
(Abbildung) (2). Bisher wurden drei Online- Wissenschaftler. Erst kürzlich meldeten
befragungen mit jeweils rund 1500Teilneh- mehrere Schweizer Schlaganfallzentren,
mern aus allen Landesteilen der Schweiz in dass deutlich weniger Patienten mit akuten
den Kalenderwochen 14, 15 und 16 durch- Schlaganfällen ins Spital kommen (3).
geführt. Weitere sind geplant, um den zeit- Von «kardiologischen Kollateralschäden»
lichen Verlauf der mit COVID-19 assoziier- der Pandemiemassnahmen sprechen Kar-
diologen in Öster-
reich. Sie berichten
von einem relativen
Rückgang der Herz-
infarktpatienten in
den PCI-Zentren um
39,4 Prozent von
Anfang bis Ende
März 2020. Die An-
zahl der Patienten
mit einem STEMI-
Infarkt sank von 94
auf 70 pro Woche,
die der Non-STEMI-
Fälle von 110 auf 67
pro Woche. Mögli-
cherweise würden
Patienten herzin-
Nicht beanspruchte medizinische Behandlungen in der Schweiz vom 30. März bis 14. April farktassoziierte
2020 (COVID-19 Social Monitor, ZHAW)
Symptome wie Tho-
raxbeschwerden und Dyspnoe als mögliche COVID-Erkrankung fehlinterpretieren und – wie angewiesen – zu Hause bleiben und nicht sofort den Notarzt rufen. Auch die Furcht, sich im Spital mit SARS-CoV-2 zu infizieren, könnte ein Rolle dabei spielen. Im März 2020 könnten schätzungsweise 110 Herzinfarktpatienten zusätzlich verstorben sein, weil sie nicht ins Spital kamen; das sei sehr besorgniserregend, insbesondere wenn man berücksichtige, dass im gleichen Zeitraum in Österreich 86 COVID-19-Patienten verstarben, so die Autoren der österreichischen Studie (4). Vor der Gefahr einer Unterversorgung von Nicht-COVID-19-Patienten warnte die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin bereits Anfang April (5). Als Folge der Verunsicherung und der Angst im Zuge der Coronapandemie gehe oft vergessen, dass viele andere Akutkrankheiten ebenfalls gefährlich verlaufen können. Auch bei chronischen Krankheiten sei es wichtig, eine kontinuierlicheTherapie aufrechtzuerhalten. Die Folgen von zu späten Behandlungen während der Coronaviruspandemie seien nicht zu unterschätzen, so die SGAIM. RBO s
1. https://www.zhaw.ch/de/sml/institutezentren/wig/projekte/covid-19-social-monitor/
2. Medienmitteilung der ZHAWvom 17. April 2020. 3. Medienmitteilung von FRAGILE Suisse vom
3. April 2020. 4. Metzler B et al.: Decline of acute coronary syn-
drome admissions in Austria since the outbreak of COVID-19: the pandemic response causes cardiac collateral damage. Eur Heart J 2020, online Apr 16th, 2020. 5. Medienmitteilung der SGAIMvom 8. April 2020.
Coronaviruspandemie
COVID-19-Register auch für Patienten offen
Neben Schweizer Spitälern und Ärzten können nun auch Patienten Fälle in das Schweizer COVID-19-Register eintragen. Die Patienten sollen dabei auch notieren, wer ihr betreuender Arzt ist, damit ihre Meldungen durch die beglei-
tende Rückmeldung ihres Arztes komplettiert und eingeordnet werden können. Beteiligen können sich alle Patienten, die positiv auf SARS-CoV-2 oder SARS-CoV-2-Antikörper getestet wurden. Die Teilnahme ist kostenfrei.
Die Daten bleiben im Besitz der Betroffenen. Folgender Link führt sowohl Fachpersonen als auch Patienten zu ihren jeweiligen Zugängen zum Register: https://c19reg.org/
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ARS MEDICI 9 | 2020
Kardiologie
COVID-19 als systemische Gefässentzündung
Rückspiegel
COVID-19 galt bis anhin in erster Linie als Lungenerkrankung. Ein Team am Universitätsspital Zürich zeigte nun anhand von Gewebeproben verstorbener COVID-19-Patienten, dass SARSCoV-2 nicht nur die Lungen befällt, sondern Entzündungen im Endothel aller Gefässe auslöst und so zu Organversagen führen kann. Der Pathologin Prof. Zsuzsanna Varga gelang es erstmals, SARS-CoV-2 und den dort ausgelösten Zelltod im Endothel elektronenmikroskopisch nachzuweisen. Demnach greift das Virus die Immunabwehr über die im Endothel vorkommenden ACE2-Rezeptoren direkt an. Es verteilt sich im ganzen Körper und führt zu einer generalisierten Entzündung im Endothel, die dessen Schutzfunktion zum Erliegen bringt. Das Virus löst also nicht nur eine Lungenentzündung aus, die dann ursächlich für weitere Komplikationen ist, sondern direkt eine systemische Endotheliitis. Es entstehen schwere Mikro-
zirkulationsstörungen, die das Herz schädigen, Lungenembolien und Gefässverschlüsse im Gehirn und im Darmtrakt auslösen und zu Multiorganversagen führen können. Während das Endothel jüngerer Patienten mit dem Angriff der Viren meistens gut zurechtkommt, sieht das bei Patienten, die an Bluthochdruck, Diabetes, Herzinsuffizienz oder koronaren Herzkrankheiten leiden, anders aus. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 gefährdet diese Patienten besonders, weil bei ihnen vor allem in der Phase, in der sich das Virus am stärksten vermehrt, die bereits geschwächte Endothelfunktion noch weiter abnimmt. USZ/RBO s
Medienmitteilung des USZ vom 20. April 2020. Varga Z et al.: Endothelial cell infection and endotheliitis in COVID-19. Lancet 2020; online April 20th, 2020.
Praxis
CIRS-Meldungen trotz Coronaviruskrise
Die Coronaviruspandemie ist zurzeit auch online, im Forum Hausarztmedizin der Haus- und Kinderärzte Schweiz (mfe) und der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), das alles dominierende Thema. Nachdem der ursprüngliche Diskussionsstrang zum Thema Corona in einer ersten Welle von Beiträgen geradezu geflutet wurde, sind mehrere thematisch geordnete Diskussionsstränge zu COVID-19 entstanden. Noch wenig beachtet werde hingegen das Problem der nun fehlenden persönlichen Kontakte, so Dr. med. Markus Gnädinger, einer der Administratoren im Forum Hausarztmedizin: «Die Fortbildungen, QZ-Sitzungen, das Ultraschall-Kränzli, auch nur die Versammlungen des Hausärztevereins – alles fehlt im Moment. Man spricht mit den Kollegen, falls überhaupt, nur am Telefon.» Regionale Hausarztforen für regionale Hausärztevereine sind deshalb in Vorbereitung. Besonders am Herzen liegt Gnädinger, dass auch jetzt Fälle in das CIRS (critical incident reporting
system) der SGAIM im Forum Hausarztmedizin eingegeben werden: «Ich hoffe, dass es auch jetzt Kolleginnen und Kollegen gibt, die 5 Minuten ihrer kostbaren Zeit dafür opfern, bei uns ihren aktuellen CIRS-Fall einzugeben, damit wir auch in Coronazeiten etwas zu lernen und zu diskutieren haben.» In diesem CIRS sind Fälle aus der Praxis gefragt, bei denen aufgrund einer fehlerhaften Handlung oder Unterlassung der normale Praxisablauf gestört wurde, aber keine Fälle mit strafrechtlicher Relevanz. Die Fälle werden über eine spezielle Maske eingegeben und von den Moderatoren des CIRS-Forums gesichtet, anonymisiert und aufgeschaltet. Bis Mitte April 2020 wurden insgesamt 75 Fälle im CIRS online geschaltet. Sie können von allen Haus- und Kinderärzten, die im Forum Hausarztmedizin registriert sind, eingesehen und kommentiert werden: www.forum-hausarztmedizin.ch
RBO s
Vor 10 Jahren
Eyjafjallajökull
Eine riesige Aschewolke verdunkelt den Himmel über Island und grossen Teilen der nördlichen Hemisphäre. Der Ausbruch des Eyjafjallajökull führt Mitte April zu erheblichen Beeinträchtigungen des Flugverkehrs. Später wird man behaupten, dass die Einschränkungen im Grunde überflüssig gewesen seien. Der Vulkan mit dem unausprechlichen Namen ist von März bis weit in den Sommer aktiv. Er gilt als schwer berechenbar und wird Ende 2010 als «unsicher» eingestuft.
Vor 50 Jahren
Reverse Transkriptase
Unabhängig voneinander entdecken Howard Temin und David Baltimore in den USA die Reverse Transkriptase in Viren wie dem Rous-Sarkom- und dem Maus-Leukämie-Virus. Fünf Jahre später werden sie dafür beide mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, ebenso ihr Mentor, Renato Dulbecco. Temin und Baltimore waren als junge Wissenschaftler Teil seines Teams, das entdeckte, dass Onkoviren ihre Erbsubstanz in das Genom der Wirtszelle einbauen können.
Vor 100 Jahren
Steiner in Dornach
Rudolf Steiner beginnt in Dornach bei Basel, Ärzte und Studenten in anthroposophischer Medizin zu unterrichten. Das erste Goetheanum, ein Gebäude aus Holz, ist bereits in Bau. Es geht in der Silvesternacht 1922/23 in Flammen auf. Das heutige Gebäude aus Beton wird 1928, drei Jahre nach Steiners Tod, fertiggestellt. RBO s
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