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Migräne: CGRP-Hemmer auch bei Hypertonie?
Einordnung der Resultate eines Tierversuchs anhand der Studiendaten von Patienten
Vor Kurzem warnten Forscher der Universität Zürich aufgrund von Tierversuchen vor dem langfristigen Gebrauch der neuen CGRP-Hemmer gegen Migräne bei Hypertonie. Im Folgenden werden die Resultate dieser Studie in ihrer Bedeutung für die Behandlung von Migränepatienten mit den neuen Substanzen eingeordnet.
Christoph Schankin
Mit grossem Interesse habe ich die Arbeit von
Skaria et al. (1) gelesen. Sie erhält eine beson-
dere Bedeutung vor dem Hintergrund, dass
Antikörper gegen CGRP (calcitonin gene-
related peptide) oder seinen Rezeptor in der
Migränetherapie eingesetzt werden.
CGRP spielt bei der Pathophysiologie der Mi-
gräne eine grosse Rolle. Innerhalb von Migrä-
neattacken ist CGRP im Jugularvenenblut er-
PD Dr. Christoph Schankin
höht (2), und die Infusion von CGRP kann bei Migränepatienten Migräneattacken auslösen
(3). Eine logische Konsequenz war der Ansatz, Migräne mit
CGRP-Hemmung zu therapieren.
In der Schweiz wurde 2018 der Anti-CGRP-Rezeptor-
Antikörper Erenumab (Aimovig®) zur Migräneprophylaxe
bei hochfrequenter episodischer und chronischer Migräne
zugelassen; 2019 folgten die gegen den Liganden CGRP selbst
gerichteten Antikörper Galcanezumab (Emgality®) und
Fremanezumab (Ajovy®). Aufgrund der Häufigkeit von
Migräne ist davon auszugehen, dass sehr viele Patienten mit
dieser Therapie behandelt werden.
CGRP als kardioprotektiver Faktor
Neben der Bedeutung für Migräne hat CGRP aber auch andere Funktionen. Es wird nicht nur in dem für die Migräne relevanten trigeminovaskulären System exprimiert, sondern fast überall im Körper. Unter anderem ist es ein potenter Vasodilatator und damit potenziell für Blutdruckregulation und Steuerung der Durchblutung verantwortlich. Viele mögliche Funktionen sind aber noch nicht vollständig verstanden. Vor diesem Hintergrund ist die oben genannte Studie wichtig, die die Funktion von CGRP auf die Reaktion des Herzens auf chronisch erhöhten Blutdruck untersucht hat (1). Die Autoren zeigen im Mausmodell des chronischen Hypertonus (one-kidney, one-clip), dass «Ausdauersport» (freiwilliges Laufrad) die pathologische, durch den Bluthochdruck verursachte Remodellierung und Herzinsuffizienz positiv beeinflusst. Dieser positive Effekt ist CGRP-vermittelt, da erstens die Blockade des CGRP-Rezeptors mit dem «small molecule» CGRP8-37 diesen Effekt verhindert und zweitens die CGRP-Infusion in
der CGRP-Knockout-Maus einen ebenfalls positiven Effekt hat. Laut dieser Studie hat CGRP also einen kardioprotektiven Effekt auf die Entwicklung einer hypertensiven Kardiopathie. CGRP scheint also einen wichtigen Schutzeffekt auf das Herz bei Patienten mit arterieller Hypertonie zu haben. Die Autoren schliessen daraus, dass bei Patienten mit Bluthochdruck und CGRP-Antikörper-Therapie dieser positive Effekt verringert wird.
Ist dieser Tierversuch auf den Menschen übertragbar?
Ob allerdings die Ergebnisse einer Studie, die an Mäusen mit chronischem, unbehandeltem, sekundärem Bluthochdruck und CGRP-Rezeptor-Blockade durch CGRP8-37 durchgeführt wurde, direkt auf den mit einem der Antikörper behandelten Migränepatienten übertragen werden können, ist noch unklar. Viele Fragen bleiben offen: Kann der negative Effekt durch eine adäquate Blutdruckeinstellung verhindert werden? Ist das Ausmass der CGRP-Rezeptor-Blockade durch CGRP8-37 vergleichbar mit der CGRP-Rezeptor-Bindung durch Erenumab? Hat ein Antikörper gegen den Liganden (Galacezumab bzw. Fremanezumab) einen ähnlichen Effekt? Kommt es zu einer Erholung der kardialen Veränderungen, wenn die CGRP-Blockade nach ein paar Monaten wieder beendet wird?
Was ist aus Studien mit Migränepatienten bekannt?
Leider helfen die aktuell vorliegenden Zulassungsstudien hier nicht weiter. Aufgrund der bekannten Bedeutung von CGRP für Vasodilatation wurde in den Zulassungsstudien ein beson deres Augenmerk auf kardiovaskuläre Nebenwirkung gelegt. Diese Daten wurden in neuen Metaanalysen ausgewertet. In der kürzlich erschienenen Metaanalyse zum Anti-CGRPRezeptor-Antikörper Erenumab konnte bei 2443 Patienten (Plazebo: n = 1043; Erenumab, 70 mg: n = 893; Erenumab, 140 mg: n = 507) über die doppelblinde Phase von 12 Wochen kein Unterschied zwischen Plazebo und Verum bezüglich der Häufigkeit von Schlaganfällen, ischämischer Herzerkrankung
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und Bluthochdruck gefunden werden. Zu beachten ist hier sicherlich, dass die Studienpopulation ein relativ junges mittleres Alter (ca. 41 Jahre) mit geringer Häufigkeit von vorbestehendem Bluthochdruck hatte (< 10%) und dass die Beobachtungszeit kurz war (4). Eine Studie zu kardiovaskulären Effekten von Erenumab bei Patienten mit chronischer stabiler Angina pectoris zeigte keine Auswirkungen auf die maximale Trainingszeit auf einem Laufband sowie keine Erhöhung der Inzidenz unerwünschter Ereignisse (5). Das ist wichtig, gibt aber aufgrund des Studiendesigns keine Auskunft über längerfristige negative Effekte auf die kardiale Pumpfunktion. Eine ähnliche Metaanalyse erfolgte für die Phase-III-Studien zum Anti-CGRP-Antikörper Galcanezumab (EVOLVE-1, EVOLVE-2, REGAIN). Insgesamt gibt es Daten zu 1435 Patienten, die entweder mit 120 oder 240 mg Galcanezumab behandelt und mit 1410 Plazebopatienten verglichen wurden. Das Durchschnittsalter betrug zirka 41 Jahre. Nur 7,9 Prozent der Patienten unter Verum und 10,3 Prozent der Patienten unter Plazebo hatten eine arterielle Hypertonie. Es fanden sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen hinsichtlich Blutdruckanstiegs, kardiovaskulärer Ereignisse oder notwendiger Steigerung der kardiovaskulär wirksamen Begleitmedikation. Daten zur Echokardiografie oder zur Pumpfunktion des Herzens liegen nicht vor (6). In den grossen Phase-III-Studien zum Anti-CGRP-Antikörper Fremanezumab wurden Patienten mit episodischer Migräne (HALO-EM) und chronischer Migräne (HALO-CM) untersucht (7, 8). In Bezug auf kardiovaskuläre Risikofaktoren war chronischer unbehandelter Bluthochdruck keine Kontraindikation. Auch hier war der Beobachtungszeitraum der doppelblinden Studienphase mit 12 Wochen recht kurz. Es fand sich keine Häufung von Bluthochdruck oder kardialer Dysfunktion. Im offenen Arm der Langzeitstudie (HALO LTS) wurde die kardiale Pumpfunktion nicht spezifisch untersucht. Kardiale Dekompensation oder unkontrollierter Bluthochdruck war aber auch hier keine der genannten Nebenwirkungen (9). Ähnliches fand sich in der erst kürzlich publizierten FOCUS- Studie (10). tonie unter CGRP-Antikörper-Therapie konsequent bezüg- lich des Blutdrucks eingestellt und hinsichtlich der kardialen Pumpfunktion überwacht werden sollten. s PD Dr. med. Christoph Schankin Leitung Universitäre Kopfschmerzsprechstunde Neurologische Klinik Inselspital, Universitätsspital Bern Universität Bern Freiburgstrasse 3010 Bern E-Mail: christoph.schankin@insel.ch Interessenlage: Der Autor deklariert Reiseunterstützung und Honorare für Beratungstätigkeit, Advisory Boards und/oder Vorträge von Novartis, Eli Lilly, TEVA Pharmaceuticals, Allergan, Almirall, Amgen, MindMed und Grünenthal. Literatur: 1. Skaria T et al.: Blood pressure normalization-independent cardioprotec- tive effects of endogenous, physical activity-induced alpha-CGRP (alpha calcitonin gene-related peptide) in chronically hypertensive mice. Circ Res 2019; 125(12): 1124–1140. 2. Goadsby PJ et al.: Vasoactive peptide release in the extracerebral circulation of humans during migraine headache. Ann Neurol 1990; 28(2): 183–187. 3. Lassen LH et al.: CGRP may play a causative role in migraine. Cephalalgia 2002; 22(1): 54–61. 4. Kudrow D et al.: Vascular safety of erenumab for migraine prevention. Neurology 2020; 94(5): e497–e510. 5. Depre C et al.: A randomized, double-blind, placebo-controlled study to evaluate the effect of erenumab on exercise time during a treadmill test in patients with stable angina. Headache 2018; 58(5): 715–723. 6. Oakes T et al.: Evaluation of cardiovascular risks in adult patients with episodic or chronic migraine treated with galcanezumab: data from three phase 3, randomized, double-blind, placebo-controlled studies (P1.10-010). Neurology 2019; 92(15 Supplement). 7. Silberstein SD et al.: Fremanezumab for the preventive treatment of chronic migraine. N Engl J Med 2017; 377(22): 2113–2122. 8. Dodick DW et al.: Effect of fremanezumab compared with placebo for prevention of episodic migraine: a randomized clinical trial. JAMA 2018; 319(19): 1999–2008. 9. Goadsby PJ et al.: Long-term efficacy and safety of fremanezumab in migraine: results of a 1-year study. 13th European Headache Congress. Athens, Greece; 2019. 10. Ferrari MD et al.: Fremanezumab versus placebo for migraine prevention in patients with documented failure to up to four migraine preventive medication classes (FOCUS): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3b trial. Lancet 2019; 394: 1030–1040. Fazit Insgesamt ist damit festzuhalten, dass alle drei Biologicals, basierend auf der aktuellen Studienlage, sicher sind – jedenfalls hinsichtlich der untersuchten kardiovaskulären Parameter. Allerdings fehlen Langzeitdaten der kardialen Pumpfunktion unter CGRP-(Rezeptor-)Antikörpern bei Migränepatienten mit chronischer und unkontrollierter arterieller Hypertonie. Und das wäre die humane Population, die dem Tiermodell von Skaria et al. am ehesten entsprechen würde (1). Diese wichtige Studie beleuchtet also eine bis anhin nicht genau untersuchte Funktion von CGRP bei chronischer arterieller Hypertonie. Obwohl sich in den extensiven Studienprogrammen der Hersteller kein Signal für ein erhöhtes kardiales Risiko durch CGRP-Antikörper gezeigt hat, sind Langzeitdaten hinsichtlich der kardialen Pumpfunktion bei Patienten mit chronisch erhöhtem Blutdruck notwendig. Für den klinischen Alltag bedeutet diese Arbeit, dass entsprechende Risikopatienten mit Migräne und arterieller Hyper- 264 ARS MEDICI 8 | 2020