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Multidisziplinäre Empfehlungen zum sicheren Einsatz von NSAR
Schmerztherapie und Nebenwirkungen
FORTBILDUNG
Nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sind mit unerwünschten Wirkungen im Hinblick auf den Blutdruck, das kardiovaskuläre Risiko, die Nierenfunktion und den Gastrointestinaltrakt verbunden. Sechs asiatisch-pazifische Gesellschaften haben jetzt eine gemeinsame Leitlinie mit multidisziplinären Empfehlungen zur sicheren Anwendung dieser Schmerzmedikamente erarbeitet.
Gut
NSAR gehören zu den meistverschriebenen Medikamenten zur antientzündlichen Schmerztherapie. Sie hemmen das Enzym Cyclooxygenase (COX) und darüber die Prostaglandinsynthese aus Arachidonsäure. Man unterscheidet zwei Hauptisoformen der Cyclooxygenase: Die Isoform COX-1 ist von grosser Bedeutung für die Bildung zytoprotektiver Prostaglandine im Gastrointestinaltrakt, während COX-2 die vorherrschende Isoform an Orten eines Entzündungsgeschehens darstellt. NSAR werden zur Behandlung von Kopfschmerzen, akuter und chronischer Arthritis, viszeralen Schmerzen, postoperativen Schmerzen und muskuloskelettalen Beschwerden angewendet. Neben der gut belegten schmerzlindernden und antientzündlichen Wirksamkeit sind NSAR allerdings auch mit einer Reihe schwerwiegender Nebenwirkungen verbunden. Der Grossteil der Studien zur Sicherheit von NSAR befasst sich mit kardiovaskulären und gastrointestinalen Komplikationen. Die unerwünschten Wirkungen auf den Blutdruck und die Nieren sind dagegen weniger gut untersucht.
MERKSÄTZE
� NSAR zeigen eine hohe schmerzlindernde und antientzündliche Wirksamkeit und werden zur Behandlung von Kopfschmerzen, akuter und chronischer Arthritis, viszeralen und postoperativen Schmerzen sowie muskuloskelettalen Beschwerden angewendet.
� Allerdings sind NSAR auch mit einer Reihe schwerwiegender kardiovaskulärer, renaler und gastrointestinaler Nebenwirkungen verbunden, aufgrund deren die Fachgesellschaften jeweils für gefährdete Patienten Empfehlungen aussprechen.
� Als übergeordnetes Prinzip wird empfohlen, NSAR in der niedrigstmöglichen wirksamen Dosis nur so lange wie klinisch erforderlich anzuwenden.
Die meisten Guidelines fokussieren sich auf NSAR-induzierte Komplikationen innerhalb eines medizinischen Fachgebiets. Folgende Gesellschaften haben nun eine gemeinsame Leitlinie mit multidisziplinären Empfehlungen zur sicheren Anwendung von NSAR bei Hypertonie sowie bei Patienten mit kardiovaskulären, renalen oder gastrointestinalen Komorbiditäten erarbeitet: s Asian Pacific Association of Gastroenterology (APAGE) s Asia Pacific League of Associations for Rheumatology
(APLAR) s Asia-Pacific Society for Digestive Endoscopy (APSDE) s Asia Pacific Society of Hypertension (APSH) s Asian Pacific Society of Nephrology (APSN) s Pulse of Asia (PoA). Leitlinie und Empfehlungen basieren auf einem Literatur review und der Auswertung von 329 Studien (randomisierte, kontrollierte Studien, Beobachtungsstudien), die vor Januar 2018 publiziert worden wurden. In einer Vorbemerkung weisen die Experten darauf hin, dass sich ihre Empfehlungen nicht auf niedrig dosierte Acetylsalicylsäure (ASS; Aspirin® und Generika) beziehen, da der Wirkstoff bei dieser Art der Anwendung keine systemische antientzündliche Wirksamkeit aufweist und sich die Nebenwirkungen von denen anderer NSAR unterscheiden. Anschliessend formulieren die Fachgesellschaften als übergeordnetes Prinzip, NSAR in der niedrigstmöglichen wirksamen Dosis nur so lange wie klinisch erforderlich anzuwenden.
NSAR und Blutdruck
Empfehlungen: Die Leitlinienexperten empfehlen eine Messung des Blutdrucks vor Beginn mit NSAR und weitere regelmässige Kontrollen bei längerfristiger Behandlung. Die erste Kontrolle sollte vier Wochen nach Behandlungsbeginn beim Arzt vorgenommen werden. Ergänzend ist ein Selbstmonitoring des Patienten mit Blutdruckkontrollen, Gewichtskon trollen (Flüssigkeitsretention) und Fusskontrollen (Ödeme) wünschenswert.
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FORTBILDUNG
Zusammenfassung der Empfehlungen
A) NSAR nach Möglichkeit vermeiden bei ▲ refraktärer Hypertonie ▲ hohem kardiovaskulären Risiko ▲ schwerer CKD ▲ Patienten mit mittelgradiger CKD, die mit ACE-Hemmern, ARB
oder Diuretika behandelt werden
B) Vor Beginn mit NSAR ▲ Messung des Blutdrucks ▲ hohes Risiko für CKD: Evaluierung der Nierenfunktion, falls dies in
den letzten 6 Monaten nicht vorgenommen wurde ▲ Eisenmangelanämie ungeklärter Ursache: Überweisung zum Gast-
roenterologen
C) Auswahl von NSAR und Begleitmedikation ▲ hohes kardiovaskuläres Risiko und NSAR nicht vermeidbar: Napro-
xen oder Celecoxib ▲ bereits vorhandene Hypertonie und Einnahme von ACE-Hemmern
oder ARB: empirische Zugabe (oder Dosiserhöhung) eines Anti hypertensivums einer anderen Klasse ▲ NSAR-bedingte Dyspepsie: PPI ▲ mittleres Risiko für peptische Ulzera: nicht selektives NSAR plus PPI oder COX-2-Hemmer-Monotherapie ▲ hohes Risiko für peptische Ulzera: selektiver COX-2-Hemmer plus PPI ▲ Eisenmangelanämie ungeklärter Ursache und NSAR unvermeidbar: Celecoxib
D) Monitoring während NSAR-Therapie ▲ Blutdruck ▲ normaler Blutdruck: Messung beim Arzt 4 Wochen nach Beginn
mit NSAR ▲ Hypertonie: Blutdruckmonitoring auch bei Kurzzeitbehandlung ▲ Selbstmonitoring des Patienten: Blutdruck, Körpergewicht (Flüs-
sigkeitsretention), Füsse (Ödeme) ▲ Nierenfunktion ▲ alle Patienten: Überprüfung der Nierenfunktion bei Flüssigkeitsre-
tention oder klinischen Anzeichen von Nierenfunktionsstörungen ▲ bereits vorhandene CKD: Prüfung der Nierenfunktion 1 Woche nach
Beginn mit NSAR, regelmässiges Monitoring bei längerer Einnahme
Bei Hypertonikern ist auch bei kurzzeitiger Anwendung von NSAR eine Überwachung des Blutdrucks erforderlich. Aufgrund mangelnder Evidenz kann jedoch keine Empfehlung für ein bestimmtes NSAR bei Hypertonie gegeben werden. Bei behandlungsresistentem Bluthochdruck sollten NSAR ganz vermieden werden. Für Hypertoniepatienten, die bereits einen ACE-(angiotensin-converting enzyme-)Hemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker (ARB) einnehmen, empfehlen die Experten bei längerfristiger NSAR-Behandlung die Zugabe (oder die Dosiserhöhung) eines weiteren Antihypertensivums einer anderen Klasse. Hintergrund: In Studien aller Art hat sich gezeigt, dass NSAR den Blutdruck erhöhen, eine Neuentwicklung von Bluthochdruck verursachen und die Blutdruckkontrolle von Hypertonikern verschlechtern. Bei Patienten mit normalem Blutdruck betragen die Anstiege des systolischen und des diastolischen Blutdrucks unter einer Langzeit-NSAR-Behand-
lung etwa 2,0 mmHg und 0,5 mmHg. Eine ähnliche Grössenordnung wird auch bei Hypertonikern beobachtet. Bei etwa 2 bis 30 Prozent der Bluthochdruckpatienten ist unter NSAR eine Anpassung der antihypertensiven Therapie erforderlich. In den meisten Studien waren Ibuprofen (Brufen® und Generika), Etoricoxib (Arcoxia®) und Rofecoxib (Vioxx®, in der Schweiz nicht mehr erhältlich) mit einer ausgeprägteren Zunahme des Blutdrucks verbunden, während die Auswirkungen von Naproxen (z. B. Apranax®, Proxen® und Generika) und Celecoxib (Celebrex® und Generika) auf den Blutdruck relativ gering waren.
Kardiovaskuläre Effekte
Empfehlungen: Bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko sollten NSAR vermieden werden. Falls dies nicht möglich ist, empfehlen die Guideline-Experten die Anwendung von Naproxen oder Celecoxib. Hintergrund: NSAR stehen dosisabhängig und in besonderem Masse mit Herzinsuffizienz und atherosklerotischen kardiovaskulären Ereignissen in Zusammenhang. In vielen Studien zeigte sich unter NSAR-Langzeitbehandlungen ein massiv erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, und die Behandlungsdauer war unabhängig mit dem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert.
Renale Effekte
Empfehlungen: Bei schwerer chronischer Nierenerkrankung (chronic kidney disease [CKD]; geschätzte glomeruläre Filtrationsrate [eGFR]: < 30 ml/min/1,73 m2) empfehlen die Fachgesellschaften eine Vermeidung von NSAR. Für Patienten mit mittelschwerer Nierenerkrankung (eGFR: 30–59 ml/ min/1,73 m2), die ACE-Hemmer, ARB oder Diuretika einnehmen, sind NSAR ebenfalls nicht geeignet. Bei Personen mit hohem CKD-Risiko sollte vor Beginn mit NSAR ein Nierenfunktionstest vorgenommen werden. Aufgrund mangelnder Evidenz können die Experten kein bestimmtes NSAR für CKD-Patienten empfehlen. Eine Woche nach Beginn mit einem NSAR sollte die Nierenfunktion überprüft werden. Bei längerfristiger Behandlung raten die Experten zu einem regelmässigen Monitoring. Auch bei Anzeichen einer Flüssigkeitsretention oder einer Nierenfunktionsverschlechterung ist während der NSAR-Behandlung eine Überprüfung der Nierenfunktion erforderlich. Hintergrund: Zur renalen Sicherheit von NSAR liegen nur in begrenztem Umfang Daten guter Qualität vor, die meist aus Beobachtungsstudien stammen. Der wichtigste Sicherheitsaspekt ist das Risiko für akutes Nierenversagen (acute kidney injury, AKI). Im Zusammenhang mit NSAR kann es zu einer akuten Tubulusnekrose (ATN) oder seltener zu einer akuten allergischen tubulointerstitiellen Nephritis (TIN) kommen. Zu häufigen Auslösern einer TIN gehören aber auch Proto nenpumpeninhibitoren (PPI).
Gastrointestinale Effekte
Empfehlungen: Zur Behandlung NSAR-bedingter Dyspepsien empfehlen die Experten einen PPI. Von Antazida oder H2-Rezeptor-Antagonisten raten sie dagegen ab. Um Komplikationen im oberen Gastrointestinaltrakt vorzubeugen, sollten nicht selektive NSAR in Kombination mit einem PPI appliziert werden.
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FORTBILDUNG
Für Patienten mit mittlerem Risiko für peptische Ulzera ist eine Monotherapie mit einem selektiven COX-2-Inhibitor geeignet. Patienten mit hohem Risiko für peptische Ulzera erhalten einen selektiven COX-2-Inhibitor in Kombination mit einem PPI. Patienten mit einer Eisenmangelanämie ungeklärter Ursache sollten vor Beginn mit NSAR zum Gastroenterologen überwiesen werden. Bei diesen Patienten ist Celecoxib gegenüber anderen NSAR zu bevorzugen. Hintergrund: NSAR sind mit einem erhöhten Risiko für unerwünschte Ereignisse im oberen und unteren Gastrointestinaltrakt verbunden. Am häufigsten handelt es sich dabei um Dyspepsien. Als schwerste unerwünschte Ereignisse gelten gastrische oder duodenale peptische Ulzera mit Blutungen. Die Korrelation zwischen dyspeptischen Symptomen und peptischen Ulzera ist gering, sodass die Notwendigkeit einer
Prophylaxe anhand von anderen Faktoren als den Sympto-
men abgeschätzt werden muss. So werden das Risiko für
Ulzera und damit verbundene Komplikationen beispielsweise
auch beträchtlich durch den Helicobacter-pylori-Status sowie
durch gleichzeitige Anwendung von ASS oder anderen anti-
thrombotischen Medikamenten beeinflusst.
s
Petra Stölting
Quelle: Szeto CC et al.: Non-steroidal anti-inflammatory drug (NSAID) therapy in patients with hypertension, cardiovascular, renal or gastro intestinal comorbidities: joint APAGE/APLAR/APSDE/APSH/APSN/PoA recommendations. Gut 2020, Jan 14; pii: gutjnl-2019-319300; doi: 10.1136/ gutjnl-2019-319300.
Interessenlage: 5 der 12 Autoren der referierten Empfehlungen haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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