Transkript
Anaphylaxie richtig managen
Notfall in der Hausarztpraxis
FORTBILDUNG
Ihr Patient reagiert nach einer Impfung oder Eisengabe in Ihrer Praxis allergisch mit einer schweren Reaktion des Herz-Kreislauf-Systems sowie des respiratorischen Systems. In solch einer Akutsituation sollte möglichst schnell Adrenalin intramuskulär appliziert werden, gefolgt von einer Sauerstoff- und Volumengabe. Antihistaminika und Glukokortikoide werden im nächsten Schritt verabreicht. Um im Notfall die optimale Patientenversorgung zu gewährleisten und die Patientensicherheit nicht zu gefährden, sollten Sie und Ihr Team sich auf die notwendigen Schritte und das Vorgehen in Ihrer Praxis vorbereiten.
Beate Lühe, Jens Rocktäschel
Die Anzahl der Patienten mit Allergien hat in den letzten Jahren zugenommen. So zeigen Daten eine Zunahme der nahrungsmittelabhängigen Anaphylaxie im Kindesalter und der medikamenteninduzierten Anaphylaxie im Erwachsenenalter (1). Die frühzeitige Behandlung dieser Akutsituation, insbesondere bei schweren Reaktionen des Herz-Kreislauf-Systems sowie des respiratorischen Systems, ist entscheidend für den Verlauf der Anaphylaxie. Die Mortalitätsrate wird auf 1 bis 3 Todesfälle im Jahr pro 1 Million Einwohner geschätzt (2). Der Unterschied zu anderen Erkrankungen ist, dass die Anaphylaxie hoch akut auftreten kann, ohne chronischen Verlauf oder Prodromi, und alle Altersklassen von Patienten betrifft. Umso fataler ist es, wenn keine adäquate, rechtzeitige Therapie durch medizinisches Personal eingeleitet wird (3). Laut aktueller Datenlage aus dem Anaphylaxieregister bekommt nur 1 von 4 Patienten Adrenalin durch die ihn versorgenden Ärzte. Patienten, denen Adrenalin verabreicht wird, bekommen es häufig intravenös, obwohl die intramuskuläre Gabe besonders in Bezug auf Patientensicherheit deutlich günstiger ist (3).
MERKSÄTZE
� First-line-Medikament zur Behandlung von Patienten mit einer Anaphylaxie ist Adrenalin intramuskulär. Zusätzliche Massnahmen sind die Gabe von Sauerstoff und Volumen sowie die symptomorientierte Lagerung des Patienten.
� Es bestehen noch enorme Lücken bei der Verschreibung von Notfallmedikamenten, insbesondere bei den Adrenalinautoinjektoren, sowie bei deren Instruktion und Schulung. Diese sind der wichtigste Bestandteil in der Behandlung der Anaphylaxie.
� Nach der Akutversorgung muss der Patient einer weiterführenden Allergiediagnostik zugeführt werden.
Wie behandle ich richtig?
Das Medikament der ersten Wahl für Erwachsene und Kinder ist Adrenalin – am besten sofort i.m. (beim nicht reanima tionspflichtigen Patienten)! Es wird empfohlen, 0,3–0,5 mg (ab 30–50 kg Körpergewicht [KG]) ohne Verdünnung in den lateralen Oberschenkel zu injizieren (5). Dafür kann auch ein vorhandener Adrenalinautoinjektor verwendet werden, wie er sowohl für Kinder als auch für Erwachsene erhältlich ist. Dieser Pen entlädt über eine automatisch hervortretende Nadel das Adrenalin in den Muskel. Es sind derzeit in Deutschland drei unterschiedliche Präparate verfügbar, sie unterscheiden sich in Nadellänge, Dosis (150/300/500 µg) und Handhabung*. Es muss entweder nur eine Schutzkappe über der Nadel oder noch zusätzlich eine Sicherungskappe vom gegenüberliegenden Ende des Pens entfernt werden. Jeder Hersteller verteilt Übungspens, mit denen man die korrekte Anwendung üben kann (4). Die Kohorten des Anaphylaxieregisters zeigen, dass nur bei etwa 10 Prozent eine zweite Gabe von Adrenalin notwendig wird (6). Es antagonisiert funktionell über Aktivierung von Alpha- und Betaadrenorezeptoren alle wichtigen Pathomechanismen der Anaphylaxie durch Vasokonstriktion, Erniedrigung der Gefässpermeabilität, Bronchodilatation, Ödemreduktion und positive Inotropie am Herzen. Sollte die gewünschte Wirkung nicht eintreten, kann die Anwendung alle 5 bis 10 Minuten wiederholt werden. Bei dieser Applikationsform ist das Risiko schwerer kardialer Nebenwirkungen erheblich geringer als bei der intravenösen Verabreichungsform von Adrenalin. Nur bei fehlender Stabilisierung und drohender Dekompensation (Atmung und/oder Kreislauf) sollte Adrenalin intravenös verabreicht werden, dabei wird eine Verdünnung von 1 mg Adrenalin in 10 ml Natriumchlorid (NaCl 0,9 %) angestrebt. Das entspricht einer Lösung von 0,1 mg/ml; unter kontinuierlicher Kreislaufüberwachung wird eine Dosis von 0,05 bis 0,1 ml/kg KG empfohlen (5).
* In der Schweiz sind Präparate verfügbar mit Dosierungen von 0,15 mg, 0,3 mg, 0,5 mg, 1 mg und 5 mg (Anmerkung der Redaktion)
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FORTBILDUNG
Fallbeispiel 1: Das hätte schiefgehen können
Eine junge Frau hatte sich dazu entschlossen, mit ihrem Freund bei einer Kulturveranstaltung mit einem Drei-Gänge-Menü einen wunderschönen Abend zu geniessen. Da bei ihr vor Kurzem eine schwere Erdnussallergie diagnostiziert worden war, hatten beide das Essen allergenfrei gewählt. Nach dem Genuss eines weiteren, zusätzlich gewählten Desserts entwickelte die junge Frau respiratorische Probleme. Ihren Adrenalinpen hatte sie zum Glück dabei, doch leider wussten weder sie noch ihr Freund, wie dieser anzuwenden war. Bei der Veranstaltung war ein Sanitäter einer Hilfsorganisation vor Ort, der jedoch noch keinerlei Einweisung in die Benutzung dieses Adrenalinautoinjektors erfahren hatte, sodass schliesslich ein entsprechender Notruf abgesetzt wurde. Zügig erschienen sowohl ein Rettungswagen als auch das alarmierte Notarzteinsatzfahrzeug. Es war keine vital bedrohliche allergische Reaktion, was aber wäre gewesen, wenn?
Fallbeispiel 2: Blick in Ihre Praxis
Kurz nach Verabreichung einer Impfung oder gar einer Eisengabe fängt der Patient Horst S. plötzlich an zu reagieren. Eine generalisierte Urtikaria entwickelt sich, Herr S. hat starke Bauchkrämpfe und fängt an zu erbrechen. Das Team eilt zu ihm, manövriert ihn schnell auf eine Liege. Schon treten weitere Symptome auf. Herr S. klagt über ein Kratzen im Hals und bekommt zunehmend schlechter Luft, eine Hypoxie wird sichtbar. Er entwickelt nicht nur ein Glottis- und Larynxödem, sondern auch einen ausgeprägten Bronchospasmus. Sein Blutdruck sinkt rapide auf 75/45 mmHg, und sein Puls steigt auf 130 bpm. Unvorstellbar? So etwas kommt in der Praxis nicht vor? Leider doch, solch heftige Reaktionen sind zwar selten, aber durchaus möglich. Die klinischen Symptome können vielfältig sein, sie erstrecken sich über Hauterscheinungen und subjektive Symptome bis zur Beteiligung von mehreren Organsystemen, zum Beispiel dem Respirations- und Gastrointestinaltrakt und dem Herz-Kreislauf-System. Durch einen Kreislaufkollaps, einen kardiogenen Schock, ein Larynxödem oder einen schweren Bronchospasmus ist ein tödlicher Ausgang nicht ausgeschlossen (4).
Nach aktuellen Angaben des Anaphylaxieregisters steigt die Zahl der Patienten, die sich Adrenalin im Notfall selbst injizieren (von 23% im Jahr 2014 auf 29% im Jahr 2016) (6). Um diese Zahl noch weiter zu steigern, müssen medizinisches Personal, Betroffene und deren Angehörige geschult werden. Zu wenige wissen, wie man im Notfall richtig reagiert.
Zusätzliche Massnahmen
Es müssen weiterhin allgemeine Massnahmen wie die Sauerstoff- und Volumengabe eingeleitet werden. Der Notruf sollte schnellstmöglich abgesetzt und der Patient in eine adäquate Lagerung (symptomorientiert) verbracht werden. Ein intravenöser Zugang für die Applikation von Volumen und anderen Medikamenten sollte etabliert werden. Additiv können nach der Gabe von Adrenalin auch Antihistaminika und Glukokortikoide verabreicht werden. Studien, die die Wirkung dieser Medikamente in der Akutsituation bei respiratorischen und/oder kardiovaskulären Symptomen beweisen, gibt es bislang nicht. Antihistaminika mildern jedoch die Hautsympto-
Abbildung: Intramuskuläre Applikation von Adrenalin mit einem Autoinjektor (© Beate Lühe)
matik, und Glukokortikoide können das Risiko einer biphasischen Reaktion, besonders bei Patienten mit vorhandenem Asthma bronchiale, verhindern. Die Patienten, die Adrenalin während einer schweren allergischen Reaktion erhalten haben, sollten mindestens 8 bis 12 Stunden stationär betreut werden, denn in etwa 10 bis 20 Prozent der Fälle ist eine biphasische Reaktion zu erwarten (7). Anschliessend sollten Betroffene ausreichend informiert und einer weiterführenden Allergiediagnostik zur Auslöserermittlung zugeführt werden (4). Sie benötigen zur Selbstmedikation einen Adrenalinautoinjektor, ein Antihistaminikum sowie ein Glukokortikoid (4). Ebenso wichtig ist es, das Management von Anaphylaxien und pneumologischen Notfällen in situ zu trainieren.
Unsere Empfehlung für ein In-situ-Training
Studien haben gezeigt, dass ein Training im eigenen Arbeitsbereich gemeinsam mit dem dort tätigen Personal unter Nutzung des vorhandenen Notfallequipments das Teamverhalten positiv beeinflusst und die Patientensicherheit erhöht (8). Auf der Basis unserer 30-jährigen Trainingserfahrung haben wir ein spezielles In-situ-Simulationskonzept entwickelt. Ziel dabei ist es, das Praxisteam auf das Management schwerer anaphylaktischer Reaktionen vorzubereiten. Gemeinsam erarbeiten wir anhand definierter Kasuistiken das symptombezogene, schrittweise Vorgehen in der Anaphylaxie. Häufig erleben wir in den ersten Trainings eine gewisse Unsicherheit bei der Gabe von Adrenalin; viele trauen sich nicht, es frühzeitig zu injizieren, greifen erst auf Antihistaminika und Glukokortikoide zurück. Laut Empfehlungen der einschlägigen Fachgesellschaften ist Adrenalin i.m. aber das Medikament der ersten Wahl. Auch die Handhabung der Adrenalinautoinjektoren ist wichtiger Bestandteil des In-situ-Trainings. Nicht selten sehen wir eine falsche Handhabung bei den Simulationen. Aus diesem Grund haben wir in einem Video die korrekte Anwendung der gängigen Autoinjektoren zusam-
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FORTBILDUNG
mengestellt (9). Es ist notwendig, die richtige Anwendung
immer wieder zu trainieren, um akzidentelle Injektion von
Adrenalin in den eigenen Finger zu vermeiden, was laut Er-
fahrungsberichten von Ärzten und Assistenzpersonal nicht
selten passiert. Das führt jedoch im Notfall zu einer verzöger-
ten Therapie und erhöht das Stresslevel um einen weiteren
Patienten in der Praxis.
Unsicherheiten basieren jedoch häufig nicht primär auf feh-
lendem Wissen, sondern auf den fehlenden Teamerfahrun-
gen. Wie reagieren wir in dieser seltenen Stresssituation?
In-situ-Trainings schaffen die nötige Verlässlichkeit im Team
und stärken die Routine beim Management schwerer ana-
phylaktischer Reaktionen, die für die effiziente Behandlung
dieses Notfalls unabdingbar ist.
s
Beate Lühe Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Agentur Notruf D-10249 Berlin
Dr. med. Jens Rocktäschel Facharzt für Anästhesie und Notfallmedizin Vivantes Klinikum Kaulsdorf D-12621 Berlin
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 16/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren.
Literatur: 1. Lee S et al.: Trends, characteristics, and incidence of anaphylaxis in
2001–2010: a population-based study. J Allergy Clin Immunol 2017; 139(1): 182–188.e2. 2. Helbling A et al.: Incidence of anaphylaxis with circulatory symptoms: a study over a 3-year period comprising 940 000 inhabitants of the Swiss Canton Bern. Clin Exp Allergy 2004; 34(2): 285–290. 3. Worm M et al.: Auslöser und Therapie der Anaphylaxie – Auswertung von mehr als 4000 Fällen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Dtsch Arztebl Int 2014; 111(21): 367–375. 4. Ring J: Adrenalin und Anaphylaxie – Gedanken zur Überarbeitung der aktuellen Leitlinie. Allergologie 2019: 4: 162–163. 5. Ring J et al.: Guideline for acute therapy and management of anaphylaxis: S2 Guideline of the German Society for Allergology and Clinical Immunology (DGAKI), the Association of German Allergologists (AeDA), the Society of Pediatric Allergy and Environmental Medicine (GPA), the German Academy of Allergology and Environmental Medicine (DAAU), the German Professional Association of Pediatricians (BVKJ), the Austrian Society for Allergology and Immunology (ÖGAI), the Swiss Society for Allergy and Immunology (SGAI), the German Society of Anaesthesiology and Intensive Care Medicine (DGAI), the German Society of Pharmacology (DGP), the German Society for Psychosomatic Medicine (DGPM), the German Working Group of Anaphylaxis Training and Education (AGATE) and the patient organization German Allergy and Asthma Association (DAAB). Allergo J Int 2014; 23(3): 96–112. 6. Worm M: Anaphylaxie – aktuelle Registerdaten: Risikofaktoren für schwere allergische Reaktionen und Umsetzung der Leitlinie in der klinischen Praxis. Allergologie 2019; 4: 160–161. 7. Worm M: Anaphylaxie: Wie richtig handeln? Dtsch Arztebl 2018; 115(10): [10]; DOI: 10.3238/PersPneumo.2018.03.09.02. 8. Wheeler DS et al.: High-reliability emergency response teams in the hospital: improving quality and safety using in situ simulation training. BMJ Qual Saf 2013; 22(6): 507–514. 9. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch? v=uh5xwPKnYis&t=68s.
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