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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Neurologie
Witwenschaft als Demenzrisiko
Im Alter den Partner zu verlieren könnte ein noch unterschätzter Risikofaktor für den Absturz in die Demenz sein. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer kürzlich publizierten Studie aus den USA. Teilnehmer waren 257 Personen der Kohorte «Harvard Aging Brain Study», in der es um den Verlauf der kognitiven Entwicklung über Jahre hinweg geht. Aufgenommen werden kognitiv gesunde Personen ab einem Alter von 50 Jahren, β-Amyloid-Status (PET-Scan) und kognitive Leistungsfähigkeit (Preclinical Alzheimer Cognitive Composite Test) werden regelmässig bestimmt. In der vorliegenden Studie lag das Alter der Probanden bei Eintritt in die Studie zwischen 67 und 79 Jahren. 145 Teilnehmer waren verheiratet, 77 nicht verheiratet (ledig, geschieden, getrennt lebend) und 35 verwitwet. In der Gruppe der nicht verheiraten und der verwitwe-
ten Personen waren die Frauen in der Überzahl (73–89%). β-Amyloid-Status und Kognition wurden 3 Jahre lang verfolgt. Dabei zeigte sich erwartungsgemäss, dass ein erhöhtes β-Amyloid mit einem rascheren Verlust der kognitiven Fähigkeiten assoziiert war. Bei den Verwitweten ging es mit der Kognition steiler bergab als in den beiden anderen Gruppen. Der Verlust kognitiver Fähigkeiten erfolgte bei den Verwitweten mit hohem β-Amyloid fast dreimal schneller als bei den Verheirateten mit hohem β-Amyloid. Zwischen den Gruppen der verheirateten und der alleinlebenden, nicht verwitweten Personen fand sich hingegen kein Unterschied im Verlauf der kognitiven Fähigkeiten. Die Resultate dieser Studie sind angesichts der geringen Probandenzahl mit Vorsicht zu interpretieren. Auch geben die Autoren zu, dass sie keine Daten
bezüglich weiterer, möglicherweise
relevanter Parameter berücksichtigen
konnten (z. B. Entzündungsmarker,
Schlaf). Trotzdem wagen sie die Schluss-
folgerung, dass die Witwenschaft per se
ein wesentlicher Risikofaktor für die
Entwicklung einer Alzheimer-Demenz
sei. Schliesslich sei der Verlust des Ehe-
partners ein schwerer Schicksalsschlag,
der bekanntermassen auch das Risiko
für Herzinfarkt, Schlaganfall oder nicht
akute KHK-Syndrome erhöhe, zumin-
dest für die Monate nach dem Todes-
fall. Statistisch betrachtet, hatte das
erhöhte Demenzrisiko für Verwitwete
übrigens nichts mit Depressionen zu
tun.
RBO s
Biddle KD et al.: Associations of widowhood and β-amyloid with cognitive decline in cognitively unimpaired older adults. JAMA Network Open 2020; 3(2): e200121, online Feb 26th, 2020.
Prävention
Studie zu E-Zigaretten zurückgezogen
Im vergangenen Jahr wurde eine Studie aus den USA publiziert, wonach das Rauchen von E-Zigaretten mit einem höheren Herzinfarktrisiko assoziiert sei (1). Diese Studie wurde am 18. Februar 2020 von den Herausgebern des «Journal of the American Heart Association» zurückgezogen (2), weil eine nachträglich angeforderte Datenanalyse nicht rechtzeitig von den Autoren geliefert wurde. Die Studienautoren, Prof. Stanton A. Glantz und Dr. Dharma Bhatta von der University of California hatten ihre Schlussfolgerungen aus Daten der Umfrage «Population Assessment of Tobacco and Health (PATH)» in den USA gezogen. In PATH wurde eine repräsentative Gruppe von US-Bürgern zu ihren Rauchgewohnheiten und ihrer Gesundheit befragt, zum Beispiel ob sie jemals einen Herzinfarkt hatten. Glantz und Bhatta schrieben damals, dass sie anhand der vorliegenden Daten nicht in
jedem Fall sicher sein konnten, ob der Herzinfarkt tatsächlich erst nach dem Beginn des E-Zigaretten-Konsums stattgefunden habe. Sie hätten diese Unsicherheit jedoch durch den Abgleich mit anderen Angaben der Befragten minimiert. Bereits kurz nach der Publikation monierte Prof. Brad Rodu, Universität Kentucky, dass die meisten der Herzinfarkte bereits vor dem Beginn des E-Zigaretten-Konsums eingetreten und die Schlussfolgerungen der Autoren darum falsch seien. Rodu gilt als ein der Tabakindustrie nahestehender Mediziner. Die Herausgeber der Zeitschrift forderten Glantz und Bhatta auf, ihre Auswertung mit den individuellen Angaben der jeweiligen in PATH befragten Personen zu wiederholen. Die Autoren sagten zu, lieferten die Auswertung bis zur gesetzten Deadline aber nicht. Ihre Begründung dafür war, dass sie keinen
Zugriff mehr auf die PATH-Datenbank
erhalten hätten. Diese Datenbank wird
vom «Inter-University Consortium for
Political and Social Research» an der
Universität Michigan verwaltet. Man
habe über Monate versucht, wieder Zu-
griff auf die Datenbank zu erlangen,
aber die Universität Michigan habe alle
Zugriffe für seine Universität gekappt,
sagte Glantz gegenüber dem Portal
«Retraction Watch» (3). Er und sein
Co-Autor stünden aber noch immer
hinter ihrer Publikation.
RBO s
1. Bhatta DN, Glantz SA: Electronic cigarette use and myocardial infarction among adults in the US population assessment of tobacco and health. J Am Heart Assoc 2019; 8: e012317.
2. Retraction to: Electronic cigarette use and myocardial infarction among adults in the US population assessment of tobacco and health. J Am Heart Assoc 2020; 9: e014519.
3. https://retractionwatch.com/2020/02/18/ journalretracts-hotly-contested-paper-on- vaping-and-heart-attacks/
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ARS MEDICI 5 | 2020
© Gerd Altmann/pixabay.com
Neurologie
Wie viele 100-Jährige sind geistig fit?
Rückspiegel
340 Teilnehmer der 100-plus-Studie in den Niederlanden wurden von 2013 bis 2019 jedes Jahr besucht, bis sie verstarben oder die Studienteilnahme aus verschiedenen Gründen abbrechen mussten. Getestet wurde die kognitive Leistungsfähigkeit mit dem «Mini Mental State Examination» (MMSE). Im MMSE können 0 bis 30 Punkte erreicht werden, je höher die Punktzahl, desto besser die kognitive Leistungsfähigkeit. Zu Beginn der Studie waren die Teilnehmer im Durchschnitt knapp über 100 Jahre alt. 72 Prozent von ihnen waren Frauen. 46 Prozent der Probanden erreichten zu Beginn, also im Alter von gut 100 Jahren, mindestens 26 Punkte im MMSE. Eine höhere Punktzahl im
MMSE ging mit einer höheren Lebenser wartung einher. Zwei Jahre nach Eintritt in die Studie waren 39 Prozent der Probanden verstorben, die mindestens 26 Punkte im MMSE erreicht hatten, während von denjenigen mit schlechteren Testergebnissen nach zwei Jahren 58 Prozent nicht mehr am Leben waren. Auch der kognitive Abbau verlief nach einem schlechteren MMSE-Resultat rascher. Wer zu Beginn weniger als 26 Punkte erreichte, verlor danach im Durchschnitt 1,68 Punkte pro Jahr (95%-Konfidenzintervall[KI]: −2,45 bis −0,92 Punkte pro Jahr). Wer mehr als 26 Punkte erreichte, verlor im weiteren Verlauf im Durchschnitt nur 0,71 Punkte (95%-KI: −1,08 bis −0,35 Punkte pro Jahr). Die Studie umfasste kein repräsentatives Spektrum der ab 100-Jährigen, sondern nur eine Auswahl derjenigen, die in der Lage und willens waren, daran teilzunehmen. Der Anteil der geistig fitten 100-Jährigen ist in der Gesamtbevölkerung darum wesentlich geringer als in der Studie. Das Forscherteam aus Amsterdam schätzt, dass etwa 10 Prozent der 100-Jährigen kognitiv gesund sind. RBO s
Beker N et al.: Longitudinal maintenance of cognitive health in centenarians in the 100-plus study. JAMA Network Open 2020; 3(2): e200094, online Feb 26th, 2020.
Infektiologie
Alle reden von Corona, ...
Vor 10 Jahren
Mangelnder Durchblick
Die Radiologen Matthew W. Kirby und Charles E. Spritzer von der Duke University in Durham, USA, stellen fest, dass die Diagnose von Hüftfrakturen per Röntgen zu wünschen übrig lässt. Sie nehmen Röntgen- und MRI-Aufnahmen von 92 Patienten unter die Lupe, die mit entsprechenden Schmerzen in die Notfallaufnahme kamen. Bei 13 von ihnen zeigten sich im MRI Frakturen, die im Röntgenbild unentdeckt geblieben waren, bei 15 Patienten waren im MRI zusätzliche Frakturen zu sehen. Bei 11 Patienten hingegen glaubte man im Röntgenbild Frakturen zu sehen, die gemäss MRI gar keine waren. Bei 43 von 59 Patienten ohne Fraktur zeigten sich im MRI Weichteilverletzungen als mögliche Ursache der Schmerzen.
Vor 50 Jahren
Gesundes Volk
In der Schweiz läuft die Aktion «Gesundes Volk». Dazu gehören unter anderem Fernsehspots und eine Zeitschrift, die in allen Kantonen an die Haushalte, Schulen und Betriebe verteilt wird. Walter Oswald, Redaktor von ARS MEDICI, sieht die Aktion kritisch: «Was nutzt es schon, gegen den Alkohol loszuziehen (...), wenn nach wie vor Mineralwasser und Kaffee ein Vielfaches von dem kosten, was der Gast für ein Glas Bier zu bezahlen hat.»
... aber wie sieht es eigentlich mit der saisonalen Grippe aus? Der epidemische Schwellenwert der Influenza (69 Verdachtsfälle auf 100 000 Einwohner) wurde in der zweiten Jahreswoche überschritten. In der 8. Jahreswoche betrug die Inzidenz der saisonalen Grippe 226 Fälle pro 100 000 Einwohner – mit stabiler oder sinkender Tendenz (1). In den Stichproben, die von Sentinella-Ärzten an das Nationale Referenzzentrum für Influenza (CNRI) eingeschickt wurden, fand man bis jetzt am häufigsten den Subtyp A(H1N1) pdm09 und die Linie B-Victoria sowie einige A(H3N2). A(H1N1)pdm09 und die Viren der Linie B-Victoria werden von den trivalenten und quadrivalenten Impfstoffen dieser Saison abgedeckt (1).
Eine recht gute Wirkung bescheinigen die CDC (Centers for Disease Control and Prevention) in den USA dem diesjährigen Grippeimpfstoff. Gemäss einer vorläufigen Auswertung zur laufenden Grippesaison liegt der Impfschutz bei 50 Prozent für die Linie B-Victoria und bei 37 Prozent für den Subtyp A(H1N1)pdm09. Insgesamt wird der Impfschutz auf durchschnittlich 45 Prozent geschätzt, und er ist bei Kindern und Jugendlichen generell etwas höher als bei Erwachsenen (2). RBO s
1. www.bag.admin.ch: Saisonale Grippe – Lagebericht Schweiz, 26. Februar 2020.
2. Dawood FS et al.: Interim estimates of 2019–20 seasonal influenza vaccine effectiveness – United States, February 2020.
Vor 100 Jahren
Geburtsgewicht
750 Gramm Geburtsgewicht gelten als unterste Grenze der Lebensfähigkeit frühgeborener Kinder. Mit einem Geburtsgewicht von 1500 bis 2000 Gramm überlebt nur jedes vierte Kind.RBO s
ARS MEDICI 5 | 2020