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FORTBILDUNG
Das richtige Mass finden
Diagnostik bei Rückenschmerzen
Die meisten Rückenschmerzen sind unspezifisch und können vom Hausarzt mit Bewegungsempfehlungen und Schmerzmitteln in der Regel gut behandelt werden. Aber natürlich gilt es auch, die Fälle, die eine weitergehende Diagnostik beziehungsweise eine Überweisung zum Facharzt erfordern, herauszufiltern und nicht zuletzt eine Überversorgung zu verhindern.
Oliver Oetke
Vielen Rückenschmerzpatienten kann der Hausarzt mit einfachen Mitteln helfen. In manchen Fällen erfordert die Differenzialdiagnostik jedoch eine rasche Überweisung zum Spezialisten. Was erwartet den Patienten dort? Ist die zunehmende Häufigkeit invasiver Eingriffe gerechtfertigt, und welche Alternativen gibt es?
Rückenschmerz – kein Bagatellphänomen
Rücken- und Nackenschmerzen gehören zu den häufigsten Gründen eines Hausarztbesuchs (1). Durch den demografischen Wandel ist hier ein Anstieg der Zahlen zu erwarten. Auch wegen der hohen Chronifizierungsrate und der damit einhergehenden verminderten Lebensqualität sollte man eine Bagatellisierung der Problematik vermeiden. Schon heute liegt die Inzidenz chronischer Rückenschmerzen in der deutschen Bevölkerung bei 21 Prozent (1).
Diagnostik beim Hausarzt: Auf mögliche Chronifizierung achten
Der Hausarzt kann eine orientierende Untersuchung der Wirbelsäule und des Nervensystems vornehmen, um neurologische Ausfälle wie Taubheitsgefühle oder Lähmungserscheinungen auszuschliessen.
Bei der Anamnese sind besonders extravertebragene Ursachen und die sogenannten Red Flags (Warnhinweise) zu beachten. Organische Ursachen für Rückenschmerzen gelten mit lediglich 2 Prozent als selten (2). Auch sind in der ambulanten Versorgung nur in Ausnahmefällen Warnhinweise auf eine gefährliche Grunderkrankung zu beobachten, erfordern aber im Falle des Falles – wie etwa bei Frakturen, Infektionen, Neuropathien, Tumoren oder axialer Spondyloarthritis – eine kurzfristige Abklärung beim Spezialisten. Bei der Beurteilung der Symptomatik ist stets das Gesamtbild zu betrachten, was beim Hausarzt durch die häufig langjährigen Patientenkontakte besonders ergiebig sein dürfte. Wichtig sind auch die Yellow Flags, die auf eine mögliche Chronifizierung des Krankheitsverlaufs hindeuten. Dazu gehören etwa depressive Neigungen oder passives Schmerzverhalten. Psychosomatisches Krankheitsgeschehen wird nach wie vor häufig unterschätzt, obwohl die Inzidenz allein bei Depressionen bei 18 Prozent liegt (3). Nach 4 Wochen Schmerzdauer – trotz Therapie – ist der Einsatz eines Screeninginstruments zur genaueren Evaluierung sinnvoll. Arbeitsplatzbezogene Faktoren Blue Flags wie Schwerarbeit oder berufliche Unzufriedenheit können ebenfalls zu einer Chronifizierung führen und sind daher genauso relevant.
MERKSÄTZE
� Die meisten Rückenschmerzen sind nicht spezifisch. Meist sind Anamnese und körperliche Untersuchung durch den Hausarzt, reichlich Bewegung und Schmerzmittel für eine erfolgreiche Behandlung ausreichend.
� Bei Verdacht auf anatomische Ursachen oder eine Chronifizierung kann man nach einer Überweisung zum Spezialisten Röntgenbilder anfertigen.
� Operationen sind in diesem Fall eine häufig gewählte Therapie, lassen sich aber durch die Ausschöpfung konservativer – evtl. auch alternativmedizinischer – Verfahren womöglich in manchen Fällen vermeiden.
Röntgenbilder häufig unnötig
Sollten die Beschwerden schon länger als 6 Wochen bestehen und haben die initialen schmerztherapeutischen Massnahmen keine relevante Wirkung gezeigt, ist eine Überweisung zur MRT-(Magnetresonanztomografie-)Untersuchung angezeigt – mit anschliessender Vorstellung bei einem Orthopäden mit Wirbelsäulenschwerpunkt. Bei nicht spezifischen Kreuzschmerzen, an denen 85 bis 90 Prozent der Rückenpatienten leiden, ist keine Ursache erkennbar (4). Schöpft der Hausarzt durch Anamnese und körperliche Untersuchung keinen Verdacht auf eine ernst zu nehmende Pathologie, ist keine weiterführende Diagnostik erforderlich, so der Expertenkonsens (2). Dennoch ist die Anwendung bildgebender Diagnostik weitverbreitet. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse werden jedes Jahr rund 50 000 Patienten umsonst geröntgt (5).
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Abbildung 1: Röntgenbild eines vermeintlichen Bandscheibenproblems. Einen Bandscheibenvorfall kann man auf der Aufnahme allerdings nicht erkennen, sondern nur ein stark abgenutztes Bandscheibensegment. Zur Objektivierung eines Bandscheibenvorfalls wäre ein MRT erforderlich.
auf eine multimodale konservative Therapie an. Der Hausarzt übernimmt dabei häufig die Lotsenfunktion. Als erste Anlaufstelle für Patienten koordiniert er die nächsten Behandlungsschritte. Da der Patient massgeblich zum Therapieerfolg beiträgt, ist die Sicherung der Compliance durch eine umfassende Aufklärung besonders wichtig. Die Ausräumung weitverbreiteter Vorurteile spielt dabei eine bedeutende Rolle. So soll der Patient je nach Indikation zu Bewegung und zu gesundheitsbewusstem Verhalten animiert werden, denn bekanntermassen fördern körperliche Aktivität und Stressreduktion in der Regel die Genesung. Zu den gängigen Behandlungsverfahren gehören – falls erforderlich – die kurzzeitige Schonung und die Gabe von nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) in möglichst niedriger Dosis und nur für kurze Zeit. Physiotherapie mit initialer Detonisierung der Muskulatur mit nachfolgend schrittweiser Stärkung der dorsoventralen Rumpfmuskulatur und Akupunktur können genauso zum Einsatz kommen (Abbildungen 2 und 3). Bei anhaltenden Beschwerden können lokale Injektionen mit einem Lokalanästhetikum sinnvoll sein. Bei Nachweis struktureller Veränderungen an der Wirbelsäule, wie einem Bandscheibenvorfall, sollte eine Überweisung zum Orthopäden mit Wirbelsäulenschwerpunkt erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt sollte der Arzt mit dem Patienten über den Einsatz gezielter Injektionen in die betroffenen Strukturen (Wirbelgelenke, Nervenaustrittskanäle, Wirbelkanal) der Wirbelsäule sprechen. Hier können unterschiedliche Substanzen zur Anwendung kommen: s kortisonhaltige Medikamente s Hyaluronsäure s körpereigenes plättchenreiches Blutplasma (PRP).
Abbildung 2: Klassisch bei Rückenschmerzen: die Physiotherapie
Abbildung 3: Akupunkturnadel zur Schmerzlinderung
Die frühzeitige Röntgendiagnostik ist übrigens nicht nur unnötig, sondern auch risikobehaftet. Vermeintliche Bandscheibenprobleme (Abbildung 1) führen häufig zu einer vorzeitigen Operation, die in einigen Fällen erfolglos bleibt, da das Schmerzgeschehen komplexer und die Bandscheibe nicht zwangsläufig die tatsächliche Ursache ist.
Konservative Massnahmen bei nicht spezifischen Rückenschmerzen
Vor allem nicht spezifische Rückenschmerzen, das heisst Beschwerden, die im Wesentlichen auf eine funktionelle Störung der Rückenmuskulatur zurückzuführen sind, sprechen gut
Eine mögliche Opioidtherapie ist regelmässig zu evaluieren. Bei chronischen Rückenschmerzen sind auch Entspannungsverfahren und Verhaltenstherapie sinnvoll.
Werden spezifische Rückenschmerzen zu häufig operiert?
Spezifische Rückenschmerzen erfordern eine auf die anatomische Ursache abgestimmte Therapie. Mögliche zugrunde liegende Krankheitsbilder sind Bandscheibenvorfälle, Wirbelgleiten, Arthrose, Wirbelkörperfrakturen und viele weitere Erkrankungen. Je nach Indikation helfen hier entzündungshemmende und schmerzstillende Medikamente, Physio therapie und Orthesen. Dennoch ist die Anzahl von Rückenoperationen laut Bertelsmann-Stiftung von 2007 bis 2015 um 71 Prozent gestiegen (6). Die Steigerung ist im Grenzbereich derjenigen Patienten zu vermuten, bei denen zwar die Möglichkeit, aber nicht die Notwendigkeit einer Operation besteht. Natürlich stellt sich hier die Frage, ob alle konservativen Massnahmen ausgeschöpft wurden.
Bessere Heilungschancen durch alternative Verfahren?
Alternativmedizinische Verfahren sind in manchen Fällen eine sinnvolle Ergänzung zur Standardtherapie. Laut Studien (7) erzielt beispielsweise die Akupunktur eine kurzzeitige Schmerzlinderung bei chronischen Lendenwirbelsäulenbeschwerden. Auch Chiropraktik kann je nach Indikation eine Besserung herbeiführen. Die ablehnende Haltung vieler Pa-
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tienten gegenüber Operationen und die gleichzeitige Offenheit gegenüber nebenwirkungsarmen alternativen Verfahren führen zu einer grösseren Verbreitung entsprechender Ansätze.
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 15/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Neuer Ansatz:
Eigenblutbehandlungen an der Wirbelsäule
Eigenblutbehandlungen gibt es bereits seit 100 Jahren. In der
Orthopädie kommt PRP seit zwei Jahrzehnten zur besseren
Wundheilung nach Operationen zum Einsatz. Speziell in der
Wirbelsäulentherapie ist dieses Verfahren aber noch recht
unbekannt. Das Wirkprinzip von PRP liegt in der Freisetzung
von Wachstumsfaktoren und in der Stimulation der Selbst-
heilungskräfte.
Ein mögliches Einsatzgebiet sind degenerative Wirbelsäulen-
erkrankungen. So eignet sich die Eigenbluttherapie beispiels-
weise zur Verzögerung des Fortschritts einer Arthrose, zur
Schmerzlinderung und zur Verbesserung der Beweglichkeit.
Sie ist eine interessante Alternative für Patienten mit einer
Kortisonunverträglichkeit. Kleinere Studien zeigten positive
Effekte der PRP-Therapie bei degenerativen Bandscheiben-
erkrankungen im Lendenwirbelbereich (8). Die Kassen er-
statten die Kosten allerdings bislang nicht.
s
Literatur: 1. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, www.rki.de/DE/Content/
Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/ rueckenschmerzen.pdf?__blob=publicationFile 2. Nationale Versorgungsleitlinie unspezifischer Kreuzschmerz, www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007l_S3_Kreuzschmerz_2017-03. pdf 3. Bundespsychotherapeutenkammer, www.bptk.de/depression-das-6nationale-gesundheitsziel/ 4. Patienteninformation der Bundesärztekammer und der kassenärztlichen Vereinigung, www.patienten-information.de/patientenleitlinien/ patientenleitlinien-nvl/html/kreuzschmerz/kapitel-4 5. Ärztezeitung, www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/schmerz/ rueckenschmerzen/article/883005/rueckenschmerzen-geroengt.html 6. Bertelsmann Stiftung: Faktencheck Rücken, www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/VV_ FC_Rueckenoperationen_Studie_dt_final.pdf 7. Liu L et al.: Acupuncture for lower back pain: an overview of systematic reviews. Evid Based Complement Alternat Med 2015; 2015: 328196. 8. Mohammed S, Yu J: Platelet-rich plasma injections: an emerging therapy for chronic discogenic low back pain. J Spine Surg 2018; 4: 115–122.
Dr. med. Oliver Oetke Orthospinum D-80331 München