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FORTBILDUNG
Sind Guidelines rechtlich verbindlich?
Es kommt darauf an ...
Immer wieder taucht die begründete Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit von Guidelines beziehungsweise nach der Haftbarkeit des Arztes auf, der eine Guideline nicht befolgt. Die Antwort darauf lautet wie so oft in der Rechtswissenschaft: Es kommt darauf an.
Ursina Pally
Auszugehen ist vom Zweck von Guidelines. Sie sollen keine Haftungsgrundlagen schaffen, sondern die medizinische Behandlungsqualität verbessern. Grundsätzlich stellen sie Handlungskorridore mit Abweichungsmöglichkeiten dar, im Einzelfall verpflichten sie Ärztinnen und Ärzte sogar zu einem Abweichen (1–3). Guidelines unterscheiden sich zudem in ihrer Qualität und damit in ihrer Verbindlichkeit. Diese hängt von ihrer Evidenzbasierung und dem Konsensbildungsverfahren ab. Geben Guidelines die wissenschaftliche Evidenz sorgfältig wieder und werden sie in einem akzeptierten und gesicherten Verfahren zur Konsensbildung festgelegt, dann gelten sie als hochwertig. Sie bilden den medizinischen Standard zum Zeitpunkt ihres Beschlusses ab und halten fest, in welchen Situationen sie anwendbar sind (4). Als Standard gilt das tatsächliche gegenwärtig gegebene, durchschnittliche Leistungsniveau. Dieses entspricht der Behandlung, die ein durchschnittlicher Arzt gewährleisten kann. Der Standard setzt sich zusammen aus wissenschaftlicher
MERKSÄTZE
� Guidelines sind haftpflichtrechtlich nicht unmittelbar verbindlich.
� Falls sie den Standard zum Behandlungszeitpunkt wiedergeben, können sie eine mittelbare rechtliche Wirkung entfalten.
� Die beigezogenen Gutachterinnen und Gutachter haben zu beurteilen, ob die Guideline den Standard abbildet. Anschliessend müssen sie feststellen, ob ein allfälliges Abweichen von der Guideline medizinisch gerechtfertigt war.
� Guidelines können sich deshalb auf die gutachterliche Beurteilung der ärztlichen Sorgfalt und die Haftbarkeit von Ärztinnen und Ärzten auswirken.
� Ausschlaggebend ist aber immer die Einschätzung des medizinischen Gutachters.
Erkenntnis, praktischer Erfahrung und anerkanntem, in der Praxis als richtig und erforderlich angesehenem Verhalten*. Der Standard an einer Universitätsklinik unterscheidet sich folglich von demjenigen, welchen ein regionales Spital bietet. Das gilt ebenso für die Behandlung durch eine Spezialistin verglichen mit derjenigen des Hausarztes. Diese Umstände müssen bei der Erarbeitung von Guidelines berücksichtigt werden (5). Da der Standard etwas Dynamisches ist, weshalb er sich ändern kann, können Guidelines veralten (1, 4). Nur Guidelines, die den Standard zum Zeitpunkt der konkreten Behandlung wiedergeben, können rechtlich relevant sein. Auch evidenzbasierte Guidelines können Probleme bergen. Fachgesellschaften, deren Guidelines sich auf Studien abstützen, müssen Rechenschaft darüber ablegen, wer die Studie durchgeführt und wer sie finanziert hat. Wenn ein Unternehmen Studien publiziert, definiert es auch die anzuwendende Methodologie und wertet die Daten aus. Ausserdem schreibt es den Bericht und entscheidet, ob und, wenn ja, in welcher Zeitschrift dieser veröffentlicht wird (6, 7). Auch ist zu berücksichtigen, dass medizinische Fakultäten zunehmend von der Industrie abhängig sind, was sich ebenfalls in der Studie niederschlagen kann (8). Nicht zuletzt können Guidelines dazu benutzt werden, um den Einsatz von knappen Mitteln zu optimieren, anstatt primär der Patientenbehandlung zu dienen (5). Ob der Standard in diesem Fall noch wiedergegeben wird, ist fraglich. Dennoch sind selbst Guidelines, die den Standard wiedergeben, rechtlich nicht unmittelbar verbindlich. Dies deshalb, weil es sich um von Fachgesellschaften und nicht vom Gesetzgeber erlassene Regelungen handelt. Damit Guidelines rechtlich unmittelbar verbindlich sind, müssen sie entweder in
*Die SAMW hat in ihrer Stellungnahme zu den Verordnungen zum Humanforschungsgesetz auf Seite 4 als normative Grundlagen für den medizinischen Standard in absteigender Gewichtung die folgenden festgelegt: 1. Evidenzbasierte Guidelines oder Konsens der jeweiligen Fachgesellschaften; 2. Aktuelle Fachpublikationen in etablierten Fachzeitschriften; 3. Interprofessionell abgestütztes Expertenwissen; 4. Über einen längeren Zeitraum entwickelte Technik (Stand der Technik).
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Gesetzen oder Verordnungen aufgenommen werden, oder der Gesetzgeber muss sie für direkt anwendbar erklären, indem er auf sie verweist (1). Das tut er aber nur in Ausnahmefällen, weshalb zum Beispiel bei der Beurteilung von Arzthaftpflichtfällen Guidelines rechtlich nicht verbindlich sind.
Sorgfaltspflicht und Behandlungsstandard
Grundsätzlich machen sich Ärztinnen und Ärzte dann haftbar, wenn sie durch eine Verletzung der Sorgfaltspflicht, also einen Untersuchungs-, Diagnose- oder Behandlungsfehler, einen Schaden verursachen. Auf Ausführungen zu Schaden und Kausalität wird an dieser Stelle verzichtet. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gilt als Behandlungsfehler «ein Verstoss gegen allgemein anerkannte Regeln der ärztlichen Wissenschaft und Praxis (Heilkunst) infolge eines Mangels an gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht». Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht lassen sich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zudem nicht allgemein festlegen, sondern sie richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Sie sind abhängig von der Art des Eingriffes oder der Behandlung, den damit verbundenen Risiken, vom Ermessensspielraum und von den Mitteln und der Zeit, die dem Arzt im einzelnen Fall zur Verfügung stehen, sowie von dessen Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Aus diesen bundesgerichtlichen Formeln lässt sich ableiten, dass es anerkannte Regeln der ärztlichen Kunst gibt, welche zu befolgen sind. Existiert ein Behandlungsstandard, ist er grundsätzlich einzuhalten. Gleichzeitig gewährt das Bundesgericht Ärztinnen und Ärzten die Therapiefreiheit. Es verlangt kein starres Vorgehen, sondern eine dem Einzelfall und den Umständen angepasste Behandlung, die sie nach ihrem Ermessen und in Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten durchführen müssen. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Arzt von einem Standard abweichen darf und sogar muss, wenn es die sorgfältige Behandlung verlangt. Oder anders formuliert: Der Arzt muss sorgfältig behandeln, selbst wenn er dann vom Standard abweicht.
Guidelines, Gutachter, Richter und Prozess
Darf oder muss im Rahmen einer sorgfältigen Behandlung vom Standard abgewichen werden, muss das auch gelten, wenn dieser Standard in einer Guideline festgehalten wird. Ärztinnen und Ärzte dürfen oder müssen deshalb in begrün-
deten Fällen von der Guideline abweichen, um ihre Sorgfaltspflicht nicht zu verletzen. Ob eine ärztliche Behandlung sorgfältig war, entscheiden im Gerichtsprozess immer die Richterin und der Richter. Da sie aber fachlich nicht in der Lage sind, den ihnen präsentierten medizinischen Sachverhalt zu beurteilen, sind sie auf die Hilfe von medizinischen Fachleuten angewiesen. Die Gutachterin muss dem Richter darlegen, ob zum Behandlungszeitpunkt ein Standard vorlag und ob dieser eingehalten wurde. Falls Letzteres nicht zutrifft, hat sie zu beurteilen, ob der Arzt oder die Ärztin aus medizinischer Sicht vom Standard abweichen durfte oder gar musste. Wenn eine entsprechende Guideline geschaffen wurde, hat die Gutachterin dem Richter die medizinische Relevanz der Guideline aufzuzeigen und zu begründen, ob diese im zu beurteilenden Fall eingehalten werden musste oder nicht (9). Der Richter kann die gutachterliche Einschätzung mithilfe einer Guideline zwar besser nachvollziehen (1), er darf sich aber nicht selbst zum medizinischen Experten machen und auf die Einschätzung der Gutachterin verzichten. Die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung wird ausserprozessual ausschliesslich auf der Basis von medizinischen Gutachten diskutiert. Kein Patientenanwalt wird davon ausgehen, dass er die Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht allein mit dem Hinweis auf eine existierende medizinische Guideline nachweisen kann, welche im konkreten Fall nicht eingehalten wurde. Das Bundesgericht wie auch seine Vorinstanzen stützen sich regelmässig auf Gutachten, wenn ein medizinischer Sachverhalt abzuklären und/oder die Sorgfalt einer medizinischen Behandlung zu prüfen ist. Im Jahre 2010 hatte das Bundesgericht erstmals eine (deutsche AWMF-)Leitlinie erwähnt. Da die Vorinstanz die Anwendung der Leitlinie nicht geprüft hatte – sie hatte sich hauptsächlich auf die gutachterlichen Einschätzungen gestützt und lediglich festgestellt, dass diese mit der Leitlinie übereinstimmten (10) –, musste sich das Bundesgericht nicht zur Verbindlichkeit von Guidelines in der Medizin äussern (11). Allerdings hat es die rechtliche Verbindlichkeit von Richtlinien in anderen Rechtsgebieten wie Unfallverhütung beim Schneesport ausdrücklich verneint und darauf hingewiesen, dass ein Abweichen erforderlich sein kann (12). Im Vergleich dazu hat der deutsche Bundesgerichtshof, der sich mit der identischen Ausgangslage und Fragestellung auseinandersetzte, die rechtliche Verbindlichkeit von AWMF-Leitlinien ausdrücklich verneint. Allerdings wird verlangt, dass sich die Gutachterinnen und Gutachter zum Vorhandensein von Leitlinien äussern und feststellen müssen, ob diese dem Standard entsprechen (13).
Sozialversicherungsrecht
Im Krankenversicherungsrecht bestehen durchaus rechtlich verbindliche Guidelines. Ihre rechtliche Verbindlichkeit haben sie durch den jeweiligen Verweis im Anhang 1 der Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung betreffend die Vergütungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für bestimmte ärztliche Leistungen und den Verweis in der Verordnung erlangt (14). Sie ist allerdings beschränkt auf die Frage, welche Leistungen von der Krankenversicherung vergütet werden
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müssen, wobei der Katalog nicht abschliessend ist. Das bedeutet, dass auch andere Leistungen bezahlt werden, wobei Patientin und Patient darüber aufgeklärt werden müssen, wenn die Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Beispielsweise wird die operative Adipositasbehandlung vom Krankenversicherer bezahlt, sofern unter anderem Indikationsstellung, Durchführung, Qualitätssicherung und Nachkontrollen gemäss den Richtlinien der Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB) vom 9. November 2010 zur operativen Behandlung von Übergewicht eingehalten werden.
Vertragliche Verbindlichkeit von Leitlinien
Denkbar ist eine im Tarifvertrag aufgenommene Vereinba-
rung zwischen den Parteien, dass die Leistung nur dann ver-
gütet wird, wenn die Behandlung gemäss Guideline erfolgt
ist. Die Patienten müssten dann darüber aufgeklärt werden,
dass sie die Behandlung selbst bezahlen müssen, wenn diese
nicht wie in der Guideline vorgesehen durchgeführt werden
soll. Selbst wennn eine solche Regelung gültig sein sollte, ist
fraglich, ob es sinnvoll ist, die Therapiefreiheit des Arztes auf
diese Weise faktisch einzuschränken.
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Dr. iur. Ursina Pally Hofmann Rechtsanwältin Generalsekretärin / Leiterin Abteilung Rechtsdienst FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15 E-Mail: ursina.pally@fmh.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine potenziellen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Dieser Artikel erschien erstmals in der PÄDIATRIE 1/2013. Seitdem hat sich die rechtliche Situation in dieser Frage nicht verändert. Die juristische Verbindlichkeit von Guidelines ist aber nach wie vor ein wichtiges, häufig nachgefragtes Praxisthema. Darum haben wir uns entschlossen, diesen Artikel erneut abzudrucken.
Literatur: 1. Katzenmeier CA: Arzthaftung. Habilitation. Mohr Siebeck, Tübingen
2002. 2. Ollenschläger G et al.: Medizinische Leitlinien in Deutschland, 1994 bis
2004. Von der Leitlinienmethodik zur Leitlinienimplementierung. Z Arztl Fortbild Qualitätssich 2005; 99 (1): 7–13. 3. Berchtold P, Schmitz C, Maier J: Guidelines in der Praxis. Pädiatrie 5/2012: 4–8. 4. Hart D: Ärztliche Leitlinien und Haftungsrecht. In Hart (Hrsg.): Ärztliche Leitlinien. Tagungsband, Baden-Baden, 2000. 5. Arzt G: Diagnostisch-therapeutische Leitlinien: Richtlinien für die Rechtsprechung? Schweiz Med Wochenschr 1999; 129: 607–612. 6. Heuer S: Im Wesen nichts Neues. Weltwoche 37/2004. 7. Haller U, Reinold E, Hepp A: «Evidence-Based Medicine» – Leitlinien als Bedrohung oder Notwendigkeit für Arzt und Patient? Gynäkol Geburtshilfliche Rundsch 1998; 38: 1–2. 8. Finzen A: Wir dankbaren Ärzte. Deutsches Ärzteblatt 2002; 99 (12): 588–591. 9. Ott W: Medizinische und rechtliche Abklärung von Ärztehaftpflichtfällen, HAVE 2003: 281. 10. Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Freiburg v. 1. Dezember 2009, E. 8 c). 11. Urteil des Bundesgerichts (4A_48/2010) v. 9. Juli 2010, E. 6.3.1. 12. Urteil des Bundesgerichts (4C.54/2004) v. 1. Juni 2004, E. 2.3; Urteil des Bundesgericht (4A_235/2007) E. 5.1. 13. BGH VI ZR 382/12 v. 15. April 2014. 14. Verordnung des EDI vom 29. September 1995 über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung, KLV, SR 832.112.31).
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