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BERICHT
Multiple Sklerose
Was ist bei älteren MS-Patienten zu beachten?
Nicht nur die Anzahl der Multiple-Sklerose-(MS-)Diagnosen ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen, auch der Anteil der älteren MS-Patienten ist gewachsen. Über die Wirksamkeit und die Sicherheit immunmodulierender MS-Therapien für dieses Patientenkollektiv informierte Prof. Tobias Derfuss, Universitätsspital Basel, an einer Fortbildung für Praktiker. Er ging dabei auch auf einen Aspekt ein, an den beim Stichwort MS nicht jeder denken dürfte: die Demenz.
Ebenso wie die Prävalenz der MS im Allgemeinen – sie stieg von 1984 bis 2006 von 32 auf 226 Fälle unter 100 000 Personen – wächst auch der Anteil der älteren MS-Patienten. Registerdaten aus den USA und aus Italien belegen, dass mittlerweile jeder fünfte bis siebte MS-Patient älter als 65 Jahre ist. In den weitaus meisten Fällen sind diese Patienten bereits seit vielen Jahren erkrankt. Der Anteil an Patienten, die bei der Erstdiagnose älter als 50 Jahre sind (LOMS: late onset MS), beträgt nur 4 bis 5 Prozent, und bei sehr wenigen Patienten (0,5%) wird eine MS erstmals jenseits des Alters von 60 Jahren diagnostiziert (VLOMS: very late onset MS). Im Vergleich mit MS-Patienten, die in jüngeren Jahren erkranken, sind motorische Symptome, ein primär progredienter Verlauf und spinale Läsionen bei LOMS-Patienten häufiger. Es sei wichtig, zwischen MS im Alter und LOMS zu unterscheiden, betonte Prof. Tobias Derfuss, weil die Krankheitsdauer stärker mit dem Therapieansprechen korreliere als das numerische Alter des Patienten. Dass man bei einer kürzeren Krankheitsdauer mit einer höheren Wirksamkeit immunmodulatorischer MS-Therapien rechnen darf, gilt demnach auch für LOMS-Patienten.
Wirken MS-Therapien auch im Alter?
Bei einer aktiven MS, das heisst bei Schüben, neuen Läsionen im MRI oder klinisch relevanter Verschlechterung, sei eine MS-Therapie auch im Alter sinnvoll, sagte der Referent. Für den Therapieentscheid sind Aktivität und Progression der MS wichtiger als das Alter des Patienten. Harte Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit von immunmodulierenden MS-Medikamenten speziell bei älteren Patien-
KURZ & BÜNDIG
� Bei einer aktiven MS ist eine MS-Therapie auch im Alter sinnvoll.
� Das im Alter erhöhte Infektions- und Krebsrisiko kann durch immunmodulierende Therapien potenziert werden.
� Um über einen Therapiestopp zu entscheiden, sind neben der Schubfreiheit weitere Parameter wichtig.
� Die MS-bedingte Demenz ist neben der Fatigue die wichtigste Ursache einer Arbeitsunfähigkeit.
ten gibt es jedoch kaum. Solche Patienten wurden in Studien oft ausgeschlossen, und falls sie doch teilnehmen durften, war ihr Anteil so klein, dass statistisch valide Aussagen zur Wirksamkeit und Sicherheit kaum möglich sind. Insgesamt zeigten Subgruppenanalysen aus verschiedenen Studien jedoch, dass immunmodulatorische MS-Therapien mit zunehmendem Alter beziehungsweise zunehmender Krankheitsdauer weniger wirksam seien, so Derfuss.
Komorbiditäten sind ein Problem
Mit dem alternden Immunsystem und der wachsenden Zahl an Komorbiditäten steigt auch das Nebenwirkungsrisiko immunmodulierender MS-Therapien, und das Nutzen-Risiko-Verhältnis verschiebt sich. So kann das im Alter ohnehin erhöhte Infektions- und Krebsrisiko durch diese Therapien potenziert werden. Ein Beispiel dafür ist die erhöhte Inzidenz der Gürtelrose bei älteren MS-Patienten unter immunmodulierenden Therapien. Die häufigsten Komorbiditäten bei MS sind Depressionen, Angststörungen, Hypertonie, Hypercholesterinämie und chronische Lungenerkrankungen. Auch vaskuläre Probleme nehmen mit dem Alter zu, und sie sind bei MS-Patienten häufiger als in der Gesamtbevölkerung. Lebensstilveränderungen, wie zum Beispiel Rauchstopp oder das Abbauen von Übergewicht, könnten über ihren positiven Effekt auf Komorbiditäten letztlich auch den Verlauf der MS und die Lebensqualität verbessern, sagte Derfuss.
Wann darf man mit der Therapie aufhören?
Der Verlauf der MS kann individuell recht unterschiedlich sein. Primär progredient sind etwa 10 Prozent der MS-Patienten, die meisten (85%) haben zu Beginn Schübe. Im Durchschnitt sind es anfangs 1,8 Schübe pro Jahr, im Lauf der Zeit werden es weniger. So gut wie alle MS-Patienten mit primären Schüben werden irgendwann sekundär progredient. «Meistens sind nicht die Schübe die Ursache von Behinderung, sondern die langsam voranschreitende Verschlechterung, die nach 10 bis 15 Jahren einsetzt», sagte Derfuss. Die gute Nachricht: Es gibt auch benigne Verlaufsformen der MS, und 15 Prozent der Patienten haben auch 20 Jahre nach dem primären Schub keine wesentlichen Einschränkungen ihrer Gehfähigkeit. Unter wirksamer MS-Therapie könne die Schubrate erheblich sinken, nämlich auf 0,1 Schübe pro Jahr oder, anders ausgedrückt, auf 1 Schub in 10 Jahren, so Derfuss. Wie sieht es nun
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bei Patienten aus, die schon lange therapiert werden und stabil sind? Darf man bei ihnen die Therapie stoppen? Eine definitive Antwort auf diese Frage steht noch aus. In einer Studie (1) verglich man MS-Patienten gleichen Alters, Geschlechts usw., die ihre langjährige Therapie mit Interferon oder Glatirameracetat nach mindestens 5 schubfreien Jahren absetzten oder nicht absetzten. Sie waren 37 bis 51 Jahre alt. Nach dem Absetzen erlitten 36,4 Prozent der Patienten einen Schub nach median 1,81 Jahren. Im gleichen Zeitraum war das bei den Patienten, die die Therapie nicht absetzten, jedoch nicht anders: Trotz fortgesetzter Therapie erlitten 37,8 Prozent von ihnen einen Schub nach median 2,01 Jahren. Einen Unterschied gab es beim Risiko der MS-Progredienz: Es war bei denjenigen, die ihre Therapie stoppten, um relative 50 Prozent erhöht, das heisst, die Progression setzte bei ihnen früher ein. «Auch eine über fünf Jahre stabile Krankheitsphase sagt nichts darüber aus, ob das auch nach dem Absetzen der Medikamente so bleiben wird», kommentierte Derfuss diese Studie. Um zu entscheiden, ob die Patienten ihre immunmodulierende MS-Therapie ohne Risiko stoppen können, seien letztlich neben der Schubfreiheit andere Parameter wichtig, nämlich Alter und Krankheitsdauer: «Wenn die Patienten die Krankheit schon länger haben und älter sind, dürfte ihr Schubrisiko nach Absetzen der Therapie gering sein», so Derfuss. Wichtig sei auch zu bedenken, um welche immunmodulierende Therapie es geht. Während nach dem Absetzen von Interferonen oder Glatirameracetat kein hohes ReboundRisiko zu befürchten sei, gebe es nach dem Stopp anderer Therapien durchaus ein erhöhtes Schubrisiko.
Demenz und Fatigue sorgen für Arbeitsunfähig-
keit bei MS
Hauptursachen der Arbeitsunfähigkeit bei MS seien neben
der Fatigue die mit der Zeit wachsenden kognitiven Defizite:
«Es ist nicht das Gehen, es ist nicht das Sehen, es ist nicht die
Blasenstörung – es sind die Fatigue und die Kognition», sagte
Derfuss. So weist bereits jeder dritte MS-Patient im Alter von
18 bis 24 Jahren kognitive Defizite auf, und bei den 45- bis
54-Jährigen ist es mit 57 Prozent über die Hälfte. Ab dem
Rentenalter sind kognitive Defizite bei so gut wie allen
MS-Patienten zu finden, nämlich bei 92 Prozent (2).
Es handle sich dabei in jedem Alter um eine «MS-Demenz»
mit charakteristischen Veränderungen der kognitiven Leis-
tungsfähigkeit, die bei jungen wie alten MS-Patienten gleich-
artig seien, so Derfuss. Verantwortlich dafür sind vermutlich
Läsionen in der grauen Substanz, die mit der üblichen
MRI-Diagnostik bei MS nicht zu sehen sind. Möglicherweise
sei die Kognition sogar ein besserer Parameter, um die korti-
kale MS-bedingte Schädigung zu diagnostizieren, vermutete
der Referent. Man beginne aber erst jetzt, die kognitive Leis-
tung von MS-Patienten regelmässig zu testen. Ob Antidemen-
tiva für MS-Patienten besonders sinnvoll wären, weiss man
ebenfalls noch nicht; entsprechende Studien fehlen.
s
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Prof. Tobias Derfuss: Multiple Sklerose im Alter. 7. Basler Demenzforum, 14. November 2019.
Literatur: 1. Kistler I et al.: Discontinuing disease-modifying therapy in MS after a prolonged relapse-free period: a propensity score-matched study. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87(10): 1133–1137. 2. Branco M et al.: Aging with multiple sclerosis: prevalence and profile of cognitive impairment. Neurol Sci 2019; 40(8): 1651–1657.
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