Transkript
Rückblick 2019/Ausblick 2020
Schmerztherapie
Dr. med. Wolfgang Schleinzer Facharzt für Anästhesiologie MAS Interdisziplinäre Schmerzmedizin Facharzt Transfusionsmedizin Gesundheitsökonom (ebs) Luzern
Neue Leitlinien und Cannabinoide
Welche neuen Erkenntnisse in Ihrem Fachgebiet waren 2019 für Sie besonders spannend?
Hier ist zunächst die Leitlinie zu opiodhaltigen Analgetika bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen zu nennen (LONTS: Langzeitopioidtherapie bei nicht tumorbedingten Schmerzen). Diese Leitlinie ist im Oktober 2019 abgelaufen und wird zurzeit überarbeitet. Künftig sollen die Nebenwirkungsreduktion und die Komorbiditäten stärker in den Fokus rücken. Ziel der Leitlinie ist es, Therapeuten und Patienten mit chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen Orientierungshilfen über den potenziellen Nutzen und Schaden opioidhaltiger Analgetika sowie konkrete Handlungsvorschläge für die Durchführung und Beendigung einer Therapie mit diesen Medikamenten zu geben. Gleichzeitig will man damit erreichen, dass starke Opioide nicht mehr für Patienten mit Fibromyalgie und somatoformen Schmerzstörungen verordnet werden. Auch die Praxisleitlinie zum Tumorschmerz wird zurzeit aktualisiert. In dieser von der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) erstellten Leitlinie werden künftig die Reduktion von Nebenwirkungen und die Berücksichtigung von Komorbiditäten stärker in den Fokus rücken. So wird beispielsweise empfohlen, bei der Auswahl des Opioids in erster Linie auf die langfristige Verträglichkeit und Galenik zu achten und weniger auf die Wirkstärke. Für einen Opioidwechsel bei unzureichender Schmerzlinderung wird für die Dosis des neuen Opioids eine Reduktion um 50 Prozent der Morphinäquivalenz des alten Opioids empfohlen, weil neu eingesetzte Analgetika häufig bereits in geringerer Dosis wirksamer sind als in äquianalgetischer Dosis. Bei Bedarf wird dann das neue Opioid bis zur ausreichenden Schmerzkontrolle auftitriert. Hydromorphon gilt weiterhin als Präferenzsubstanz in der Tumorschmerztherapie, auch bei Niereninsuffizienz, Kachexie oder Leberfunktionsstörungen. Buprenorphin ist bei Niereninsuffizienz und Leberfunktionsstörungen eine Option, Fentanyl bei Leberfunktionsstörungen. Bei Übelkeit und Erbrechen sind Antiemese (Stufenschema) und opioidhaltige Pflastersysteme indiziert. Transdermale Systeme, Morphingranulat, Methadon und Levomethadon werden als Optionen bei Dysphagie genannt. Völlig neu ist die Empfehlung von Cannabis als Komedikation für Tumorpatienten mit chronischen Schmerzen. Can-
nabinoide gelten als hilfreiche Komedikation bei neuropathischen und Tumorschmerzen und können auch bei Übelkeit und Erbrechen verordnet werden. In der Regel sinkt mit der Cannabis-Komedikation der Opiatgebrauch. Auch die muskelrelaxierende und anxiolytische Wirkung von Cannabinoiden kann günstig sein, wobei hier anzumerken ist, dass es dazu keine eindeutige Studienlage gibt. Sehr erfreulich fand ich im vergangenen Jahr, dass sich die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie in einigen Studien erneut als überlegen im Vergleich zu konventionellen Therapieansätzen erwiesen hat. Insbesondere bei Patienten mit Rückenschmerzen lässt sich die Schmerzsymptomatik durch ein multimodales Therapieprogramm verbessern. Das gilt sowohl bei subakuten als auch bei chronischen unspezifischen Kreuzschmerzen. Sehr spannend ist die Diskussion um Methadon als potenziellen Wirkverstärker bei Chemotherapien. Hierzu gab es in den letzten zwei, drei Jahren eine ganze Reihe von Studien mit teils widersprüchlichen Resultaten. In Zellkulturen sowie im Tierversuch konnte man bei einigen Krebsarten nachweisen, dass Methadon die Wirkung von Chemotherapien verstärkt. Zur Wirksamkeit bei Tumorpatienten gibt es bis anhin nur Fallberichte aus individuellen Therapieversuchen. Die Deutsche Krebshilfe hat nun 1,6 Millionen Euro für die erste klinische Methadonstudie bereitgestellt. Aufgenommen werden Patienten mit metastasiertem Darmkrebs. Die Studie soll im Frühjahr 2020 an der Universitätsklinik in Ulm starten.
Welche davon könnten die Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Die Empfehlung von Cannabinoiden und ihre Integration in die oben genannte Leitlinie zum Tumorschmerz dürften sich auch in der Praxis bemerkbar machen. Mit der aktualisierten Leitlinie zu den nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen ergeben sich neue mögliche Indikationen für eine kurzfristige, 4- bis 12-wöchige Therapie mit opiodhaltigen Analgetika, zum Beispiel bei diabetischer Polyneuropathie, Postzosterneuralgie, Arthroseschmerz, chronischem Rückenschmerz, Radikulopathie oder rheumatoider Arthritis. Für andere Indikationen gilt eine solche kurzfristige oder langfristige (> 26 Wochen) Behandlung mit opioidhaltigen Analgetika jedoch nach wie vor als individueller Therapieversuch, so zum Beispiel bei manifester Osteoporose (Wirbelkörperfrakturen), bei postoperativen Schmerzen, beim komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) Typ I und II oder bei Polyneuropathien, die nicht durch Diabetes oder Zoster verursacht werden – um nur einige zu nennen. Wichtig bleiben auf jeden Fall die Kontraindikationen einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika: primäre Kopfschmerzen, Fibromyalgiesyndrom, funktionelle und psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz, ein verantwortlungsloser Gebrauch opioidhaltiger Analgetika oder schwere affektive Störung und/oder Suizidalität. Bei chronischer Pankreatitis oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen sind opioidhaltige Analgetika eigentlich auch
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kontraindiziert, eine befristete Therapie (< 4 Wochen) ist jedoch möglich. Auch bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom kann im Einzelfall eine Therapie mit Tramadol in Erwägung gezogen werden. Wurden in Ihrem Fachgebiet 2019 neue Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern könnten? Cannabinoide werden bei neuropathischen Schmerzen empfohlen, auch wenn ihnen nur eine geringe Wirksamkeit zugesprochen wird. Eine (Off-label-)Therapie mit Cannabinoiden sollte jedoch nur bei Versagen anderer Schmerztherapien erwogen werden, und zwar ausschliesslich im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts. Tetrahydrocannabinol (THC) befindet sich derzeit in klinischer Erprobung für die Behandlung bei weiteren Erkrankungen, zum Beispiel bei Glaukom, Morbus Crohn oder Tic-Störungen. Dronabinol (THC) ist in den USA als Antiemetikum in der Krebstherapie und bei Anorexie und Kachexie bei Aidspatienten zugelassen. Nabilon (synthetisches THC-Derivat) ist im Ausland als Mundspray für die Behandlung von Spastik bei Multipler Sklerose verfügbar; in der Schweiz ist ein Mundspray mit THC (Sativex®) für dieselbe Indikation zugelassen. Dronabinol ist ansonsten nur als Magistralrezeptur verfügbar (Bewilligung muss für jeden Patienten beantragt werden). derungen durchzusetzen, müssen Patienten einen Fehler und einen damit zusammenhängenden Schaden beweisen. Aber viele schrecken aus Angst vor hohen Verfahrenskosten und wegen mangelnder Kenntnis der Patientenrechte davor zurück, Ansprüche wegen vermuteter Behandlungsfehler geltend zu machen. Ausserdem: Die Fakten haben die Kliniken und die Ärzte. Immer dringlicher wird deshalb verlangt, die Beweislast umzukehren. Ärzte müssten dann generell über mögliche Behandlungs- oder Pflegefehler informieren und nicht nur, wie bisher vorgeschrieben, wenn Patienten danach fragen oder Gesundheitsgefahren drohen. Verweigern Ärzte ohne Grund Einsicht in Behandlungsunterlagen, müsste das rechtliche Konsequenzen haben. Bei Selbstzahlerleistungen müssten Patienten nicht nur die Kosten erklärt bekommen, sondern auch den genauen Nutzen, der bei vielen individuellen Gesundheitsleistungen angezweifelt wird. Werden fehlerhafte Medizinprodukte wie Prothesen gewechselt, sollten diese als Beweismittel weiter dem Patienten gehören und nicht wie sonst manchmal nach einer OP vernichtet werden. Es geht nicht um eine Gängelung der Ärzte, sondern um einen wichtigen Rechtsrahmen, um den Versorgungsalltag gleichberechtigt zu gestalten! Am meisten macht mir aber ein Phänomen ausserhalb meines Fachgebiets Sorgen, nämlich die Impfskepsis und die Zunahme von Masernfällen. Auf welche Studienresultate sind Sie 2020 besonders gespannt? Besonders gespannt bin ich auf die Resultate der bereits erwähnten Studie zu Methadon in der Tumortherapie an der Universitätsklinik Ulm. Die Studie startet allerdings erst im Frühjahr 2020, sodass erste aussagekräftige Resultate wohl frühestens 2022 vorliegen werden. Und was «fürchten» Sie am meisten? Falls die Umkehr der Beweislast bezüglich Behandlungsoder Pflegefehlern tatsächlich kommt, könnte diese von den Ärzten als Gängelung angesehen werden. Wir sollten uns aber bewusst der Tatsache stellen, dass zunehmend Erleichterungen bei Beweislasten für Patienten, schnellere Gerichtsverfahren und einheitliche Vorgaben zu Haftpflichtversicherungen für alle Gesundheitsberufe gefordert werden. Konkret geht es um Verbesserungen bei Behandlungsfehlern und Problemen mit Medizinprodukten. Um finanzielle For- Wie lautet Ihre wichtigste Botschaft für die Kolle- ginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis 2020? Um das Risiko einer Opioidabhängigkeit bei Patienten mit chronischen Schmerzen so gering wie möglich zu halten, soll- ten sie bei der Verschreibung die Empfehlungen der Leitlinien berücksichtigen. Detaillierte Handlungsempfehlungen zum Opioideinsatz bei Nichttumorschmerzen gibt die eingangs erwähnte Leitlinie LONTS auch bereits in der noch nicht re- vidierten Form (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145-003. html). Und zu guter Letzt noch ein Aspekt, der im Alltag oft ver- drängt wird: die posttraumatische Belastung im Arztberuf. Die Häufigkeit posttraumatischer Störungen, insbesondere von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), ist mit 14,8 Prozent höher als in der Allgemeinbevölkerung (3–4%). Im Rahmen einer Studie an der Universität Leipzig wird ein spezialisiertes, internetbasiertes Therapieprogramm für Ärzte angeboten (www.belastung-im-arztberuf.de). s 18 ARS MEDICI 1+2 | 2020