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Titel
Neurologie – Wichtig ist nicht nur, was, sondern auch, wie etwas gesagt wird
Untertitel
Interview mit Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt Neurologie Berner Klinik Montana, Crans-Montana / VS
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Datum
Autoren
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Rubrik
Rückblick 2019/Ausblick 2020
Schlagworte
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Artikel-ID
43303
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Rückblick 2019/Ausblick 2020

Neurologie
Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt Neurologie Berner Klinik Montana Crans-Montana /VS
Wichtig ist nicht nur, was, sondern auch, wie etwas gesagt wird
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend?
Auch wenn die grossen Fortschritte in der Therapie von Schlaganfällen oder der Multiplen Sklerose (MS) der Neurologie ein eher «internistisches» Antlitz verleihen, gibt es ebenso sehr viele Überschneidungen mit der Psychiatrie – mit der die Neurologie schon immer ebenfalls eng verbunden ist. Und auch in diesem Bereich, der Neuropsychiatrie, gibt es Fortschritte, die spannend und über die beiden unmittelbar betroffenen Fachgebiete hinausgehend von Bedeutung sind. In der Neurologie sind wir wie in anderen «somatischen» Disziplinen oft mit Patienten konfrontiert, die Beschwerden und Symptome haben, für die auch nach gründlicher, aufwendiger und natürlich teurer Diagnostik keine Erklärung durch eine Organkrankheit gefunden werden kann. Je nach persönlicher Auffassung und Schule werden diese Beschwerden dann als funktionelle oder dissoziative, somatoforme oder auch Konversionsstörung bezeichnet. Manch ein Kollege ist auch der Auffassung, es handele sich um Simulation, und in der Versicherungsmedizin tauchte vor einigen Jahren der sehr unglückliche Begriff «päusBonoG» (= pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Grundlage) auf. Umso erfreulicher ist es, dass auf neurologischer Seite hierzu geforscht wird. So konnte bereits vor zwei Jahren mit dem funktionellen MRI gezeigt werden, dass die betroffenen Patienten ein anderes Muster der sogenannten «resting state functional connectivity» als gesunde Vergleichspersonen aufweisen, das heisst, die funktionellen Verbindungen zwischen Hirnarealen mit motorischen Funktionen und solchen, die an emotionalen Prozessen beteiligt sind, stellten sich verändert dar (1). So lassen sich solche Biomarker vielleicht künftig in der Differenzialdiagnose der entsprechenden Beschwerdebilder nutzen. In diesem Jahr erschien nun unter Beteiligung derselben in Bern arbeitenden Seniorautorin eine Arbeit, die diese und andere Erkenntnisse der letzten Jahre auf diesem Gebiet in den Kontext früherer Arbeiten von Charcot und Freud stellt und eine neurobiologisch untermauerte Hypothese zur Entstehung der Symptome formuliert (2). So können die Symptome als Ausdruck neurobiologischer Schutz- und Abwehrmechanismen gegen traumatische Erinnerungen und psychosoziale Stressoren begriffen werden. Der eine oder andere mag jetzt anführen, dass das alles nicht so neu ist, und auf die Arbeit

«Quelques considérations pour une étude comparative des paralysies motrices organiques et hystériques» aus dem Jahre 1893 des hier sehr neurologisch argumentierenden Freud verweisen. Diese Arbeit mag aber dann doch dazu beigetragen haben, dass sich die Neurologie und die Biowissenschaften im Unterschied zur Psychiatrie über viele Jahrzehnte nicht mehr mit dieser Thematik beschäftigten, obwohl es wahrscheinlich eine neurobiologisch fassbare Prädisposition für derartige Krankheitsbilder gibt. Auch bei anderen Erkrankungen bewegen sich Neurologie und Psychiatrie schon seit Jahren wieder aufeinander zu. So interessiert man sich bei den Epilepsien, bei MS, Morbus Parkinson und anderen neurodegenerativen Erkrankungen zunehmend für deren psychiatrische Dimension. Sehr interessant in diesem Zusammenhang erschien mir eine ebenfalls mit Schweizer Beteiligung entstandene Arbeit, die sich mit den psychosozialen, aber auch den neurobiologischen Grundlagen der Scham bei Morbus Parkinson beschäftigt, die wesentlich zum Leidensdruck der Patienten beiträgt und deshalb in der Therapie mit zu adressieren ist (3).
Welche davon könnten Diagnose und/oder Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Von den oben erwähnten Erkenntnissen sind sicher keine revolutionären Veränderungen im hausärztlichen Herangehen an neurologische Krankheitsbilder zu erwarten, vielmehr appellieren sie an «klassische» Aufgaben in der allgemeinmedizinischen Praxis, nämlich an die Wahrnehmung des Patienten in seiner psychosozialen und biografischen Dimension. Die schon von Freud und Charcot beschriebene «Belle Indifférence», die oft bei Patienten mit dissoziativen Symptomen anzutreffen ist, nimmt nur der wahr, der sich nicht nur mit dem beschäftigt, was der Patient sagt, sondern auch damit, wie er es sagt. Das Gespräch über Scham bei einer neurologischen Erkrankung wird doch eher in der vertrauten hausärztlichen Praxis geführt als bei der Konsultation in der Spezialambulanz des Universitätsspitals mit häufig wechselndem ärztlichen Personal. Aber es ergibt sich auch Neues: Besonders die Erkenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen dissoziativer und somatoformer Symptome könnten zu einer bestimmten und einheitlicheren therapeutischen Haltung im Umgang mit den betroffenen Patienten führen, die schliesslich die Prognose verbessert.
Wurden 2019 in Ihrem Fachbereich Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern?
Nach Erenumab (Aimovig®), einem humanen monoklonalen Antikörper, der über eine Blockade des CGRP-(calcitonin gene-related peptide-)Rezeptors Migräneattacken unterdrücken kann, kam 2019 noch Galcanezumab (Emgality®) als rekombinanter, humanisierter, monoklonaler Antikörper gegen das CGRP selbst auf den Markt. Weitere Wirkstoffe, die diesen für die Pathogenese der Kopfschmerzkrankheit sehr wichtigen Signalweg beeinflussen, sind in der Entwicklung (4). Es bleibt zu hoffen, dass diese vermutlich sehr wirksamen Therapien auch langfristig keine negativen Effekte

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entwickeln und dass Erkenntnisse zur Differenzialindikation dieser Wirkstoffe gewonnen werden, die dem Arzt die Auswahl im Einzelfall erleichtern. Auch in der Therapie der MS mit schubförmigem Verlauf steht inzwischen eine Vielzahl von Behandlungsoptionen zur Verfügung. Für diese Verlaufsform kam 2019 noch Cladribin (Mavenclad®) auf den Markt, über das schon früher an dieser Stelle berichtet wurde. So beschäftigt man sich auch hier mit der Differenzialindikation, die aber wissenschaftlich bis anhin nicht wirklich untermauert ist, was zu Unterschieden in der Zulassung zum Beispiel zwischen dem EU-Raum und der Schweiz führt (5). Nach der Zulassung von Ocrelizumab (Ocrevus®) 2017 als erster Therapieoption für die primär progrediente MS zeichnet sich mit der wahrscheinlich baldigen Markteinführung von Siponimod (in den USA als Mayzent® zugelassen) auch in der Schweiz für die sekundär progrediente MS ein weiterer Zuwachs bei den Therapieoptionen für die bis anhin schwieriger zu behandelnden Verlaufsformen ab (6). Eine Besonderheit des Wirkstoffes ist, dass er bei Personen mit einem bestimmten Genotyp des CYP2C9 nicht angewendet werden darf. Deshalb muss im Sinne der personalisierten Medizin vor der Anwendung die entsprechende Genotypisierung vorgenommen werden (7). Das Medikament hat von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA 2019 auch bereits die Zulassung beim klinisch isolierten Syndrom und bei der schubförmigen Verlaufsform erhalten. Es zeichnet sich ab, dass Substanzen, die bereits für die schubförmige Verlaufsform zugelassen wurden, auch bei der sekundär chronisch progredienten Form weiter untersucht werden und möglicherweise auch hier eine Zulassung erhalten wie bereits das Interferon beta-1b. Überdies wird schon längere Zeit das dem Ocrelizumab verwandte Rituximab für die Therapie der sekundär progredienten MS off-label in der Schweiz eingesetzt und wissenschaftlich begleitet (8). An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass neben der immer grösser werdenden Palette von medikamentösen Therapien bei MS seit 2018 auch die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation unter Auflagen zur Erstattung durch die obligatorische Krankenversicherung vom BAG zugelassen wurde, wobei dieses sehr risikoreiche Verfahren vor allem bei sehr aktiven Verläufen erwogen werden sollte (9).
Auf welche Studienresultate sind Sie 2020 besonders gespannt?
Nebst weiteren Entwicklungen auf dem sehr dynamischen Feld der Therapie der MS sind neue, nicht mehr nur symptomatische Therapieansätze bei den neurodegenerativen Erkrankungen, insbesondere dem Morbus Parkinson, zu erwarten. In den letzten Jahren ergaben sich vor allem durch die Erforschung monogen bedingter Formen dieser Erkrankung Erkenntnisse zur Pathogenese, die zur Entwicklung von Therapieansätzen geführt haben, die in zahlreichen Studien auch bei den viel häufigeren sporadischen Formen untersucht werden. Hierbei stehen sowohl der mitochondrale als auch der lysosomale Stoffwechsel neben bestimmten Proteinkina-

sen als Angriffspunkte im Zentrum. Daneben werden auch monoklonale Antikörper gegen Alpha-Synuklein und bei atypischen Parkinson-Syndromen auch gegen Tau-Protein untersucht (10). Mehr Wunsch als wirklich begründete Hoffnung sind neue Medikamente für die Therapie genetischer (früher idiopathischer) generalisierter Epilepsien, die auch bei Frauen im gebärfähigen Alter eingesetzt werden dürfen, bei denen ja die bei dieser Epilepsieform sehr gut wirksame Valproinsäure wegen ihrer teratogenen und die Intelligenzentwicklung beeinträchtigenden Effekte nicht angewendet werden darf. Leider ist keines der alternativ bei dieser Patientengruppe infrage kommenden Antiepileptika statistisch vergleichbar wirksam.

Und was «fürchten» Sie am meisten ...?
Wie aus dem Gesagten deutlich wird, geht es in der modernen Medizin nicht nur um den Einsatz immer komplexerer, vielfältigerer und teurerer Diagnose- und Therapieverfahren, sondern weiterhin immer mehr auch um die langjährige Betreuung chronisch kranker Menschen mit ihrem biografischen und psychosozialen Kontext. Hierfür braucht es weiterhin die intensive Beschäftigung mit unseren Patienten in der Anamnese und der klinischen Befunderhebung sowie der Begleitung durch die anspruchsvollen Therapien. Dieser spannende und dankbare Teil unserer Arbeit scheint gegenüber den Krankenversicherern leider oft schwerer zu plausiblisieren zu sein als ein teures neues technisches Therapieverfahren. So ist zu hoffen, dass wir auch in den Zeiten von TARDOC weiterhin unsere Sinne und unseren Geist zum Wohle des Patienten so einsetzen können, wie es unser Wissen und unsere Verantwortung erfordern.

Was ist Ihre wichtigste Botschaft für die Kollegin-

nen und Kollegen in der Hausarztpraxis 2020?
Angesichts der sich jedes Jahr abzeichnenden Fortschritte

in der Therapie noch vor Jahren nicht beeinflussbarer chro-

nischer Erkrankungen ist ein gesunder Fortschrittsglaube

durchaus angebracht, auch wenn wir mit Rückschlägen rech-

nen müssen, wie zum Beispiel dann, wenn unter einem einmal

sehr vielversprechenden neuen Therapieansatz schwerwie-

gende Nebenwirkungen auftreten.

Aber alle neuen Technologien werden nicht unsere oben er-

wähnten spezifisch ärztlichen Aufgaben im direkten Kontakt

mit dem Patienten ersetzen, die besonders in der Hausarzt-

praxis zum Tragen kommen. Die künstliche Intelligenz wird

diese Aspekte auch nicht überflüssig machen, uns aber viel-

leicht dabei unterstützen können. Die Wahrnehmung einer

«Belle Indifférence» eines Patienten erfordert bis auf Weiteres

noch den Arzt. Also auch hier sollte nicht allzu viel Angst vor

dem Fortschritt einkehren.

s

Literatur unter www.arsmedici.ch

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