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FORTBILDUNG
Klug entscheiden – eine Herausforderung in der Hausarztpraxis
Empfehlungen zur Vermeidung von Über- und Unterversorgung
Ein Patient kommt zu Ihnen mit seit fünf Wochen bestehenden Rückenschmerzen ohne neurologische Ausfälle. Der nächste Patient im Wartezimmer stellt sich mit einem oberen Atemwegsinfekt bei Ihnen vor, fieberfrei, aber mit einem hohen Leidensdruck, und fragt nach einem Antibiotikum. Eine weitere Patientin wird aus dem Krankenhaus entlassen nach exazerbierter COPD und fragt, wie es nun weitergeht. Und der Ehemann zu dieser Patientin ist 70 Jahre alt, begleitet sie zu dem Arzttermin und fragt Sie nebenbei, was er eigentlich so als Check-up bräuchte. Und nun? All diese Fragen sind Alltag für Sie und führen zu einer hohen (risikoreichen) Entscheidungsdichte, mit der sich Ärzte sowohl in Hausarztpraxen als auch in Notaufnahmen unter oft hohem Zeitdruck konfrontiert sehen.
Isabel Lück
Die nie risikofreien Entscheidungen im ambulanten Setting sowie in den Notaufnahmen haben nicht nur Auswirkungen auf den Patienten selbst, sondern auch immer auf die weiter zuständigen Ärzte, sodass es hier umso mehr auf kluge Entscheidungen ankommt. Hiermit beschäftigt sich seit 2012 die Choosing-Wisely-Kampagne, welche von der ABIM-Foundation ins Leben gerufen wurde (1). Ziel der Empfehlungen war, weder eine Über- noch Unter-, sondern eine leitliniengerechte Patientenversorgung zu schaffen, die s wissenschaftlich belegt ist, s nicht Testergebnisse oder Prozeduren einfach wiederholt, s keine Schäden mit sich bringt, s wirklich notwendig ist. Hieraus entwickelte sich in Deutschland die Klug-Entscheiden-Kampagne. 2015 gründete die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eine Ad-hoc-Kommission für diese Qualitätsoffen-
MERKSÄTZE
� Im ambulanten Setting wie in den Notaufnahmen kommt es auf kluge Entscheidungen an. Aus der Choosing-Wisely-Kampagne entstand 2015 in Deutschland unter dem Dach der AWMF die Klug-Entscheiden-Kampagne.
� Inzwischen existieren insgesamt 125 Empfehlungen, seit April 2018 auch für Notaufnahmen.
� Ein besonderer Fokus liegt auf der Schnittstelle zwischen der ambulanten Versorgung und den Krankenhäusern.
� Die Kampagne richtet sich gleichermassen an behandelnde Ärzte und an Patienten mit dem Ziel eines individuellen «shared decision making».
sive (2). Im Gegensatz zu der internationalen Kampagne wurden die Fachgesellschaften aufgerufen, Negativ- und Positivlisten zu veröffentlichen. Inzwischen gibt es in Deutschland 125 Empfehlungen (3), seit April 2018 auch für Notaufnahmen (4). Viele Fachgesellschaften unter der DGIM, aber auch die Anästhesie nehmen an dem Programm teil. Die chirurgischen Fächer lehnen die Teilnahme bisher ab (gemeinsamer Beschluss der DGOU, DTGH, DGPRÄC, DGG, DGAV) (5). Um auf einzelne Aspekte der 125 Empfehlungen genauer einzugehen, beziehen sich die folgenden Abschnitte auf die häufigsten Diagnosen in der ambulanten Versorgung (entsprechend den Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung [KBV] von 2017). Ein besonderer Fokus soll vor allem auf der Schnittstelle zwischen der ambulanten Versorgung und den Krankenhäusern liegen.
Der «vergessene» sekundäre Hypertonus
Einer der häufigsten Gründe, den Hausarzt aufzusuchen, war 2017 die essenzielle primäre Hypertonie. Doch natürlich betritt der Patient nicht die Hausarztpraxis mit den Worten: «Guten Tag, ich habe einen primären Hypertonus, welcher behandelt werden muss.» Eine gemeinsame Herausforderung der Hausärzte und der Notaufnahme ist, dass wir häufig Patienten sehen ohne stehende Diagnose, sondern lediglich mit einem Symptom. Um eine Diagnose zu sichern, muss sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich eine adäquate Diagnostik zur richtigen Zeit beim richtigen Patientenkollektiv erfolgen. Daher ist eine der Empfehlungen der Klug-Entscheiden-Kampagne, dass «bei jüngeren und therapierefraktären Patienten […] auch nach endokrinen Ursachen einer Bluthochdruckerkrankung gesucht werden [soll]» (6, 7). In Deutschland leiden etwa 30 bis 40 Prozent der Erwachsenen an einem Hypertonus, in der Schweiz etwa jeder vierte Erwachsene (ca. 1,5 Mio.). Mit zunehmendem Alter steigt
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auch die Prävalenz an, sodass bei älteren Patienten von 80 Prozent auszugehen ist (8). Die Empfehlung zur erweiterten Diagnostik vor allem bei jüngeren und therapierefraktären Patienten wird von den Autoren der Empfehlungen damit begründet, dass tatsächlich zirka 10 bis 15 Prozent der Fälle arterieller Hypertonie durch endokrine Ursachen, welche den primären Hyperaldosteronismus, ein Phäochromozytom, den Hyperkortisolismus und andere Enzymdefekte der Nebenniere umfassen, bedingt sind (7). Stellt sich der Verdacht auf einen sekundären Hypertonus, wird eine umfassende Diagnostik benötigt wie die Bestimmung des Aldosteron-Renin-Quotienten, ein Dexamethason-Hemmtest oder die Bestimmung der Meta- und Normetanephrine in Plasma oder Sammelurin (6). Oft ist für diese umfassende Diagnostik eine stationäre Einweisung notwendig. Damit im Krankenhaus nicht nur eine weitere antihypertensive Medikation angesetzt und der Patient nach Hause geschickt wird, da nur «Art. Hyp.» auf dem Einweisungsschein vermerkt wurde, sollten ausführlichere Angaben schriftlich oder sogar telefonisch erläutert werden. Soll eine stationäre Abklärung erfolgen? Besteht die Verdachtsdiagnose auf eine sekundäre Genese? Ist eine Überwachung erwünscht, da Komplikationen wie ein hypertensiver Notfall befürchtet werden?
Vorsorge hilft … nicht nur dem Patienten
Eine gute Kommunikation zwischen der Praxis und der Notaufnahme ist ebenso notwendig angesichts der Empfehlung der Angiologie, dass «[bei Männern] über 65 Jahre […] ein Screening auf Bauchaortenaneurysma mittels Ultraschall erfolgen [soll] » (9)(10). Das Bauchaortenaneurysma ist eine der Hochrisikodiagnosen in der Notaufnahme. Die Patienten können lange asymptomatisch sein, benötigen aber eine sofortige Therapie beim Auftreten von Komplikationen (Ruptur). Gescreent werden sollen vor allem ältere Männer mit einem Nikotinabusus oder einem arteriellen Hypertonus. Ein Normalbefund muss erst nach zehn Jahren erneut kontrolliert werden, Frauen sind in der Empfehlung nicht mit eingeschlossen (9). Während in der Schweiz die Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung keine Kassenleistung ist, haben entsprechende Vorsorgeuntersuchungen in Deutschland ihren Platz im ambulanten Setting und können seit dem 01.01.2018 durchgeführt werden, nachdem die zwei neuen Gebührenordnungspunkte (GOP) 01747 und 01748 eingeführt wurden (11). Die Weiterleitung dieser Befunde (unabhängig ob pathologisch oder nicht) bei Einweisungen (insbesondere aufgrund abdomineller Beschwerden) ist aber sehr hilfreich für die Kollegen auf den Notaufnahmen. Sollte diese Vorsorgeuntersuchung bisher nicht durchgeführt worden sein, beispielsweise wegen fehlender Ultraschallmöglichkeiten im ambulanten Bereich, kann auch dies eine wichtige Information für die weiterbehandelnden Ärzte sein.
NSAR: Immer auf Herz und Niere prüfen
Die Diagnose einer arteriellen Hypertonie ist nicht umsonst auf Platz 1 im ambulanten Setting. Das sehr verbreitete Krankheitsbild (siehe oben) benötigt regelmässige Kontrollen und eine gute medikamentöse Einstellung und wird häufig von weiteren Erkrankungen begleitet (Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz etc.). Dringend muss auf Interaktionen der verschiedenen Medikamente geachtet werden, erst recht, wenn ein akutes Geschehen wie eine Schmerzsymptomatik zu
den chronischen Erkrankungen hinzukommt. Die Nephrologen weisen darauf hin, dass «nichtsteroidale Antiphlogistika […] nicht regelmässig eingesetzt werden [sollten] bei Patienten mit Hypertonie oder [einer chronischen Nierenerkrankung] jeder Genese, inklusive Diabetes» (12). Grund hierfür ist, dass die nicht steroidalen Antiphlogistika (NSAR) eine arterielle Hypertonie verschlechtern (durch verminderte Wirkung antihypertensiver Medikamente) und ein akutes Nierenversagen induzieren sowie den Verlauf einer chronischen Niereninsuffizienz (CKD) verschlechtern können. Die Autoren raten primär von einer regelmässigen Einnahme der NSAR ab, eine gelegentliche Einnahme (1-mal/Woche) sei aber möglich (12, 13, 14). NSAR sollten ebenso bei Patienten mit chronischer (ischämischer) Herzinsuffizienz nicht eingesetzt oder laut Leitlinie zumindest hinsichtlich der Indikation kritisch geprüft werden, da es durch Vasokonstriktion und Abnahme der glomerulären Filtrationsrate zu einer vermehrten Retention und Zunahme der Ödeme kommen kann (14, 13, 2). Dieses Krankheitsbild ist die Nummer 14 der häufigsten Diagnosen im Jahr 2017 und wird aufgrund der weiten Verbreitung in der Bevölkerung (die Gesamtprävalenz der Herzinsuffizienz wird in Industrienationen mit 2 % angegeben (8)) in den Empfehlungen der Kardiologie besprochen.
Körperliches Training trotz Herzinsuffizienz bei richtiger Medikation
Wichtig für die ambulante und leitliniengerechte Versorgung «[dieser] Patienten mit stabiler Herzinsuffizienz (NYHA I–III) [ist] in ärztlicher Absprache ein regelmässiges Belastungstraining durch[zu]führen, um damit ihre körperliche Leistungsfähigkeit und Lebensqualität zu verbessern sowie ihre kardialen Symptome zu vermindern» (15) (16). Empfohlen wird dies sowohl für eine Herzinsuffizienz mit reduzierter (systolischer Herzinsuffizienz) als auch mit erhaltener Ejektionsfraktion (diastolische Herzinsuffizienz). Wichtig sind bei der Durchführung dieses Trainings die Optimierung der Pharmakotherapie sowie die optimale Intensität des Trainings. Betont wird in der Empfehlung die notwendige «Vermittlung der Bedeutung [des Trainings] durch den Arzt» (15). Zur bereits genannten Optimierung der medikamentösen Therapie gehört unter anderem die «Verschreibung von Mineralkortikoidrezeptor-Antagonisten […]» (15). Die aktuelle Leitlinie empfiehlt die Gabe eines Mineralkortikoidrezeptor-Antagonisten (MRA), wenn trotz der Gabe eines ACE-(angiotensin-converting enzyme-)Hemmers oder Angiotensinrezeptorblockers und eines Betablockers Symptome einer Herzinsuffizienz bestehen, der Patient in die Kategorie NYHA II fällt und eine eingeschränkte linksventrikuläre Auswurffraktion von 35 Prozent aufweist (15) (2). Damit können laut der Empfehlung die Rehospitalisierungsrate und das relative Letalitätsrisiko gesenkt werden (um 15 – 30 %). Der Anteil der mit einem MRA behandelten Patienten liegt aber mit nur 23 Prozent deutlich ausserhalb des Zielbereichs, weshalb die Autoren trotz der erforderlichen Kontrollen der Nierenfunktionsparameter und der Kaliumwerte hier eine klare Empfehlung aussprechen.
KHK, Statin, fertig ... oder doch nicht?
Viele Patienten mit einer chronischen Herzinsuffizienz haben diese durch eine koronare Herzkrankheit (KHK) erworben.
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Auch für die medikamentöse Einstellung dieser Patienten hinsichtlich einer Lipidämie haben die Kardiologen in der Klug-Entscheiden-Kampagne eine Empfehlung ausgesprochen. Und zwar wird empfohlen, dass «die LDL-Cholesterin-Serumkonzentration mit einem Statin auf Werte unter 70 mg/dl (1,8 mmol/l) gesenkt beziehungsweise eine mindestens 50-prozentige Reduktion des LDL-Cholesterin-Ausgangswertes erreicht werden [sollte]» (15). Oft wird ein Statin schon während des Krankenhausaufenthalts bei einem Myokardinfarkt in hoher Dosierung angesetzt, die Werte beziehungsweise die regelmässige Einnahme dann aber nur selten kontrolliert. In den Leitlinien zur stabilen chronischen KHK werden jedoch zwei unterschiedliche Therapieregime beschrieben: eine Titriermethode sowie eine Strategie der festen Dosierung (z.B. Statin 40 mg unabhängig von den Laborwerten) (17). Bei der Titriermethode wird von den Autoren der Leitlinie ein Zielwert von < 100 mg/dl angegeben, da eine weitere Reduktion unterhalb dieses Grenzwertes (von 100 mg/dl auf 80 mg/dl) einen deutlich geringeren Effekt habe als diejenige von 150 mg/dl auf 130 mg/dl. Die Verfasser weisen darauf hin, dass es trotz der uneinheitlichen Datenlage bezglich der beiden Therapieregime unumstritten ist, dass Patienten mit einer KHK von einer Statintherapie profitieren. Da die Empfehlungen der Kardiologie nach der aktuellsten Version der Leitlinie herausgegeben wurden und die Leitlinie selbst sich bei der Erstellung dieses Artikels in der Überarbeitung befand, sollte auf die Empfehlungen der neuen 4. Leitlinienversion zur Therapie der chronischen KHK geachtet werden. Schulungen bei Patienten mit Diabetes sind grundsätzlich unverzichtbar Ein bekannter Risikofaktor und Begleiterkrankung für diese bisher besprochenen kardialen Erkrankungen beziehungsweise für das Patientenkollektiv ist der Diabetes mellitus. Die Diagnose wird entweder ambulant oder während eines stationären Aufenthalts gestellt. Häufig ist dann die Therapie des Akutereignisses (Hyper- oder Hypoglykämie) im Fokus der behandelnden Ärzte, insbesondere im Krankenhausalltag beziehungsweise auf der Notaufnahme. Die Schulung des Patienten selbst, um solche Vorfälle zu vermeiden, tritt oftmals in den Hintergrund, weshalb explizit in den Empfehlungen der Endokrinologie darauf hingewiesen wird, dass «[alle] Patienten mit Diabetes mellitus [...] bei Einleitung einer medikamentösen Therapie eine spezifische Schulung erhalten [sollten]» (6). Trotz der eingeführten Disease-Management-Programme haben nicht alle Patienten mit einem Diabetes mellitus (egal ob Typ 1 oder 2) eine strukturierte Schulung erhalten. Die Autoren der Empfehlungen beziehen sich hier auf den Qualitätsbericht der Disease-Management-Programme Nordrhein von 2016 (18). Ziel dieser Schulungen ist, dass Zeichen einer Überoder Unterzuckerung behandelt und eingeschätzt werden, die stationären Aufnahmen reduziert und die Lebensqualität der Patienten verbessert werden können (6). Die Schulung der Patienten wird auch in den Leitlinien des Typ-2-Diabetes als «Basistherapie» gewertet (19). Ebenso wird in der Leitlinie zur Therapie des Typ-1-Diabetes als Hauptziel angegeben, eine adäquate ambulante Schulung verstärkt zu verankern (20). Einsatz antiinfektiver Therapie Eine der weiteren Hauptmessages der Klug-Entscheiden-Kampagne, von mehreren Fachgesellschaften einheitlich formuliert, ist die kritische und rationale Anwendung antibiotischer Therapien. So wird bei «Patienten mit asymptomatischer Bakteriurie» (21) auch in der aktuellen Leitlinie (22) von einer Antibiose abgeraten. Ebenso stellt für die Autoren der Empfehlungen der Infektiologie «der Nachweis erhöhter Entzündungszeichen wie C-reaktives Protein (CRP) oder Procalcitonin (PCT) allein […] keine Indikation für eine Antibiotikatherapie dar […]» (21). In der Leitlinie «Husten» wird von einer routinemässigen Bestimmung der Entzündungsparameter CRP oder Procalcitonin abgeraten (23). Empfohlen wird auch (primär relevant für die stationäre Behandlung ab dem 3. oder 4. Behandlungstag), «bei fehlender klinischer Kontraindikation […] orale statt intravenöse Antibiotika mit guter oraler Bioverfügbarkeit [zu] applizier[en]» (24, 21). Auch legen sich die Autoren fest, dass «Patienten mit unkomplizierten akuten oberen Atemwegsinfektionen inklusive Bronchitis nicht mit Antibiotika behandelt werden sollen» (21). Grund ist die häufig virale Genese der Infektionen. Die Dauer der Beschwerden und Symptome (Husten) wird, wie in vielen Studien inzwischen bewiesen und in den Leitlinien (23) festgehalten, nicht verkürzt durch die Einnahme von Antibiotika (Vergleich von Amoxicillin-Clavulansäure und einem NSAR oder Plazebo (25)). Die Autoren geben zu bedenken, dass «der mögliche Schaden [der Antibiotika] (z.B. Allergien, andere Nebenwirkungen, Resistenzentwicklung) überwiegt» (21). Eingeschlossen werden in diese Empfehlungen der Pneumologie allerdings nur «Patienten ohne chronische Lungenerkrankung» (25). Und selbst bei Patienten mit einer bekannten chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) wird in den Leitlinien von der routinemässigen Gabe von Antibiotika abgesehen (23). Pneumologische Reha: Für wen und wann? Sollte es aber zu einer akuten infektbedingten Exazerbation einer COPD, die zu einem Krankenhausaufenthalt führte (25), gekommen sein, muss dringend im Anschluss an eine pneumologische Rehabilitation gedacht werden. Erneut ist hier die Schnittstelle zwischen Krankenhaus und Hausarzt beziehungsweise dem nachfolgenden behandelnden Arzt sehr wichtig. Ziel dieser Rehabilitation ist es, die Rehospitalisierungsrate zu senken und gleichzeitig die Lebensqualität und die Überlebensrate der Patienten zu steigern. Die Autoren geben an, dass diese Massnahme trotz ihrer nachgewiesenen Effektivität (die NNT (number needed to treat), um 1 Rehospitalisation innerhalb von 25 Wochen zu verhindern, beträgt laut der Empfehlung 4, die NNT, um in 107 Wochen 1 Todesfall an COPD zu verhindern, ist mit 7 angegeben) weiterhin zu selten verordnet wird (25). Die Indikation für eine pneumologische Rehabilitation wird in den Leitlinien unter der Voraussetzung eines motivierten Patienten gesehen, «wenn trotz adäquater Krankenbehandlung körperliche oder psychosoziale Krankheitsfolgen persistieren, welche alltagsrelevante Aktivitäten und die Teilnahme am normalen, privaten, öffentlichen oder beruflichen Leben behindern» (26). Neben dem Angebot der pneumologischen Rehabilitation dürfen aber «Kleinigkeiten» wie die Schulung neuer Inhalationssysteme ebenso wenig vergessen werden. Sowohl bei Patienten mit einer COPD als auch bei solchen mit einer 850 ARS MEDICI 24 | 2019 FORTBILDUNG pulmonalen Obstruktion aufgrund eines Asthma bronchiale sollte «eine Therapie mit Inhalatoren nicht begonnen oder geändert werden, ohne dass der Patient im Gebrauch des Inhalationssystems geschult ist und die korrekte Anwendung der Inhalatoren überprüft wurde» (25). Auch hier ist erneut die Schnittstelle zwischen der Notaufnahme beziehungsweise dem Krankenhaus und der ambulanten Versorgung hervorzuheben. Bei Exazerbationen oder der Erstdiagnose einer obstruktiven Lungenerkrankung wird sehr häufig im Krankenhaus die Medikation neu angesetzt, umgestellt oder angepasst, eine korrekte eigenständige Anwendung der Inhalatoren wird aber teilweise nicht forciert beziehungsweise bedarf weiterer Übung nach der Entlassung. Mit der korrekten Anwendung durch den Patienten kann der gewünschte Effekt des Medikaments (die Symptomkontrolle) erlangt und somit der «Verschreibung weiterer Medikamente», erneuten stationären Aufenthalten sowie einer Erhöhung der Behandlungskosten entgegengewirkt werden (25) (26). stelle Hausarzt/Notaufnahme erfordert, da eine Gelenkpunktion häufig im ambulanten Setting nicht möglich ist und laut Leitlinie des akuten Gichtanfalls auch nicht im ambulanten Setting durchgeführt werden sollte (29). Unklar heisst im Falle einer Gelenkschwellung, dass keine bekannte Grunderkrankung (Gicht) und kein adäquates Trauma vorliegen. Der Grund für dieses notfallmässige invasive Vorgehen ist, dass eine bakterielle Infektion des Gelenks zeitnah ausgeschlossen werden muss, um irreversible Schäden und konsekutive Funktionseinschränkungen zu vermeiden (30). Die Klinik eines Gichtanfalls und die einer bakteriellen Gelenkinfektion sind sehr ähnlich und beinhalten Schmerzen, Rötung und Überwärmung, sodass durch die körperliche Untersuchung keine der Differenzialdiagnosen ein- oder ausgeschlossen werden kann. Eine bakterielle Arthritis zeigt sich durch eine erhöhte Leukozytenanzahl im Punktat, mikrobiologische Kulturen sollten eingeschickt werden. Zudem liesse sich durch den Nachweis von Uratkristallen die definitive Diagnose einer Gicht stellen (27) (30). Bildgebung trotz fehlender Konsequenz? Ebenfalls häufig werden Patienten mit Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems in den Hausarztpraxen vorstellig. Bei Rückenschmerzen kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen dem behandelnden Arzt (egal ob ambulant oder auf der Notaufnahme) und dem Patienten, sodass die gemeinsame Schnittstelle hier eine kongruente Haltung gegenüber dem Patienten sein sollte. Bei Rückenschmerzen ist der Wunsch nach einer Diagnose und somit nach einer Bildgebung bei vielen Patienten sehr gross. Jedoch sollte «bei nicht spezifischem Kreuzschmerz unter 6 Wochen ohne ‹red flags› (…) eine Bildgebung nicht erfolgen» (27). «Red flags» sind Hinweise auf Ursachen, die einen akuten Handlungsbedarf erfordern, wie beispielsweise Verdacht auf «eine Fraktur, Tumor, Infektion oder Radikulopathie/Neuropathie» (27). In den aktuellen Leitlinien zum Kreuzschmerz besteht die Hauptdiagnostik aus einer ausführlichen körperlichen Untersuchung und Anamnese (auch bezüglich extravertebragener und psychosozialer Ursachen sowie hinsichtlich der «red flags»), wobei die einzelnen anamnestischen Befunde nur im Gesamtbild und nicht isoliert interpretiert werden sollen (28). Gegen eine Bildgebung wird sich in der Leitlinie nicht nur bei der initialen Vorstellung ausgesprochen, es wird auch zu keiner Wiederholung einer Bildgebung bei persistierender, aber unveränderter Klinik geraten und nur eine Überprüfung der Indikation bei progredienten und aktivitätseinschränkenden Beschwerden nach vier bis sechs Wochen empfohlen. Die Begründung: Hinsichtlich der Schmerzintensität und der Funktionalität gab es keine Unterschiede in randomisierten kontrollierten Studien bei Verzicht auf oder Durchführung einer sofortigen Bildgebung. Zur Unterstützung im Gespräch und bei der Beratung der Patienten wurde begleitend zur Leitlinie eine Patienteninformation entwickelt, die den Verzicht auf eine Bildgebung weiter erläutert. Zügiges Handeln bei Knieschwellung Das abwartende Verhalten trifft allerdings nicht für alle Erkrankungen des Bewegungsapparats zu. Beim Auftreten von unklaren, akuten Gelenkschwellungen «soll unverzüglich durch Gelenkpunktion/Punktatuntersuchung» (27) eine weitere Abklärung erfolgen. Hier wird sich in den Empfehlungen der Rheumatologen klar für eine sehr invasive Diagnostik ausgesprochen, welche eine gute Zusammenarbeit an der Schnitt- Klug entscheiden: interdisziplinär, interprofes- sionell und gemeinsam mit dem Patienten Natürlich stellen all diese Empfehlungen kein Regelwerk dar, sodass individuelle gemeinsame Entscheidungen mit dem Pa- tienten (shared decision making) möglich und erwünscht sind. Ebensowenig ersetzen die Empfehlungen die aktuellen Leitli- nien der einzelnen Fachgesellschaften. Vermieden werden sollten aber eine Über- und Unterversor- gung der Patienten durch das punktuelle Aufgreifen relevanter Diagnose- und Therapieschritte durch die Empfehlungen, wodurch sich die Beratung und die Diskussion mit skeptischen und kritischen sowie sehr fordernden Patienten erleichtern lassen. Zielobjekte der Kampagne sind im gleichen Masse der behandelnde Arzt und der Patient. Das Gefühl, dass «nichts gemacht wird», kann von Beginn an vermieden werden, wenn wir den Patienten als selbstbestimmten und aufgeklärten Ent- scheidungsträger einbinden können. Ein weiterer Punkt, der eventuell über diese Empfehlungen erreicht werden kann, ist eine bessere Verknüpfung der ambulanten und klinischen Ver- sorgung mit einer kongruenten Basis der Entscheidungsfin- dung. Der direkte (mündliche) Kontakt zwischen den ambu- lanten Ärzten und der Notaufnahme sollte hierdurch aber auf keinen Fall ersetzt werden. Die Schnittstelle zwischen der ambulanten und der innerklinischen Versorgung ist, wie be- reits mehrfach betont, eine der wichtigsten im Gesundheits- system, sowohl für das ärztliche Personal als auch für den Patienten selbst. s Dr. med. Isabel Lück Medizinische Klinik, Klinikum Itzehoe 25524 Itzehoe Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert. Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 14/2019. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin, Anpassungen an Schweizer Verhältnisse wurden durch die Redaktion von ARS MEDICI vorgenommen. Literatur: 1) ABIM: Choosing Wisely; https://www.choosingwisely.org/our-mission/. 2) AWMF: Gemeinsam Klug Entscheiden; https://www.awmf.org/medi- zin-versorgung/gemeinsam-klug-entscheiden.html. 3) DGIM: Klug entscheiden, 30.12.2018; https://www.klug-entscheiden. ARS MEDICI 24 | 2019 851 FORTBILDUNG com/. 4) Hasenfuss G: Klug entscheiden ... in der Notaufnahme. Dtsch Arzteblatt 2018; 115: A-704/B-606/C-608. 5) Zylka-Menhorn V: Klug-Entscheiden-Empfehlungen: Für die Chirurgie der- zeit kein «Muss». Dtsch Arzteblatt 2017; 114: A-741/B-629/C-61. 6) Feldkamp J: Klug entscheiden … in der Endokrinologie. Dtsch Arztebl, Jg. 113, Sammelband, S. 19–23. 7) Williams B et al.: ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. 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Dtsch Arztebl 2017, Jg. 113, Sammelband, S. 36–40. 16) AWMF: Nationale Versorgungsleitlinie Chronische Herzinsuffizienz – Langfassung, 2. Aufl., Version 3, 2017. 17) AWMF: Nationale Versorgungsleitlinie Chronische KHK, 2/2016. 18) Groos S et al.: 2016 Qualitätsbericht – Disease-Management-Programme Nordrhein, Nordrheinische Gemeinsame Einrichtung Disease-Management-Programme GbR, 2016; https://www.kvno.de/downloads/quali/ qualbe_dmp16.pdf. 19) AWMF: Nationale Versorgungsleitlinie Therapie des Typ-2-Diabetes – Langfassung, Version 1, 8/2013. 20) AWMF: S3-Leitlinie Therapie des Typ-1-Diabetes, 2. Aufl., 3/2018. 21) Jung N: Klug entscheiden ... in der Infektiologie. Dtsch Arztebl 2017, Jg. 113, Sammelband, S. 15–18. 22) AWMF: DEGAM-S3-Leitlinie Nr. 1: Harnwegsinfektion, 2018. 23) AWMF: DEGAM-S3-Leitlinie Nr. 11: Husten, 2014. 24) AWMF: S3-Leitlinie Strategien zur Sicherung rationaler Antibiotika-Anwendung im Krankenhaus, 12/2013. 25) Jany B: Klug entscheiden ... in der Pneumologie. Dtsch Arztebl 2017, Jg. 113, Sammelband, S. 24–27. 26) AWMF: S2-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis und Lungenemphysem (COPD), 2014. 27) Fiehn C et al.: Klug entscheiden ... in der Rheumatologie. Dtsch Arztebl 2017; Jg. 113, Sammelband, S. 32–35. 28) AWMF: Nationale Versorgungsleitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz – Langfassung, 2. Aufl., Version 1, 12/2016. 29) AWMF: S1-Leitlinie Akute Gicht in der hausärztlichen Versorgung, 9/2013. 30) AWMF: S1-Leitlinie Bakterielle Gelenkinfektionen, 6/2016. 852 ARS MEDICI 24 | 2019