Transkript
EDITORIAL
Scharfsichtiger Computer
Kürzlich ging durch die Presse, dass autonom fahrende, chauffeurlose Autos durch das Auftauchen simpler, bunt gemischter Farbkleckse ins Schleudern gebracht werden können (1). Es war nicht das erste Mal, dass sich eine sogenannte künstliche Intelligenz als wenig schlau erwies. Doch letztlich wird man irgendwann das Farbklecksproblem wohl lösen, auch wenn bis dahin noch viel Wasser den Rheinfall hinunterstürzen dürfte. Man mag über den Hype um lernfähige, vermeintlich «intelligente» Computersysteme den Kopf schütteln, aber es gibt durchaus nützliche Anwendungen, und einige davon werden sich in der Medizin etablieren. So ist beispielsweise klar, dass der Nutzen des Darmkrebsscreenings davon abhängt, wie die Koloskopie durchgeführt wird und wie erfahren der untersuchende Arzt damit ist. Als Qualitätsparameter gilt die Detektionsrate von Adenomen. Man schätzt, dass diese Polypen bei mindestens jeder zweiten Person im typischen Darmkrebsscreeningalter zu finden ist, aber die Detektionsrate schwankte in Studien zwischen 7 und 53 Prozent (2). In den USA wird eine hohe Adenomdetektionsrate seit 2017 finanziell belohnt, und ein Forscherteam an der University of California hat mittlerweile einem künstlichen neuronalen Netzwerk erfolgreich beigebracht, Polypen in der Darmschleimhaut zu erkennen (2). Sie trainierten das System mit rund 8500 Standbildern aus gut 2000
Screeningkoloskopien. Auf der Hälfte der Bilder waren
einzelne Polypen zu sehen, auf den anderen Bildern nicht.
Nach der Lernphase erkannte das System in zuvor nicht
gezeigten Koloskopievideos Adenome mit einer Treffsi-
cherheit von etwa 96 Prozent, und zwar so rasch, dass es
in Echtzeit, also während einer Koloskopie eingesetzt
werden kann (2). Auch für die Entdeckung von Ösopha-
gus- oder Magenkarzinomen hat man Ähnliches entwi-
ckelt (3, 4).
Solche selbstlernenden Systeme können keinen Arzt er-
setzen, aber bei der Untersuchung hilfreich sein. Die
künstliche Intelligenz wechselt mitunter sogar von der
Schüler- zur Lehrerrolle: Insbesondere unerfahrene Unter-
sucher hätten nach einer Phase mit Unterstützung durch
künstliche Intelligenz später auch ohne diese eine deutlich
bessere diagnostische Ausbeute erzielt, berichtete man
an einer Pressekonferenz anlässlich der Jahrestagung der
deutschen Gastroenterologen in Wiesbaden (5).
Übrigens waren Computersysteme, deren Scharfsicht
man in der oben genannten Studie nicht nur mit Darm-
bildern, sondern auch mit allen möglichen nicht medizi-
nischen Motiven trainiert hatte, beim Aufspüren der
Adenome am besten (2). Warum das so ist, weiss man
nicht. Die Forscher nehmen an, dass die künstliche Intel-
ligenz beim massenhaften Betrachten verschiedener
Motive irgendwie nützliche grundlegende Strategien der
Bilderkennung erlernt – tönt nach Wirklichkeit geworde-
ner Science-Fiction, oder?
Renate Bonifer
s
Referenzen: 1. Experiment am Max-Planck-Institut: Farbkleckse bringen selbstfahrende Autos durcheinander. Spiegel online, 29. Oktober 2019. 2. Urban G et al.: Deep learning localizes and identifies polyps in real time with 96% accuracy in screening colonoscopy. Gastroenterology 2018; 155(4): 1069–1078. 3. Cai SL et al.: Using deep learning system in endoscopy for screening of early esophageal squamous cell carcinoma (with video). Gastrointest Endosc 2019; 90(5): 745–753. 4. Wu L et al.: A deep neural network improves endoscopic detection of early gastric cancer without blind spots. Endoscopy 2019; 51: 522–531. 5. Medienmitteilung der Pressestelle Viszeralmedizin 2019 vom 7. Oktober 2019.
ARS MEDICI 23 | 2019
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