Transkript
BERICHT
Orthopädische Operationen
Fragwürdige chirurgische Eingriffe nach Frakturen
Der Orthopädie wird von den Medien oft vorgeworfen, zu viele Operationen durchzuführen. Am 79. Jahreskongress der Schweizer Orthopäden stellte man sich dieser Frage und wählte «unnötige Operationen» als Hauptthema des Kongresses. Neben grundsätzlichen Methodikfragen standen häufige Operationsindikationen auf dem Prüfstand. Oft gab es kein eindeutiges «Ja» oder «Nein», sondern die beste Entscheidung musste aufgrund von unterschiedlichen Variablen gefällt werden. Zwei Themen sind auch für die Hausarztpraxis wichtig: Dr. Jan Rosenkranz, Klinik für Unfallchirurgie am Kantonsspital Luzern, stellte die Frage, ob alle Implantate nach einer Fraktur wieder entfernt werden müssen, und Prof. Paul Heinis, Orthopädie Sonnenhof Bern, widmet sich dem kontroversen Thema der Zementaugmentation bei Wirbelfrakturen.
Die Implantatentfernung nach Frakturen ist eine sehr häufige Operation. Die Zahlen variieren, in USA und den skandinavischen Ländern stellen sie 5 bis 6 Prozent der orthopädischen Eingriffe dar, in Deutschland ist es die vierthäufigste Operation mit rund 180 000 Eingriffen pro Jahr (1). Dies führt neben den direkten Kosten auch zu nicht unerheblichen indirekten Gesundheitskosten, verursacht doch eine Metallentfernung einen durchschnittlichen Arbeitsausfall von 11 Tagen.
Implantatentfernung wirklich (un)nötig?
Zur Implantatentfernung gibt es harte Indikationen. So müssen Implantate, die aus der Haut herausragen oder mit Gelenken oder Sehnen interferieren, entfernt werden, was beispielsweise häufig am distalen Radius vorkommt. Als weiche Indikationen gelten Klagen des Patienten über Kraftverlust, verminderte Gelenkbeweglichkeit, Parästhesien, Schmerz, Wetterfühligkeit oder einfach der persönliche Wunsch nach Entfernung auch ohne subjektive Beeinträchtigung. Für eine Implantatentfernung als reine Vorsichtsmassnahme, aus Furcht vor der Entstehung von Allergie oder Krebs, lassen sich in der Literatur kaum Daten finden. Aus der Endoprothetik weiss man, dass die Sensibilisierung auf Implantate unter 1 Prozent liegt (2, 3). Patienten mit einer Nickelallergie sind etwas eher gefährdet. Allerdings bedeutet ein positiver Hauttest nicht unbedingt, dass der Patient auf ein Implantat allergisch reagieren wird. Rosenkranz hat, wie er erklärte, in seinem Berufsleben bisher nur einen fraglichen Fall einer Allergie gesehen. Eine sichere Diagnose sei oft schwierig zu stellen. Wenn eine Allergie in Betracht gezogen werde, sollte man das Implantat aber entfernen, rät er. Zur Frage, ob Implantate Krebs fördern, gibt es nur wenige Fallberichte, die eine Assoziation zwischen Implantat und Malignom nahelegen. Ein Kausalzusammenhang konnte aber nicht bewiesen werden (4).
Mehr Frakturen?
Eine weitere Befürchtung ist, dass es bei liegenden Implantaten vermehrt zu Periimplantatfrakturen kommt. Einerseits
versteifen Implantate den Knochen und stellen deshalb ein Risiko für Frakturen dar, andererseits können nach der Implantatentfernung Schraubenlöcher eine Schwachestelle darstellen. Das Refrakturrisiko wird in einer Studie mit 1 bis 3 Prozent angegeben. Höher ist es am Vorderarm (5), an der Clavicula und am Femur. Allerdings war bei einzelnen Frakturen die Verweildauer der Implantate in dieser Studie sehr kurz, sodass es sich möglicherweise um Refrakturen bei noch nicht konsolidiertem Knochen handeln könnte. Im Bereich des Femur wurde in einer Studie (6) das Risiko einer Periimplantatfraktur bei einem Gammanagel von 3 bis 4 Prozent beobachtet, bei einer dynamischen Hüftschraube ist die Inzidenz geringer. Bei älteren Patienten mit osteoporotischen Knochen kann das Implantat dagegen unter Umständen sogar vor weiteren Frakturen schützen (7).
Schmerzhafte Implantate entfernen?
Ob die Entfernung eines schmerzhaften Implantats erfolgreich ist, kann im Einzelfall nicht vorausgesagt werden. Die meisten Studien sind retrospektiv (8). Die wenigen existierenden prospektiven Studien haben ein gemischtes Patientengut und schliessen vor allem Implantate an den unteren Extremitäten ein. Basierend auf drei Studien (1, 9, 10), kann gemäss Rosenkranz als Faustregel gesagt werden, dass sich der Schmerz nach der Entfernung des Implantats bei 50 Prozent der Patienten vermindert, bei den anderen bleibt er konstant, bei wenigen Patienten kann er sogar stärker werden. Entfernt man das Implantat bei asymptomatischen Patienten, treten bei einem kleinen Prozentsatz der Patienten nach der Implantatentfernung neu Schmerzen auf. Nicht vergessen sollte man, dass auch bei der Metallentfernung Komplikationen (1) auftreten können. Eine Studie mit 500 Patienten zeigte, dass es rund bei 10 Prozent zu Komplikationen kommt. Am häufigsten sind eine gestörte Wundheilung und Infektionen, seltener auch Nervenläsionen und eine unvollständige Entfernung des Implantats. Obwohl die Implantatentfernung eine häufige Operation ist, gibt es keine universellen Guidelines, sondern verschiedene
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eher lokal gültige Empfehlungen. Einzig die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie hat eine kurz abgefasste Leitlinie zur Implantatentfernung veröffentlicht (11). Grundsätzlich ist man bei älteren Patienten eher zurückhaltend, beim jüngeren Patienten stellt man die Indikation weiter, aber auch hier muss nicht jedes Implantat wieder entfernt werden.
Zementaugmentation bei Wirbelfrakturen
Trotz 3000 publizierter Arbeiten wird dieses Thema intensiv diskutiert. Zur Methode der Zementaugmentation bei Wirbelfrakturen wurden in den späten 1990er-Jahren viele Fallserien veröffentlicht, die sehr positive Effekte zeigten. Die Ernüchterung kam 2009 mit zwei randomisierten, kontrollierten Studien (12, 13), die im «New England Journal of Medicine» publiziert wurden und keinen Unterschied zwischen der Zementaugmentation und einer Sham-Intervention feststellten. Auch bei den neueren Studien finden sich widersprüchliche Ergebnisse. Während die VETROS-IV-Studie (14) keine Unterschiede feststellt, zeigt die VAPOUR-Studie (15) Behandlungserfolge. Um diese Diskrepanz erklären zu können, müssen die Studien detailliert angeschaut und verglichen werden, denn sie messen nicht dasselbe. Die VAPOUR-Studie schloss 120 über 60-jährige Patienten ein mit einer Schmerzdauer unter 6 Wochen und einem hohen Schmerzniveau auf der Analogskala von mindestens 7. In der Magnetresonanztomografie (MRI) mussten eine oder zwei frische Frakturen bestätigt sein. Die Patienten wurden randomisiert und entweder einer Zementaugmentation oder einer Sham-Intervention mit subkutaner Lokalanästhesie zugeführt. In der behandelten Gruppe fand sich ein signifikant höherer Anteil an Patienten, die eine Schmerzstärke von 4 oder weniger erreichten. Der grösste Erfolg fand sich bei Frakturen im thorakolumbalen Übergang (Th10–L2). Der stationäre Aufenthalt der behandelten Patienten war bedeutend kürzer. Bei den augmentierten Wirbeln kam es in 27 Prozent der Fälle zu einem Höhenverlust, bei nicht augmentierten hingegen bei 63 Prozent. Bei den nicht behandelten Patienten sind zwei schwere neurologische Komplikationen aufgetreten. Es ist offenbar wichtig, dass man bei der Behandlung genügend Zement einspritzt – in der Studie wurden 7 ml pro Wirbel verwendet. Die Inzidenz neuer Frakturen war hingegen identisch bei behandelten und nicht behandelten Patienten. Die VERTOS-IV-Studie umfasste 180 Patienten mit unterschiedlichen Einschlusskriterien. Die Patienten waren über 50 Jahre alt, ambulant und hatten Frakturen von Th5–L5. Die Schmerzstärke auf der Analogskala musste über 5 sein, und es wurden auch Patienten eingeschlossen, die seit 9 Wochen an Schmerzen litten. Bei beiden Gruppen fand sich der gleiche Prozentsatz an Patienten mit reduzierten Schmerzen, und in beiden Gruppen erreichten die Patienten im Durchschnitt sowohl kurz- als auch langfristig die gleiche Schmerzstärke. Die Autoren folgerten daraus, dass man mit der Zementaugmentation zurückhaltend sein sollte. Liest man die Studie aber aufmerksam, finden sich bei nicht augmentierten Patienten doppelt so häufig persistierende Schmerzen über Stärke 5, machte Heinis aufmerksam. Zudem trat sechsmal häufiger ein Höhenverlust eines Wirbels auf. Dabei sind es genau die Patienten mit einem Höhenverlust, die häufiger an Schmerzen
leiden. Beide Gruppen hatten gleich häufig neue Frakturen. Die Autoren der VAPOUR-Studie machen darauf aufmerksam, dass die positiven Ergebnisse verwässert werden, wenn man die Resultate dieser Studie zusammen mit den anderen in einer Metaanalyse (13–16) beurteile. Denn Einschlusskriterien und Methoden der VAPOUR-Studie unterschieden sich. So waren die Patienten stationär, das Frakturalter immer jünger als 6 Wochen und 80 Prozent unter 3 Wochen alt. Zudem wurde eine relativ grosse Menge Zement injiziert – alles Faktoren, die zum positiven Ergebnis beigetragen haben mögen.
Rückgang invasiver Behandlungen
Aufgrund der negativen Studien wurden in den letzten Jahren weniger Patienten bei Wirbelfrakturen invasiv behandelt. Nun hat eine Metaanalyse (13–16) untersucht, welche Folgen die restriktiveren Empfehlungen hatten, und jeweils zwei Fünfjahresperioden (2005–2009 und 2010–2014) vor und nach der Publikation der kritischen Studien verglichen. Tatsächlich sind die Interventionen vom ersten zum zweiten Beobachtungszeitraum stark zurückgegangen. In dieser zweiten Episode ist aber auch die Mortalität der Patienten um 4 Prozent gestiegen. Vergleicht man behandelte und nicht behandelte Patienten, findet sich bei den nicht behandelten eine um 8 bis 24 Prozent höhere Mortalität. Der Arzt steht im Spannungsfeld zwischen divergierenden Studienresultaten und konkreten Patienten mit Frakturen und Schmerzen. Patienten mit Rückenschmerzen werden meist primär konservativ behandelt. Wenn die Schmerzen persistieren, sollte aber ein Röntgenbild gemacht werden. Oft kann man im ersten Röntgenbild die Fraktur nicht schlüssig beurteilen, deshalb braucht es Kontrollen. Findet sich ein höhenverminderter Wirbel, sollte eine Zementaugmentation erwogen werden. Es ist besser, dies im frühen Stadium zu tun, bevor der Wirbel zusammengesintert ist, als später eine sekundäre Aufrichtung zu versuchen. Dabei sei es wichtig, die Patienten zu identifizieren, die von einer Augmentation profitieren, so Heinis. Vor allem sollte verhindert werden, dass Patienten durch die Wirbelfrakturen Fehlstellungen erleiden, was für die Betroffenen gravierend ist. Die Morphologie der Fraktur spielt dabei eine wichtige Rolle: Besonders gefährlich sind Frakturen, die beide Endplatten betreffen. Speziell Patienten mit komplexen Frakturen, hospitalisierte Patienten, die nach drei Tagen noch nicht auf den Beinen sind, profitieren von einer Augmentation oder Stabilisierung. Eine Augmentation ist dagegen bei alten Frakturen nicht sinnvoll. An eine begleitende Therapie der Osteoporose sollte aber in jedem Fall gedacht werden, erinnerte der Experte. Momentan werden Behandlungsrichtlinien (15–18) erarbeitet, die verschiedene klinische Parameter wie Morphologie der Fraktur, Knochendichte, Schmerzsituation, Neurologie Mobilisierbarkeit und Allgemeinzustand des Patienten berücksichtigen und eine Entscheidung erleichtern sollen. s
Barbara Elke
Referenzen unter www.arsmedici.ch
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Referenzen: 1. Reith G et al. : Metal implant removal: benefits and drawbacks--a patient survey. BMC Surg 2015; 15: 96. 2. Busam ML et al. : Hardware removal: indications and expectations. J Am Acad Orthop Surg 2006; 14:113–120. 3. Swiontkowski MF et al.: Cutaneous metal sensitivity in patients with orthopaedic injuries. J Orthop Trauma 2001; 15: 86–89. 4. Signorello LB et al.: Nationwide study of cancer risk among hip replacement patients in Sweden. J Natl Cancer Inst 2001; 93: 1405–1410. 5. Ochs BG et al.: Refrakturen nach Entfernung von Osteosynthesematerialien. Unfallchirurg 2012; 115: 323–329. 6. Docquier PL et al.: Complications associated with gamma nailing. A review of 439 cases. Acta Orthop Belg 2002; 68: 251–257. 7. Osnes EK et al.: More postoperative femoral fractures with the Gamma nail than the sliding screw plate in the treatment of trochanteric fractures. Acta Orthop Scand 2001; 72: 252–256. 8. Minkowitz RB et al. : Removal of painful orthopaedic implants after fracture union. J Bone Joint Surg Am 2007; 89: 1906–1912. 9. Karladani AH et al.: Tibial intramedullary nails – should they be removed? A retrospective study of 71 patients. Acta Orthop 2007; 78: 668–671. 10. Brown OL et al.: Incidence of hardware-related pain and its effect on functional outcomes after open reduction and internal fixation of ankle fractures. J Orthop Trauma 2001; 15: 271–274. 11. Sehmisch S et al.: Implantatentfernung nach Osteosynthese. Leitlinien Unfallchirurgie 2018; AWMF Nr. 012-004. www.awmf.org/leitlinien/detail/ ll/012-004.html 12. Kallmes DF et al.: A randomized trial of vertebroplasty for osteoporotic spinal fractures. N Engl J Med 2009; 361: 569–579. 13. Buchbinder R et al. A randomized trial of vertebroplasty for painful osteoporotic vertebral fractures. N Engl J Med 2009; 361: 557–568. 14. Firanescu CE et al.: Vertebroplasty versus sham procedure for painful acute osteoporotic vertebral compression fractures (VERTOS IV): randomised sham controlled clinical trial. BMJ 2018; 361: k1551. 15. Clark W et al.: Safety and efficacy of vertebroplasty for acute painful osteoporotic fractures (VAPOUR): a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2016; 388: 1408–1416. 16. Diamond T et al.: Percutaneous Vertebroplasty for Acute Painful Osteoporotic Vertebral Fractures-Benefits Shown in VAPOUR Trial Masked When Pooled With Other Clinical Trials. J Bone Miner Res 2019; 34: 1182–1184. 17. Ong KL et al.: Were VCF patients at higher risk of mortality following the 2009 publication of the vertebroplasty «sham» trials? Osteoporos Int 2018; 29: 375–383. 18. Hirsch JA et al.: Management of vertebral fragility fractures: a clinical care pathway developed by a multispecialty panel using the RAND/UCLA Appropriateness Method. Spine J 2018; 18: 2152–2161.
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