Transkript
FORTBILDUNG
Orale Antidiabetika: Ab wann? Welche? Wie lange?
Empfehlungen zum Einsatz der modernen Diabetesmedikamente
Metformin gilt weiter als Nummer eins unter den oralen Antidiabetika. Was aber kommt danach, wenn der Blutzuckerspiegel damit nicht ausreichend sinkt? Heute sind moderne und vielversprechende Diabetesmedikamente auf dem Markt, die – wie etwa Gliflozin – sogar herzschützende Effekte haben. Wissenswert ist auch, wie man sie rechtzeitig und sinnvoll kombiniert – ob mit Insulin oder neuerdings als Tripletherapie.
Hellmut Mehnert
Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Einsatz von oralen Antidiabetika? Diese Frage ist leicht zu beantworten: Die Tabletten kommen immer dann ins Spiel, wenn die Ernährungsund Bewegungstherapie («Diät») nicht mehr ausreicht. Sie können so lange – und im Einklang mit der Diät – verabreicht werden, bis die körpereigene Insulinsekretion des Patienten durch das zunehmende Defizit an endogenem Insulin nicht mehr ausreicht. Nach der oralen Therapie folgt die sogenannte basal unterstützte orale Therapie (BOT), also die Gabe kleiner Insulindosen unter Beibehaltung der oralen Antidiabetika.
MERKSÄTZE
� Orale Antidiabetika kommen immer dann zum Eisatz, wenn Ernährungs- und Bewegungstherapie nicht mehr ausreichen. Nach der oralen Therapie folgt die basal unterstützte orale Therapie (BOT), d. h. die Gabe kleiner Insulindosen unter Beibehaltung der oralen Antidiabetika.
� Beim Typ-2-Diabetes werden Metformin, Gliptine (DPP-4Hemmer), Gliflozine (SGLT2-Hemmer) sowie seltener Acarbose und Pioglitazon eingesetzt.
� Die Diabetesbehandlung sollte man immer mit Metformin beginnen, sofern die GFR nicht unter 30 ml/min/1,73 m² liegt. Wenn Metformin nicht ausreicht, um den Blutzucker zu senken, gibt man zusätzlich entweder Gliptine oder Gliflozine. Zunehmend empfiehlt sich auch eine Tripletherapie aus Metformin, Gliptin und Gliflozin.
� Orale Antidiabetika können im Einklang mit der Diät verabreicht werden, bis die körpereigene Insulinsekretion des Patienten nicht mehr ausreicht. Nach der oralen Therapie kann die Gabe kleiner Insulindosen unter Beibehaltung der oralen Antidiabetika (BOT) erfolgen, bevor man dann zur teilweise intensivierten Insulintherapie ohne Tabletten übergehen muss.
Schreitet der Diabetes weiter fort, muss der Patient nur noch Insulin – eventuell intensiviert – spritzen. Diese Empfehlungen gelten ausschliesslich für den Typ-2-Diabetes. Typ 1 ist von vornherein intensiviert und allein mit Insulin zu behandeln. Ob man beim Double-Diabetes, also beim Auftreten eines Typ-2-Diabetes bei bereits bestehendem Typ 1 – jeder zehnte Typ-1-Diabetes-Patient ist davon betroffen – zusätzlich Metformin gibt, liegt im Ermessen des Arztes. Die Indikation dazu sollte er jedenfalls im Krankenblatt vermerken. Diese Diabetesform ist vor allem durch Gewichtszunahme, Insulinresistenz und ständig steigende Insulindosen erkennbar. Auch beim polyzystischen Ovarialsyndrom, das durch Sonografie und Testosteronbestimmung diagnostizierbar ist, sowie beim Auftreten eines Hirsutismus ist Metformin das Medikament der Wahl, da viele dieser Patienten einen Diabetes entwickeln oder schon haben.
Welche Diabetesmedikamente gibt es?
Beim Typ-2-Diabetes werden vor allem Metformin, Gliptine (Dipeptidylpeptidase-[DPP-]4-Hemmer), Gliflozine (SGLT2[sodium-glucose linked transporter 2-]Hemmer), Acarbose und Pioglitazon eingesetzt. Die beiden letzten Präparate geben die Ärzte seltener, weil bei Acarbose die Blutzuckersenkung durch die Hemmung der Alpha-Glukosidase nicht sehr stark ist und die Patienten vor allem bei höherer Dosis über Blähungen und andere Magen-Darm-Beschwerden klagen. Pioglitazon ist weiterhin auf dem Markt, wird aber von den Krankenkassen – leider – nicht erstattet. Dieses Medikament wirkt hervorragend gegen Insulinresistenz und ist das einzige orale Antidiabetikum, das auch der Fettleber entgegenwirkt. Metformin, Gliptine und Gliflozine lassen sich in insulinotrope und nicht insulinotrope Präparate (Gliflozine sowie Metformin) unterscheiden.
Biguanide (Metformin)
Metformin hat eine geradezu dramatische Entwicklung durchgemacht, da es sich vom früheren «Stiefkind» zum heu-
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tigen «Kronprinzen» entwickelte: Bei der Veröffentlichung der UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) 1998 zeigte sich, dass allein Metformin die kardiovaskuläre Mortalität senken konnte. Seither ist es das Medikament Nummer eins bei den oralen Antidiabetika – vorausgesetzt, es bestehen keine Kontraindikationen. Dazu zählen eine glomeruläre Filtrationsrate (GFR) unter 30 ml/min/1,73 m², Patienten, die unter Exsikkose leiden, oder auch die Gabe von Röntgenkontrastmitteln. Die immer wieder beschriebene Beeinträchtigung der Vitamin-B12-Spiegel spielt praktisch nur eine geringe Rolle. Trotzdem sollte man alle paar Jahre ein Blutbild machen, um zum Beispiel bei einer hyperchromen Anämie auf diesen Mangel aufmerksam gemacht zu werden und entsprechend therapieren zu können. Die Vorteile der Substanz sind vielfältig: Metformin wirkt über die Bremsung der Glukoneogenese zunächst blutzuckersenkend, also nicht insulinotrop. Ausserdem senkt es die Triglyzeridspiegel und erhöht die Inkretinsekretion, wodurch es sich auch deshalb vorzüglich zur Kombination mit Gliptinen eignet. Antikarzinogene Effekte von Metformin werden ebenfalls beschrieben. Eine Studie von Banister war insofern interessant, als durch die Metformingabe bei Diabetikern im Vergleich zu Nichtdiabetikern sogar eine geringe, wenn auch nicht signifikante Lebensverlängerung erzielt wurde. Unter Sulfonylharnstoffen hingegen war eine doppelt so hohe kardiovaskuläre Mortalität wie bei Nichtdiabetikern zu beobachten.
DPP-4-Hemmer oder Gliptine
Wie gesagt: Metformin ist ein idealer Kombinationspartner, vor allem auch für die Gliptine. Denn infolge des insulinotropen Effekts dieser Substanzen und durch die Bremsung der Glukagonsekretion kommt eine additive Blutzuckersenkung zustande. Gliptine wirken bekanntlich über eine Verzögerung des Abbaus von Inkretin (glucagon-like peptide 1, GLP-1), das nach Kohlenhydratgabe ohne Medikation nur für wenige Minuten im Blut nachweisbar ist. Inkretine sind hier wichtig, weil sie die beschriebenen Effekte aufweisen und durch die DPP-4-Hemmer in ihrem Abbau verzögert werden. So wirkt Sitagliptin bei einer Einmalgabe von 100 mg bis zu 24 Stunden. Nebenwirkungen der Substanzgruppe sind nicht zu beobachten. Das hat sich nach dem Einsatz der Präparate über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren zweifelsfrei erwiesen.
SGLT2-Hemmer oder Gliflozine
Präparate vom Typ der SGLT2-Hemmer, auch als Gliflozine bezeichnet, wirken über eine Verstärkung der Glukosurie, die ein Absinken des Blutzuckers mit sich bringt. Darüber hinaus kommt es auch zur Natriurese, was den Blutdruck günstig beeinflusst. Interessant ist, dass man bei den Patienten eine Gewichtsabnahme beobachten kann, die persistiert, aber keinen «Jo-Jo-Effekt» aufweist. Die Gliflozine haben auch den Vorteil, dass sie bei der Gewichtsreduktion gezielt das schädliche viszerale Fett abbauen und nicht etwa die Muskulatur reduzieren. Geradezu sensationelle Befunde zeigten sich bei der EMPA-REG-OUTCOME-Studie: Die kardiovaskuläre Situation wurde durch die Gabe von Gliflozin bei kardiovaskulär vorgeschädigten Patienten extrem günstig beeinflusst. Das veranlasste den Gemeinsamen Bundesausschuss in Deutschland seinerzeit dazu, einen «beträchtlichen Zusatz-
nutzen» für diese Patientengruppe auszusprechen: Um 38 Prozent konnte die kardiovaskuläre Mortalität im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Gliflozine reduziert werden, um 32 Prozent die Gesamtmortalität und um 35 Prozent die Mikroangiopathierate sowie die Hospitalisierungsquote wegen Herzinsuffizienz.
Wie sieht die ideale Kombination aus?
Die Diabetesbehandlung sollte immer mit Metformin beginnen, sofern beim Patienten die GFR nicht, wie erwähnt, unter 30 ml/min/1,73 m² liegt – sonst ist hier mit einer Laktazidose zu rechnen. Diese Befürchtung ist allerdings umstritten: Eine Studie hat gezeigt, dass mit Metformin behandelte Patienten nicht häufiger an Laktazidose erkrankten als ohne – ganz im Gegensatz zu den früheren Biguaniden Phenformin und Buformin. Nebenwirkungen von Metformin sind bei höherer Dosierung am Gastrointestinaltrakt feststellbar (zumeist bei Gaben > 2000 mg pro Tag). Die Dosis sollte deshalb nach dem Motto «start low, go slow» langsam eingeschlichen werden, und der Patient sollte das Medikament immer mit dem letzten Bissen der Mahlzeit einnehmen. Wenn Metformin nicht ausreicht, um den Blutzucker zu senken, gibt man zusätzlich entweder Gliptine oder Gliflozine. Gliptine haben den Vorteil, dass sie zwar insulinotrop wirken, aber im Gegensatz zu Sulfonylharnstoffen (SH) nicht zur Blutzuckersenkung mit der Gefahr von Hypoglykämien führen: Als «intelligente» Substanzen senken sie den Blutzucker nur, wenn dieser erhöht ist. Natürlich kann man als erstes zusätzliches Kombinationspräparat auch Gliflozine geben, die ebenfalls keine Unterzuckerungen hervorrufen – schon allein wegen ihrer günstigen kardiovaskulären Effekte. Das betrifft besonders, wie gesagt, kardiovaskulär vorgeschädigte Diabetiker, die man deshalb wohl stets in Kombination mit Gliflozin behandeln sollte. Als Nebenwirkung sind hier Genitalmykosen zu nennen, die bei jeder zehnten Frau auftreten. Sehr selten sind auch Ketoazidosen (zum Teil bei Euglykämie) zu beobachten. Zunehmend empfiehlt sich auch eine Tripletherapie aus Metformin, Gliptin und Gliflozin, wenn die Gabe von zwei oralen Antidiabetika nicht ausreicht. In den USA wird dieser Therapieansatz schon länger verfolgt.
Wie lange sollte man orale Antidiabetika geben?
Diese Frage wurde eingangs schon kurz beantwortet, als es um das partielle Versagen der oralen Antidiabetika ging und die BOT empfohlen wurde. Die BOT ist die basal unterstützte orale Therapie, bei der man die Tablettendosis beibehält und zusätzlich ein Basalinsulin verabreicht – am besten Glargin U 300, weil es am wenigsten zu Hypoglykämien neigt. Diese Behandlung ist in der Regel über mehrere Jahre erfolgreich, bevor man dann zur teilweise intensivierten Insulintherapie ohne Tabletten übergehen muss.
Fazit
Bei den oralen Antidiabetika wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht, die es ermöglichen, auf die früher vielfach eingesetzten SH völlig zu verzichten. Diese sind bekanntlich nicht ungefährlich – unter ihrer Gabe kommt es mitunter zu tödlichen Hypoglykämien und zu kardiovaskulären Schädigungen, wie die oben erwähnte Banister-Studie
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gezeigt hat. Auch ist die Sturzgefahr bei älteren Patienten, die mit SH behandelt werden, um die Hälfte höher als bei anderweitig therapierten Diabetikern. 5,5 Prozent der Patienten müssen sogar stationär behandelt werden, um die Folgen der Stürze operativ zu behandeln, was die angeblich so günstigen Kosten für diese Arzneimittel (der wichtigste Faktor, warum sie immer noch eingesetzt werden) natürlich erhöht. Heute gibt es drei sehr gute Medikamentengruppen: die Biguanide (Metformin), die Gliptine (DPP-4-Hemmer) und die Gliflozine (SGLT2-Hemmer). Sie bedeuten einen enormen Fortschritt in der Therapie des Typ-2-Diabetes, den man später – aber nicht zu spät – mit Insulin weiter therapieren kann. Erwähnt seien hier noch die – allerdings zu injizierenden – GLP-1-Rezeptor-Agonisten (z. B. Exenatide, Liraglutide, Semaglutide), die einen inkretinähnlichen, stark blutzuckersenkenden Effekt aufweisen und zur stärkeren Gewichtsab-
nahme sowie zur Appetitminderung (evtl. auch bei nur ein-
maliger Gabe pro Woche) führen.
s
Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert Forschergruppe Diabetes e. V. D-82152 Krailling
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur beim Autor.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 9/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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