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BERICHT
Fortpflanzungsmedizin
Die gesetzlichen Hürden lassen sich oft nur im Ausland überspringen
Jedes sechste Paar leidet an Unfruchtbarkeit. Vielen Betroffenen kann die assistierte Reproduktionsmedizin bei der Erfüllung des Kinderwunsches helfen. Doch aufgrund der sehr strengen schweizerischen Gesetzgebung sehen sich rund 1000 ungewollt kinderlose Paare pro Jahr gezwungen, medizinische Hilfe im Ausland zu beanspruchen.
Im deutschsprachigen Raum und speziell auch in der Schweiz begegnete die Gesellschaft der Fortpflanzungsmedizin über viele Jahre mit grosser Zurückhaltung. Entsprechend restriktiv ist auch der Gesetzgeber, wenn es um die Zulassung von reproduktionsmedizinischen Methoden geht. Anlässlich einer Podiumsdiskussion zum Thema, die im Mai am Universitätsspital Zürich stattgefunden hat, forderten Experten ein Umdenken. Prof. Bruno Imthurn, Inhaber des Lehrstuhls für Reproduktionsmedizin und Leiter des Kinderwunschzentrums am Universitätsspital Zürich, nannte ein Beispiel: «Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist in der Schweiz erst seit eineinhalb Jahren zugelassen. Obwohl sich diese Methode in vielen europäischen Staaten seit über 20 Jahren bewährt hat.» Der Weg bis zur Zulassung der PID sei steinig gewesen. Insgesamt hat sich Imthurn, unter anderem mit alt Ständerat Felix Gutzwiller, rund zwölf Jahre lang dafür eingesetzt. 2017 nahm das Volk das revidierte Fortpflanzungsmedizingesetz an – die PID ist nun zugelassen. Bis heute ist in der Schweiz hingegen die Eizellspende verboten, während diese in vielen Ländern Europas erlaubt ist. Imthurn hofft, dass es bei dieser Methode nicht wieder zwölf Jahre dauert, bis sie zugelassen wird.
Rechtliche Situation
Bereits Ende der 1980er-Jahre hielt das Bundesgericht fest, der Wunsch nach Kindern stelle eine elementare Erscheinung der Persönlichkeitsentfaltung dar. Kinder zu haben und aufzuziehen, bedeute für viele Menschen eine zentrale Sinngebung ihres Lebens, und die ungewollte Kinderlosigkeit werde von den Betroffenen häufig als schwere Belastung erlebt. Das gelte für Personen, die aus organischen Gründen keine Kinder haben könnten, oder für Personen, die eine natürliche Zeugung wegen genetischer Belastung oder angesichts der gesundheitlichen Risiken für die Kinder, etwa nach einer Krebsbehandlung, nicht verantwortbar erscheine (BGE 115 Ia234). Prof. Dr. Andrea Büchler von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich erklärte, dass auch die Nutzung der Fortpflanzungsmedizin zur Verwirklichung des Kinderwunsches ein Aspekt des Grundrechts der persönlichen Freiheit sei. «Dieses Grundrecht kann freilich eingeschränkt werden, wenn ein öffentliches Interesse oder der Schutz von
Interessen Dritter dies erfordert», führte Büchler aus, die auch Präsidentin der Nationalen Ethikkommission ist und sich seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin engagiert. Die Bundesverfassung hält im Artikel 119 zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie fest, dass der Mensch vor Missbräuchen der Fortpflanzungsmedizin geschützt sein muss und der Bund Vorschriften über den Umgang mit menschlichem Keim- und Erbgut erlässt, die für den Schutz der Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Familie sorgen.
Restriktiv geregelt
Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen in der Schweiz nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden können. Nicht erlaubt ist der Einsatz der Fortpflanzungsmedizin, um beim Kind bestimmte Eigenschaften (z. B. ein bestimmtes Geschlecht) herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben. Weiter hält die Verfassung fest, dass ausserhalb des Körpers der Frau nur so viele Eizellen zu Embryonen entwickelt werden dürften, wie für die Behandlung notwendig seien. Zudem habe jede Person Zugang zu den Daten über ihre Abstammung. Heute erlaubt das Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz die künstliche Insemination, die In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und den Gametentransfer. Ebenfalls zulässig sind die Samenspende, die Polkörperdiagnostik, die PID mit Einschränkungen sowie die Konservierung von Keimzellen und Embryonen. Verboten bleiben die Eizellspende, die Embryonenspende und alle Arten der Leihmutterschaft sowie das Klonen und die zielgerichtete Veränderung der DNA des Menschen (auch Genome – Editing genannt). Büchler sagte an der Podiumsdiskussion, dass heute vor allem das Verbot der Eizellspende in der Schweiz umstritten sei. Viele Schweizer Paare mit unerfülltem Kinderwunsch lassen sich deshalb im Ausland behandeln. Die Fachfrau erklärte den Grund für das Verbot: «Der Gesetzgeber argumentiert, dass die Eizellspende die Mutterschaft spalte, und zwar in eine genetische einerseits und eine biologische und soziale Mutter andererseits.» Eine gespaltene Mutterschaft sei unnatürlich
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und könne auch das Kindeswohl gefährden. Dafür gebe es jedoch keinen Nachweis. Begründet wird das Verbot der Eizellspende aber auch mit Verweis auf die gesundheitlichen Risiken für die Spenderin und die mögliche Ausbeutung von Frauen. Letzterem könne man mit einer sinnvollen Regelung begegnen. Zudem gelte laut Büchler dieses Argument dann nicht, wenn es um die Spende von überzähligen Eizellen gehe: Frauen, die sich einer Kinderwunschbehandlung unterziehen, könnten ihre überzähligen Eizellen anderen Frauen spenden – was freilich heute ebenfalls verboten ist. «Dadurch liesse sich das zusätzliche Risiko vermeiden», sagte die Expertin.
Flucht ins Ausland
Die Leihmutterschaft wird mit ähnlichen Argumenten verboten. Allerdings steht hier die Ausbeutung im Vordergrund, weil eine Leihmutter ihren Körper für längere Zeit zur Verfügung stellt. Zurzeit ist die Leihmutterschaft in der schweizerischen Politik kein Thema. Schweizer Paare suchen sich deshalb Leihmütter in den USA oder in anderen Ländern. Doch wie sieht es mit der rechtlichen Situation aus, wenn die so entstandenen Neugeborenen mit ihren Eltern in die Schweiz zurückkehren? Erst kürzlich hat sich das Bundesgericht dazu geäussert. «Grundsätzlich werden Kindesverhältnisse, die im Ausland entstehen, in der Schweiz anerkannt, ausser die Anerkennung würde fundamentalen Werten der Schweiz widersprechen», erläuterte Büchler. Das sei gemäss Bundesgericht namentlich dann der Fall, wenn keine genetische Beziehung zwischen den Eltern und dem durch die Leihmutter ausgetragenen Kind bestünde. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren bleibe dem nicht genetischen Elternteil nur die Stiefkindadoption.
Zweifelhafte Beschränkungen
Das Schweizer Recht gilt nicht nur deshalb als restriktiv, weil es die Eizellspende nicht erlaubt, sondern weil es den Zugang zu den an sich erlaubten Verfahren an gewisse Bedingungen knüpft. So ist die Samenspende nur für verheiratete Paare möglich. Eine gerichtete Samenspende, zum Beispiel zugunsten eines bestimmten Paares, ist ebenfalls verboten. Gleichgeschlechtliche Paare haben in der Schweiz bis jetzt generell keinen Zugang zur assistierten Fortpflanzungsmedizin. «Alle diese Einschränkungen werden mit dem Kindeswohl begründet, obwohl es keine Belege für die Gefährdung von Kindern wegen der fehlenden Ehe der Eltern oder der Gleichgeschlechtlichkeit gibt», sagte Büchler.
Social Egg Freezing
In der Schweiz haben Frauen heute die Möglichkeit, Eizellen in jungen Jahren entnehmen und für die spätere Erfüllung des Kinderwunschs konservieren zu lassen. Büchler erklärte, dass Social Egg Freezing deshalb zum Thema geworden sei, weil einige grosse Arbeitgeber in den USA die Kosten für die Eizellenkonservierung ihrer Mitarbeiterinnen übernähmen. Bei uns wird das Social Egg Freezing noch nicht breit genutzt. Die Regelung in der Schweiz wird auch insofern kritisiert, als die Eizellen regulär nur während fünf Jahren aufbewahrt werden dürfen. Durch einen Antrag kann diese Frist um weitere fünf Jahre verlängert werden. Hier bestehe eine Diskrepanz: Einerseits sollten Eizellen möglichst früh entnommen werden, weil dadurch die Schwangerschaftschance grösser ist. Andererseits
gebären Frauen in der Schweiz heute ihr erstes Kind immer später. Reicht die maximale Frist von zehn Jahren nicht aus, bleibt Frauen, die sich Eizellen in der Schweiz entnehmen und kryokonservieren lassen, nur der Transfer ins Ausland. Büchler ist der Meinung, dass das Fortpflanzungsmedizingesetz vom Jahr 2001, das als Reaktion auf eine Initiative zum Verbot der Fortpflanzungsmedizin entstanden ist, revidiert werden sollte. Frauen haben heute längere Ausbildungszeiten und werden später Mütter. Zudem sind Lebensformen wie die gleichgeschlechtliche Elternschaft eine Realität. Der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Fortpflanzungsmedizin komme einer Diskriminierung gleich. Nicht zuletzt hat sich auch die Einstellung der Bevölkerung zur Fortpflanzungsmedizin gewandelt.
Eizellqualität abhängig vom Alter
Während der Befruchtung wird das genetische Material der Mutter und des Vaters gemischt und durch die Organellen neu gruppiert. Dabei entstehen kleine Fehler. Dr. Michael Jemec vom Kinderwunschzentrum Pro Crea in Lugano führte aus: «Kleine Fehler sind erlaubt. Sind diese jedoch grösser und ist der Embryo nicht überlebensfähig, kommt es nicht zur Einnistung in der Gebärmutter.» Mit zunehmendem Alter nimmt die Qualität der Eizellen ab. Vor allem der Spindelapparat, für die Trennung der Schwesterchromosomen und das richtige Anordnen der Gene verantwortlich, ist bei älteren Frauen weniger koordiniert. Deshalb steigt das Risiko für chromosomale Anomalien, während die Chance auf eine Schwangerschaft sinkt. Ende der 1970er-Jahre wurden Frauen erstmals mit 28 Jahren schwanger. Heute liegt das Durchschnittsalter der erstgebärenden Schweizerin bei über 31 Jahren. Jemec erklärte: «Als Fortpflanzungsmediziner sind wir immer häufiger mit dem Problem der abnehmenden Eizellqualität konfrontiert.» Ab dem 35. Lebensjahr sinkt die Chance auf eine Schwangerschaft dramatisch. Gleichzeitig steigt das Risiko einer Fehlgeburt mit zunehmendem Alter. Auch bei Männern lässt die Zeugungsfähigkeit nach, allerdings erst nach dem 40. Geburtstag. Jemec ist ein Befürworter des Social Egg Freezings: «Durch die Kryokonservierung von Eizellen hat die Frau später doch die Chance auf ein Kind, das einen Teil ihrer Gene hat, falls es auf dem natürlichen Weg mit einer Schwangerschaft nicht klappen sollte.»
Die Chancen
Das Kinderwunschzentrum des Universitätsspitals Zürich kann heute sieben von zehn Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch zu einem Kind verhelfen, wenn die Frau unter 35 ist. Mit 43 Jahren liegt die Schwangerschaftschance bei unter 1 Prozent. Bruno Imthurn dazu: «Mit der Fortpflanzungsmedizin können wir uns lediglich die Schwangerschaftschance erkämpfen, die für das Alter der Frau natürlicherweise vorgesehen ist.»
Eizellspende – ein heisses Politikum
1998 sprach sich der Ständerat knapp für die Eizellspende aus. Im Fortpflanzungsmedizingesetz von 2001 blieb diese Methode jedoch verboten. 2013 stellte die Schweizerische Ethikkommission das Verbot der Eizellspende infrage und stufte es als diskriminierend ein. Während sich Männer mit
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ungenügender Samenqualität oder fehlenden Spermien den Kinderwunsch durch eine Spende erfüllen können, haben Frauen, die aufgrund ihres Alters oder nach einer Krebstherapie auf eine Eizellspende angewiesen sind, einzig durch eine Behandlung im Ausland eine Chance, Mutter zu werden. Diese Ungerechtigkeit veranlasste die Nationalrätin Rosmarie Quadranti 2017, eine Motion einzureichen, mit der sie den Bundesrat beauftragte, eine Regelung vorzulegen, die die Eizellspende in der Schweiz ermöglichen sollte. Der Bundesrat lehnte das jedoch ab und möchte die Situation erst 2023 wieder evaluieren. Quadranti dazu: «Es ist bedauerlich, dass wir heute durch diesen Entscheid Möglichkeiten, die uns die Medizin bietet, nicht individuell nutzen können.» Sie ist der Meinung, dass das Gesetz aus dem Jahr 2001 nicht mehr zeitgemäss sei und dringend totalrevidiert werden müsse. Besonders stossend findet sie, dass der Bundesrat durch seine Aussage erreicht habe, dass über das Thema Eizellspende im Moment nicht mehr diskutiert werde. Doch die Diskussion sei dringend notwendig, sagte auch Bruno Imthurn: «Von der Notwendigkeit der Eizellspende müssen wir auch das Volk überzeugen. Leider assoziieren immer noch viele Menschen
die Eizellspende einzig mit Frauen, die sich ihren Kinderwunsch im Rentenalter erfüllen wollen.» Michael Jemec ist der Meinung, dass sinnvolle Anpassungen des Gesetzes immer wieder blockiert werden. Er sagte an der Podiumsdiskussion: «Viele Politiker in Bern sind ungenügend über die Fortpflanzungsmedizin informiert und entscheiden aufgrund von Gefühlen. Die Schweiz droht deshalb im Bereich der Forschung den Anschluss zu verlieren.» Durch die aktuelle Gesetzeslage bleibt der Kinderwunsch für viele Paare in der Schweiz weiterhin unerfüllt, wenn die finanziellen Mittel für eine Behandlung im Ausland fehlen oder die betroffenen Frauen ihre Eizellen nicht in jungen Jahren einfrieren liessen.
Susanna Steimer-Miller s
Quelle: Podiumsdiskussion «Fortpflanzungsmedizin gestern, heute und morgen», 15. Mai 2019, Unispital Zürich; im Text zitierte Experten: Prof. Dr. iur. Andrea Büchler (andrea.buechler@rwi.uzh.ch), Prof. Dr. med. Bruno Imthurn (bruno.imthurn@usz.ch, USZ), Dr. med. Michael Jemec (michael. jemec@procrea.ch, Kinderwunschzentrum Procrea, Via Clemente Maraini 8, 6900 Lugano), Rosmarie Quadranti (rosmarie.quadranti@parl.ch, am Dorfbach 23, 8308 Illnau, Nationalrätin).
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