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BERICHT
Zwangsmassnahmen
Was muss dabei rechtlich beachtet werden?
Foto: KD
Zwangsmassnahmen und Zwangseinweisungen sind für die Betroffenen sehr dramatische Eingriffe. Trotzdem sind sie bisweilen unvermeidbar. Wie solche Anordnungen durchzuführen sind und welche Gesetzesvorschriften beachtet werden müssen, erklärte Rechtsmediziner Dr. Georg Sasse, Leiter Medizinischer Rechtsdienst vom Kantonsspital Aargau, am Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM) in Luzern.
Dr. Georg Sasse
Was ist eigentlich Zwang? Als Zwang werde jede im medizinischen Kontext angewandte Massnahme gesehen, die gegen den selbst bestimmten Willen oder den Widerstand eines Patienten durchgeführt werde. Dabei spiele es keine Rolle, ob es sich um eine aktuelle sprachliche oder körperliche Willensäusserung eines urteilsfähigen Menschen handle, eine Patientenverfügung vorliege oder ob ein mutmasslicher «eruierter» Wille vorliege, weil der Patient vorübergehend nicht urteilsfähig sei, sagte Rechtsmediziner Sasse.
körperlicher Gewalt und Hilfsmittel (Fesseln, Sperren, Diensthunde) oder Waffen durch befugte Amtsträger als wesentlichen Ausdruck der Staatsgewalt sieht. Eine grosse Heiterkeit im sehr zahlreich erschienenen Publikum löste eine moderne polizeideutsche Definition aus: Wenn eine renitente Person niedergerungen werden müsse, würde man neuerdings «den Kunden zu Boden begleiten», so Sasse. Zwang im weiteren Sinne ist es, wenn sich beispielsweise eine Person zwischen zwei unerwünschten Alternativen entscheiden muss, wenn es zu einer Behandlung ohne Zustimmung kommt oder wenn die Gesprächsführung so gestaltet wird, dass auf den Patienten Druck ausgeübt wird.
Klare Reihenfolge beim Patientenwillen
Apropos mutmasslicher Wille: In der gesetzlich festgelegten Reihenfolge des Patientenwillens steht an erster Stelle natürlich der Patient selbst, an zweiter Stelle eine Patientenverfügung, deren Verbote gelten müssen, an dritter Stelle der Partner, an vierter Stelle Personen im gleichen Haushalt. Erst danach kommen die Kinder, die Eltern und die Geschwister des Betroffenen. Erst wenn keiner dieser Vertreter verfügbar ist, kann der Arzt nach dem mutmasslichen Willen e ntscheiden. Werden körperliche Zwangsmassnahmen notwendig, beispielsweise bei gewalttätigen Patienten, unterscheidet der Gesetzgeber zwischen unmittelbarem und mittelbarem Zwang. Dabei ist unmittelbarer Zwang ein Rechtsbegriff, der die hoheitliche Einwirkung auf Personen oder Sachen mittels
KURZ & BÜNDIG
� Zwangsmassnahmen sind sehr drastische Eingriffe. � Die Verhältnismässigkeit soll nach Möglichkeit gewahrt
werden.
� Die Freiheits- beziehungsweise Bewegungseinschränkung soll letztes Mittel sein.
� Der Arzt kann unter bestimmten Umständen von der Schweigepflicht entbunden werden.
Bei Zwangsmitteln die Verhältnismässigkeit beachten
Ärzte haben keine Diensthunde oder Waffen. Ihnen stehen andere Zwangsmittel zur Verfügung: die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Zurückbehaltung freiwillig eingetretener Patienten (nur in der Psychiatrie), die fürsorgerische Unterbringung (FU), die Zwangsbehandlung von nicht mehr urteilsfähigen Menschen, Zwangsmassnahmen nach dem Epidemiegesetz und das Ausüben des ärztlichen Melderechts trotz Mitteilungsverbot seitens des Patienten. Übrigens haben nicht nur Ärzte die Möglichkeit, Zwang auszuüben, sondern auch «Normalbürger»; so kann eine vorläufige Festnahme vorgenommen werden etwa bei einem Delikt, bei einem Präventivnotstand oder bei einem Fahndungsaufruf. Ein Delikt im Arztzimmer sei beispielsweise die illegale Tonaufnahme eines ärztlichen Gesprächs durch den Patienten, berichtete der Gerichtsmediziner. Weigere sich der Patient, diese Aufnahme zu löschen, dürfe der Delinquent bis zum Eintreffen der Polizei vorläufig festgenommen werden. Allerdings seien in solchen Fällen die Zwangsmittel, jemanden festzusetzen, sehr beschränkt. «Wenn Sie sich in den Weg stellen oder den Patienten leicht wegdrücken, ist das noch in Ordnung. Wenn sie ihn aber ‹zu Boden ringen›, ist die Grenze schon überschritten. Da ist die Verhältnismässigkeit meist nicht mehr gegeben.» Bei einer Präventivnotwehr oder einem Präventivnotstand ist ein solches körperliches Handeln, je nachdem welches Rechtsgut geschützt werden muss, unter bestimmten Umständen jedoch rechtens.
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Wann ist die Schweigepflicht aufgehoben?
Neben den Meldepflichten sind auch die Melderechte gesetzlich verankert. So kann der Arzt die zuständigen Behörden informieren, er muss aber nicht. Bei mangelnder Fahrtüchtigkeit darf er der Polizei oder den Meldebehörden (aber nicht dem Arbeitgeber) Bescheid geben, worauf normalerweise der Führerschein überprüft wird. Der Haken dabei: Die Meldebehörde wird eine Mitteilung machen, von wem die brisante Information stammt. «Damit ist in der Regel das Arzt-Patienten-Verhältnis beendet», so Sasse. Ein Ausweg: Der Arzt macht Meldung an den Kantonsarzt, und dieser meldet es dem Strassenverkehrsamt. Der «Schwarze Peter» liegt dann beim Kantonsarzt. Ebenso wie Fahruntüchtigkeit dürfen strafbare Handlungen an Minderjährigen und Betäubungsmittelmissbrauch gemeldet werden. Neben solchen Bundesmelderechten gibt es auch kantonale Melderechte, die jedoch alle sehr ähnlich sind. So legt das Gesundheitsgesetz des Kantons Aargau fest, dass die Schweigepflicht nach der Einwilligung der dazu berechtigten Person oder nach einer schriftlichen Ermächtigung durch die zuständigen Behörden aufgehoben werden kann. Sie kann aber auch aufgehoben werden, wenn es um Schutz des Kindeswohls, Erwachsenenschutz, Prüfung einer FU, Anzeigenerstattung für Wahrnehmungen, die auf Vergehen oder Verbrechen schliessen lassen, Inkassoforderungen aus dem Behandlungsverhältnis, Wahrung von Verfahrensrechten oder Leichenidentifikation geht.
Bei schwierigen Entscheidungen Facharzt hinzuziehen
«Die Urteilsfähigkeit des Patienten ist der zentrale Begriff bei Zwangsmassnahmen», sagte Sasse. Urteilsfähig ist jeder, der versteht, was er entscheidet, das heisst, der die Konsequenzen eines medizinischen Eingriffs erfassen kann und der in der Lage ist, seinen Willen frei zu äussern. In der Regel sind Personen nicht vor dem 13. Lebensjahr urteilsfähig, ab dem 16. Lebensjahr kann prinzipiell von einer Urteilsfähigkeit ausgegangen werden. Die Urteilsfähigkeit selbst ist eine ärztliche Diagnose, die jeder Arzt stellen darf. «Wenn es jedoch haarig wird, sollten Sie die Diagnose dem Facharzt überlassen», so Sasse. Wird vom Patienten zum Beispiel eine lebensrettende Behandlung abgelehnt, ist es ratsam, einen Psychiater beizuziehen. «Denn irgendjemand in der Familie wird hinterher kommen und die Urteilsfähigkeit des Verstorbenen anzweifeln und den Arzt dann vor Gericht beschuldigen, der Tod sei unnötig gewesen. Mit einem Facharzt sind Sie dann auf der sicheren Seite», so Sasse zu seinen Erfahrungen. In Notfällen darf (und muss) natürlich gehandelt werden, und das medizinische Fachpersonal darf und muss medizinische Massnahmen nach den mutmasslichen Interessen des Patienten ergreifen.
Freiheitseinschränkung als letztes Mittel
Auch der Umgang mit einschränkenden Massnahmen ist genau geregelt. So kann die Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit mechanischen Methoden, Medikamenten, aber auch mit psychologischen Mitteln erfolgen. Neben der Einschränkung der Bewegungsfreiheit gibt es auch die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Dazu zählen beispielsweise eine ständige elektronische Überwachung oder Einschränkungen von Genussmitteln wie Alkohol, Süssigkeiten oder Zigaret-
ten, aber auch der Kommunikationsfreiheit. Die Freiheits- beziehungsweise Bewegungseinschränkung muss jedoch letztes Mittel sein, das bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, massiver Störung des Betriebsablaufs, massiven psychischen Störungen, aber auch bei schwerer Verwahrlosung eingesetzt werden darf. Ein spezieller Fall ist die Zurückbehaltung von Menschen in psychiatrischen Einrichtungen. Solche Patienten haben sich freiwillig in die Psychiatrie begeben und werden dann gegen ihren Willen nicht mehr herausgelassen, weil beispielsweise eine akute Selbstgefährdung oder eine Gefährdung Dritter besteht. Allerdings dürfen solche «freiwilligen» Patienten von der ärztlichen Einrichtung nur maximal drei Tage zurückbehalten werden. «Diese Zurückbehaltung ist eine sehr drastische Massnahme. Wenn man freiwillig kommt, sind die Hürden deutlich höher, um eine Person dazubehalten, als bei einer Zwangseinweisung», erklärte der Rechtsspezialist. Eine noch höhere Eskalationsstufe als die Bewegungseinschränkung ist die Zwangsbehandlung. Sie ist bei urteilsfähigen Patienten grundsätzlich nicht zulässig. In wenigen Ausnahmesituationen kann jedoch eine für das Gemeinwohl notwendige Therapie erfolgen. Das führt dann zur Wahl zwischen zwei unerwünschten Alternativen, beispielsweise bei einer Tuberkuloseinfektion entweder zu einer Behandlung oder zu einer Isolation. Bei urteilsunfähigen Personen sind unter bestimmten Bedingungen ebenfalls unerwünschte Behandlungen möglich. So seien Chefärzte von psychiatrischen Einrichtungen berechtigt, medikamentöse Zwangsbehandlungen anzuordnen – eine Situation, die «nicht ganz selten» vorkomme, so Sasse. Das kann auch bei schwerer Anorexie oder Substanzabhängigkeit der Fall sein. In der Schweiz wurde im Jahr 2013 schätzungsweise rund 1500-mal zwangsbehandelt.
Immer Verhältnismässigkeit beachten
Prinzipiell sollte jede Zwangsmassnahme verhältnismässig sein sowie stufenweise und individuell angepasst werden. Aber auch ein stufenweises Vorgehen hat seien Tücken: «Wird aus Sicherheitsgründen zuerst nur das Bett an die Wand geschoben, und der Patient fällt trotzdem heraus, wird die Frage gestellt werden, warum man nicht gleich eine Fixierung vorgenommen habe. Jedoch kann man nicht jeden Patienten sofort fünfpunktfixieren, das wäre nicht verhältnismässig», so der Einwand des Spezialisten. Trotzdem seien erfahrungsgemäss die Konsequenzen für Arzt und Patienten geringer, wenn man von vornherein mit einer «höheren Stufe» einsteige.
Kantonale Unterschiede bei der FU
Voraussetzung für die Anordnung einer FU ist das Vorliegen eines Schwächezustandes (psychische Störung, geistige Behinderung oder schwere Verwahrlosung). Eine FU ist zwar eine Zwangsmassnahme, erlaubt aber deshalb noch keine medikamentöse Zwangsbehandlung. Diese darf nur angewendet werden, wenn der Patient urteilsunfähig ist, keine Alternative vorhanden ist und der Chefarzt der psychiatrischen Einrichtung dies angeordnet hat. Die Anordnung einer FU ist kantonal geregelt, wobei hier grosse Unterschiede existieren. So kann die Berechtigung, eine FU auszufüllen (maximal 6 Wochen, Verlängerung nach Prüfung möglich), je nach Kanton nur beim
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Psychiater, beim Arzt mit Zusatzausbildung oder bei jedem Arzt liegen. Für die Überprüfung der Anordnung einer Unterbringung ist die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zuständig. Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan zeigen, dass die FU-Anzahl in der Schweiz in den vergangenen Jahren schwankte. Im Jahr 2015 kam es beispielsweise zu 14 000 Fällen, vor allem Patienten mit Psychosen, affektiven Störungen sowie Suchtproblemen. Die meisten Zwangseinweisungen betreffen übrigens Menschen um das 45. Lebensjahr. Von den Eingewiesenen sind knapp 30 Prozent nur eine Woche in stationärer Behandlung, immerhin 21 Prozent jedoch länger als sieben Wochen. Bedenklich seien die grossen
Unterschiede zwischen den Kantonen in der Schweiz, so Sasse.
So sind kantonale Schwankungen zwischen 0,38 und 3,3 Ein-
weisungen pro 1000 Einwohner zu verzeichnen. «Es ist also
vom Aufenthaltsort abhängig, ob man eingewiesen wird. Man
sollte immer bedenken, dass eine Zwangseinweisung ein sehr
dramatischer Eingriff ist. Meiner Meinung nach besteht hier die
dringende Notwendigkeit einer Harmonisierung.»
s
Klaus Duffner
Quelle: «Zwangsmassnahmen – Zwangseinweisung, ein heisses Eisen», Jahreskongress des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM), 27. bis 28. Juni 2019, in Luzern.
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