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FORTBILDUNG
Kennen Sie die sechs Gebote?
Nachsorge in der Onkologie
Nachsorge muss für jeden Krebskranken immer individuell festgelegt werden. Ein Schema F – gern aus älteren Empfehlungen übernommen – wird der Aufgabe nicht mehr gerecht. Zunächst einmal sollten Art und Stadium der Tumorerkrankung, deren initiale Behandlung, Prognose und Risikofaktoren, mögliche Spätfolgen und schliesslich die physische und psychische Leistungsbreite des Patienten und dessen medizinisches wie psychosoziales Umfeld beurteilt werden.
Ulrich Kleeberg
Die Erwartung, nach erfolgreich abgeschlossener primärer und gegebenenfalls adjuvanter Therapie durch eine engmaschige, mit Höchstaufwand durchgeführte Diagnostik Rückfälle früh zu erkennen und dadurch die Lebenserwartung zu verbessern, hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer weiter von der Realität entfernt. Krebsregister zeigen, dass zwar von Dekade zu Dekade mehr Menschen an Krebs erkranken, sich aber deren Heilungsraten altersbezogen signifikant verbessert haben. Das verdanken wir unter anderem der (neo-)adjuvanten Therapie. Neu ist nun, dass dagegen die Lebenserwartung nach Manifestation einer systemischen Metastasierung abgenommen hat (1, 2). Offensichtlich ist die Tumorstammzellpopulation, die die vorausgegangene Therapie überlebt hat und wieder proliferiert, hochgradig resistent gegenüber jeder palliativen endokrinen und zytostatischen Therapie. Inzwischen lässt sich ein klinisch noch okkulter Progress mithilfe der Tumormarker und des Nachweises zirkulierender Tumorzellen oder Tumor-DNS, der sogenannten «liquid biopsy», vorzeitig erkennen. Vorläufig ist das aber nur für die Eingrenzung der Prognose von Wert. So zeichnet sich onkologische Kompetenz dadurch aus, den Augenblick zu erkennen, an dem auf eine diagnostische Massnahme eine nutzbringende Behandlung folgen kann, die sich günstig auf das Befinden und die verbleibende Lebenszeit auswirkt. Dazu ist es wichtig, das Augenmerk von der auf das kranke Organ fokussierten Medizin auf die individuelle Persönlichkeit, den kranken Menschen und sein soziales Umfeld zu lenken und zu erweitern. Hierbei ist die Lebensführung von kritischer Bedeutung. Da jede Art einer kausalen medikamentösen Therapie über kurz oder lang ihre Wirksamkeit verliert, sich das Tumorleiden dann ab der zweiten oder dritten Linie als unüberwindbar resistent erweist, ist deren Einsatz bei asymptomatisch progredienten Patienten ohne subjektive Erleichterung, wohingegen bei deren späterem Einsatz wenigstens eine Minderung der Symptomlast zur Besserung der Lebensqualität beitragen kann.
MERKSÄTZE
� Wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Nachsorge ist die umfassende Begleitung bei gegebenenfalls zu korrigierender Lebensführung.
� Tägliche Bewegung und kalorienbewusste Ernährung sind entscheidend.
� Es gilt, Geborgenheit zu vermitteln, wo es keine Sicherheit geben kann.
«Die vorzeitige Dokumentation einer systemischen Metastasierung beim beschwerdefreien Patienten verlängert die Leidenszeit, nicht die Lebenszeit!» (3). Dieses resignierende Diktum früherer Jahre hat immer noch seine Gültigkeit, auch wenn das unter anderem von Selbsthilfegruppen anders gewünscht wird und mit Forderungen nach ultramoderner und entsprechend teurer Frühdiagnostik verbunden ist. Ausser Acht gelassen werden dabei auch durch die Routinediagnostik ausgelöste Ängste mit der bangen Erwartung des nächsten Befundes. Hinzu kommt die Problematik der falschpositiven wie falschnegativen Ergebnisse. Hämangiomata, Zysten, fokale Mehr- oder Minderverfettung in der Sonografie oder entzündliche Infiltrate, degenerative Veränderungen im Szintigramm usw. können zu einer erheblichen Verunsicherung und unnötigen zusätzlichen Belastung des Patienten und der die Kosten tragenden Solidargemeinschaft führen. Sicher gibt es wichtige Ausnahmen, etwa die isolierte Lebermetastase beim Kolonkarzinom, das Lokalrezidiv oder der Zweittumor beim brusterhaltend operierten Mammakarzinom oder die isolierte Knochenmetastase. In aller Regel jedoch bedeutet der Nachweis einer Fernmetastase die «Spitze des Eisbergs», die einen sekundär kurativen Einsatz ausschliesst. Aber es gibt darüber hinaus nachhaltige Möglichkeiten, die Prognose in der palliativen Krankheitsphase zu verbessern beziehungsweise das Wiederauftreten des Tumorleidens zu verzögern. Über Jahrtausende überliefertes Wissen um die Bedeutung einer gesunden Lebensführung mit täglicher Bewegung sowie ausgewogener obst- und gemüsereicher Ernährung hat sich jüngst wissenschaftlich im Sinne der evidenzbasierten Medizin eindrucksvoll sichern lassen.
Nachsorge als Vorsorge
Wichtiger Aspekt der Nachsorge ist deren «vorsorglicher» Charakter wie etwa die Frühdiagnostik von Zweitmalignomen, etwa dort, wo eine genetische Verknüpfung bestimmter Karzinomentitäten, wie zum Beispiel Mamma- mit Kolon- oder Ovarial- mit Endometriumkarzinom, bekannt ist oder sich Suchtverhalten nicht ändert (4). Entscheidend wichtig ist jedoch die Beeinflussung der Lebensführung mit Förderung von Bewegung und Sport bei kalorienbewusster, obst- und gemüsereicher Ernährung («Fünf am Tag»). Jüngere Daten zeigen eindrucksvoll, wie durch tägliche, nur einstündige Bewegung die Lebenserwartung Krebskranker in einer Grössenordnung verbessert werden kann, die der einer adjuvanten endokrinen wie zytostatischen Therapie entspricht (5, 6). Gesunde Ernährung allein reicht aber nicht aus (7), es
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Grundpfeiler einer kompetenten Nachsorge
1 Eine individuell gestaltete Prognose und eine Risikofaktoren berücksichtigende Begleitung. Es gilt, Geborgenheit zu vermitteln, wo es keine Sicherheit geben kann.
2 Prophylaxe und Früherkennung von Therapiefolgen, Spättoxizität und ggf. einer isolierten Tumorprogredienz, soweit man zum Nutzen des Patienten intervenieren kann.
3 Anleitung, Förderung und Überwachung von einer gesunden Lebensführung, täglicher Bewegung und kalorienbewusster obst- und gemüsereicher Ernährung.
4 Motivation zur Mitverantwortung des Patienten für seine Gesundheit.
5 Integrative statt Komplementär- und Alternativmedizin, nihil nocere.
6 Sicherung der Prozess- und Ergebnisqualität, Teilnahme an einem klinischen Krebsregister und an Projekten der Versorgungsforschung zum Nachweis des Nutzens unter Alltagsbedingungen.
bedarf eines ausgewogenen Verhältnisses von Kalorienzufuhr und -ausgabe. Hintergrund sind die Erkenntnisse über die Bedeutung des Insulinstoffwechsels als ein wichtiger Promotor malignen Zellwachstums (8, 9). Es gilt, die «Signale» des Körpers an den Tumor umzustimmen, ganz konkret, die endogenen Wachstumsfaktoren weisser Fettzellen (Adipokine) zu hemmen und die der quergestreiften Muskulatur (Myokine) zu fördern. Dass hierdurch auch die Lebensqualität nachhaltig stabilisiert und Depressionen vorgebeugt wird sowie Körperfunktionen verbessert werden (10), ist «nur» ein Nebenaspekt, ebenso wie die Vorbeugung anderer Krebs- und alterstypischer Leiden. Dem nachsorgenden Arzt kommt hier die Aufgabe zu, seine Patienten zu informieren, zu motivieren, in aller Regel ihr Verhalten zu ändern, die Lebensführung nachhaltig zu beeinflussen. Das setzt auf beiden Seiten eine erhebliche Mühe voraus, die sich im wahrsten Sinne des Wortes für den Einzelnen wie für unsere Solidargemeinschaft «lohnt».
Was ist also wichtig?
Die Grundpfeiler einer kompetenten Nachsorge umfassen die folgenden sechs Gebote (Tabelle): � Begleitung: Vordringlich sind eine individuell gestaltete Pro-
gnose und eine Risikofaktoren berücksichtigende und auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmte Bereitschaft zur Begleitung. Das kann ein einzelner Arzt, Haus- oder Facharzt nicht leisten. Hier ist das ganze onkologische Team gefordert: Onkologie, Pflege, Psychologie, Sozialarbeit, Ökotrophologie und Krankengymnastik. Dazu gehört auch der wichtige Kontakt zu Selbsthilfegruppen. � Früherkennung von Lokalrezidiven, Zweitmalignomen und von Therapiefolgestörungen sowie deren effektive Behandlung: Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen adjuvanter zytostatischer und endokriner Therapien mit posttherapeutischen kognitiven Einbussen, Schlafstörungen, depressiver Verstimmung, Fatigue-Syndrom, Polyneuropathien, also der ganze belastende somatische und psychische Inhalt aus Pandoras onkologischer Büchse, lassen sich sehr viel schwerer lindern, und es braucht Zeit und Geduld – aufseiten des Onkologen wie des Patienten. � Gesunde Lebensführung und körperliche Aktivität: Eine lebenslange, somatische Rehabilitation und psychosoziale Begleitung mit Anleitung, Förderung und Überwachung
einer gesunden Lebensführung, vordringlich Sport und Er-
nährung, die den Ehepartner und die ganze Familie mit
einbezieht, ist das Wichtigste. Eine entscheidende Hilfe für
rasche und effektive Besserung des Befindens und Wieder-
gewinnung von Selbstvertrauen bringt körperliche Aktivi-
tät, und das so früh wie möglich. Ein «Ausruhen von den
Strapazen» oder eine «Kur» im alten Sinne ist grundfalsch.
� Motivation zur Mitverantwortung des Patienten für seine eigene Behandlung sowie Therapietreue, zudem Mitarbeit
von Angehörigen und Freunden, was Vorbeugung und Früh-
erkennung angeht: Um Motivation muss man sich aber wie-
der und wieder bei jeder Nachsorgeuntersuchung bemühen,
wobei die Krebsgesellschaften wichtige Partner sind.
� Schutz vor schädlicher Komplementär- und Alternativmedizin, die suggeriert, auf bequeme Weise das Schicksal ver-
bessern zu können: Dagegen sind die ganz persönlichen
Vorstellungen und Wünsche des Patienten mit einzubezie-
hen, wobei auf das «nihil nocere», speziell auf Interaktio-
nen, zu achten ist. Die individuelle Persönlichkeit mit all
ihrer Widersprüchlichkeit ist in die evidenzbasierte Medizin
zu integrieren.
� Sicherung der Prozess- und Ergebnisqualität sowie des therapeutischen Gesamtnutzens und Teilnahme an einem kli-
nischen Krebsregister: Die Dokumentation der Krankheits-
verläufe im Rahmen der Versorgungsforschung ist nicht nur
entscheidend für den Beleg onkologischer Kompetenz, sie
ist auch nötig als Grundlage für gesundheitspolitische Ent-
scheidungen. Nur auf einer solchen Grundlage kann aus
Fehlentwicklungen gelernt und der Nutzen unserer Bemü-
hungen umfassend belegt werden.
s
Prof. Dr. med. Ulrich R. Kleeberg Facharzt für Innere und Palliativmedizin, Hämatologie und Onkologie MVZ Struenseehaus D-22767 Hamburg
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2019. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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Literatur: 1. Schlesinger – Raab A., Eckel R, Engel J., Hölzel D. (2005): Metastasiertes
Mammakarzinom: Keine Lebensverlängerung seit 20 Jahren. Dtsch. Ärztebl.; 102: A 2706–14 2. Kleeberg U.R., Fink M., Tessen H-W., Nennecke A., Hentschel S., Bartels S. (2013): Adjuvant therapy reduces the benefit of palliative treatment in disseminated breast cancer – own findings and review of the literature. Onkologie 36; 348 - 356 3. Kleeberg U.R. (1999): Nachsorge Krebskranker: Individuelle prognosebezogene Begleitung, somatische und psychosoziale Rehabilitation und Qualitätssicherung als zentrale Aufgabe der Nachsorge. InFoOnkologie 2:81-82 4. Kaufman E.L., Jacobson J.S., Hershman D.L. et al. (2008): Effect of breast cancer radiotherapy and cigarette smoking on risk of second primary lung cancer. J.Clin. Oncol. 26: 392-98 5. Kleeberg U.R. (2009): Prävention und Nachsorge: Körperliche Aktivität und Brustkrebs. Senologie 6: 80–82
6. Goodwin P.J. (2008): Insulin in the adjuvant breast cancer setting. A novel therapeutic target for lifestyle and pharmacologic interventions? J. Clin. Oncol. 26: 833–34
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8. Goodwin P.J., Ennis M., Pritchard K.K. et al. (2002): Fasting insulin and outcome in early-stage breast cancer: Results of a prospective cohort study. J. Clin. Oncol. 20: 42–51
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