Transkript
EDITORIAL
(Un)vermeidbares Leid
Vor 20 Jahren erschien ein aufsehenerregender Report zur Patientensicherheit im US-amerikanischen Gesundheitswesen (1). Gleich auf Seite 1 war dort zu lesen, dass Behandlungsfehler in US-Spitälern Jahr für Jahr mehr Todesopfer forderten als Autounfälle, Brustkrebs und Aids zusammen. Seitdem gab es weltweit unzählige Studien zur Patientensicherheit, in denen man das Ausmass von therapiebedingten Schäden und Behandlungsfehlern zu erfassen suchte. Diverse mehr oder minder brauchbare Sicherheits- und Qualitätskonzepte wurden für Spitäler, Pflegeheime oder auch Arztpraxen entwickelt – nicht selten verbunden mit der Hoffnung, letztlich so gut wie jedes therapiebedingte Patientenleid verhindern zu können. Mit der Zeit wurde klar, dass man bei der Erfassung therapiebedingter Schäden genauer hinschauen muss (2). Mittlerweile wird zwischen «unvermeidbaren» Schäden, zum Beispiel durch Nebenwirkungen einer lege artis durchgeführten Therapie, und «vermeidbarem» Leiden, etwa durch Behandlungsfehler, unterschieden. In einer kürzlich publizierten Metaanalyse (3) einschlägiger Studien kommt man nun zu dem Schluss, dass therapiebedingte Schäden bei etwa der Hälfte
der Patienten vermeidbar gewesen wären. Insgesamt waren demnach 12 Prozent der Patienten von therapiebedingten Schäden betroffen, als vermeidbar wurden diese bei 6 Prozent der Patienten eingestuft. Die häufigste Ursache der vermeidbaren Schäden waren Medikationsfehler, die für ein Viertel der Fälle verantwortlich waren. Ein weiteres Viertel ging auf das Konto verschiedener anderer Massnahmen, danach folgen chirurgische Fehler, nosokomiale Infektionen und fehlerhafte Diagnosen. Die der Metaanalyse zugrunde liegenden Daten stammen grösstenteils aus Spitälern. Zur Situation in der Arztpraxis fanden die Autoren nur drei Studien, bei denen zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Schädigungen unterschieden wurde. Die spärlichen Daten erlauben keine allgemein gültigen Rückschlüsse für die Hausarztpraxis, und sie sind, je nach Studie, sehr unterschiedlich. Vermutlich dürften aber auch in der Hausarztpraxis die Medikationsfehler die häufigste Ursache für vermeidbares Patientenleid sein. Sehr lehrreich ist in diesem Sinne die CIRS-Datenbank der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (4). Nach der Registrierung (www.forum-hausarztmedizin.ch) können Sie dort alle erfassten Fälle nachlesen und anonymisiert eigene Fallberichte eintragen. Dabei geht es nicht nur um Medikationsfehler, sondern um alle möglichen kritischen Ereignisse, die im Praxisalltag vorkommen.
Renate Bonifer
Literatur: 1. Kohn L, Corrigan J, Donaldson M (eds.): To err is human: building a safer
health system. Report from the Committee on Quality of Health Care in America. Washington, DC: National Academies Press; 1999. 2. Pronovost PJ, Colantuoni E: Measuring preventable harm: helping science keep pace with policy. JAMA 2009; 301(12): 1273–1275. 3. Panagioti M et al.: Prevalence, severity, and nature of preventable patient harm across medical care settings: systematic review and meta-analysis. BMJ 2019; 366: l4185 4. Mengel V: Medikation, ein gefährliches «Handwerk»? Mit CIRS Fehlmedikationen vorbeugen. ARS MEDICI 2019; 17: 548–549.
ARS MEDICI 19 | 2019
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