Transkript
INTERVIEW
«Bei richtiger Diagnose und Therapie ist die Prognose sehr gut»
Was Hausärzte über Polymyalgia rheumatica wissen sollten
Vor Kurzem sind neue S3-Leitlinien zur Behandlung der Polymyalgia rheumatica (PMR) erschienen, mit klaren Empfehlungen zu Diagnostik und Therapie (1). Über die verschiedenen Fallstricke im Umgang mit der relativ häufigen Erkrankung sprachen wir mit PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth, Leitender Arzt Reha Rheinfelden. Zunächst einmal gilt es, die Erkrankung auch im hausärztlichen Alltag beizeiten in Betracht zu ziehen.
Lassen Sie uns die Polymyalgia rheumatica zunächst einmal definieren, was versteht man darunter und wie häufig ist die Erkrankung? PD Dr. Dr. Ulrich Gerth: Die Polymyalgia rheumatica, oder auch kurz PMR, ist neben der rheumatoiden Arthritis, kurz RA, und der ankylosierenden Spondylitis, kurz AS, eine der häufigsten entzündlich rheumatischen Systemerkrankungen. Betroffen sind vor allem ältere Patienten. Bei Personen, die älter als 50 Jahre sind, beträgt die Inzidenz je nach Studie 1 bis 2 Prozent. Interessant ist, dass es trotz der hohen Zahl an Patienten recht wenige Studien zu dieser Erkrankung gibt und bei vielen Kollegen eine grosse Unsicherheit in Bezug auf Diagnostik und Therapie vorhanden ist. Dies liegt zum Teil daran, dass es keine spezifische Nachweismöglichkeit in Form von Biomarkern oder Ähnlichem gibt und die Diagnose nach Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen oft eine Ausschlussdiagnose ist.
Warum sollten Hausärzte über das Krankheitsbild der PMR gut orientiert sein? Gerth: Wichtig zu wissen ist, dass die PMR in eine Riesenzellarteriitis, kurz RZA, übergehen kann. Neuere Studien gehen auch von einem Kontinuum aus PMR und RZA aus. Je länger es dauert, bis die PMR erkannt und behandelt wird, desto höher ist die Gefahr, dass sich daraus eine RZA entwickeln kann. Und wird eine solche nicht oder verzögert diagnostiziert, ist Gefahr im Verzug: Es drohen durch die Gefässentzündung Ischämien, die unter anderem zu einer irreversiblen Erblindung führen können, sofern die Arteria temporalis betroffen ist.
Unter diesem Link oder direkt via QR-Code ist die S3-Leitlinie zur PMR online frei zugänglich. www.rosenfluh.ch/qr/s3_leitlinie_pmr
Wann kann man die Diagnose PMR stellen? Gerth: Es gibt typische Symptome, die an eine PMR denken lassen sollten. Im Anfangsstadium sind es oft unspezifische Symptome, wie Fieber, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, Nachtschweiss und allgemeines Unwohlsein beziehungsweise eine depressive Verstimmung. Geht es dabei um einen älteren Patienten, in diesem Zusammenhang heisst das älter als 50 Jahre, und vielleicht noch um eine Frau, sollte unbedingt nach den sogenannten Red flags gefragt werden. Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Als Red flags gelten bei der PMR Morgensteifigkeit, typischerweise nachts und früh morgens, in Kombination mit Myalgien des Schultergürtels, der proximalen Nacken- und Beckengürtelmuskulatur sowie einer Muskelschwäche. Betroffene Patienten haben häufig Schwierigkeiten, die Arme über die Horizontale zu heben oder Treppen zu steigen. Im Tagesverlauf bessert sich diese Symptomatik dann oftmals.
Fehlt das rasche Therapieansprechen auf Glukokortikoide, ist die Diagnose PMR infrage zu stellen!
Wie geht man dann weiter vor? Gerth: Bei solch einer Symptomkonstellation sollte zwingend eine Labordiagnostik erfolgen. Dabei sollten als Entzündungswerte das C-reaktive Protein und die Blutsenkungsgeschwindigkeit sowie die Rheumafaktoren und CCP-Antikörper bestimmt werden. Bei typischer Symptomatik und systemischer humoraler entzündlicher Reaktion, ohne dass Rheumafaktoren beziehungsweise CCP-Antikörper vorliegen, beträgt die Sensitivität für das Vorliegen einer PMR zirka 70 Prozent und die Spezifität zirka 80 Prozent. Das morphologische Korrelat für die Beschwerden ist oft eine Bursitis subdeltoidea beziehungsweise subacromialis. Eine sonografische Untersuchung kann helfen, die Diagnose zu bestätigen, ist aber nicht zwingend erforderlich.
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Zur Person
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Gerth hat an der Universität Münster in Deutschland Chemie und Medizin studiert und in beiden Fachgebieten doktoriert. Nach der Erlangung seiner Facharzttitel für Innere Medizin, Nephrologie und Rheumatologie hat er an der Medizinischen Fakultät der Universität Münster habilitiert. Zu seinem klinischen Schwerpunkt gehören die entzündlich-rheumatologischen Erkrankungen. Seit April 2019 ist er als Leitender Arzt an der Reha Rheinfelden tätig.
Welche Differenzialdiagnosen muss der Hausarzt vor Augen haben? Gerth: Erhöhte Entzündungswerte sind neben einer typischen Klinik quasi obligat für das Stellen der Diagnose PMR, das gilt im Übrigen auch für ein Rezidiv. In der aktuellen S3-Leitlinie zur Behandlung der PMR ist vermerkt, dass «selbst bei klinisch hinreichender Befundkonstellation Erkrankungen mit PMR ähnlichen Symptomen – zum Beispiel nicht entzündliche, entzündliche, medikamenteninduzierte, endokrine, infektiöse oder neoplastische Erkrankungen – ausgeschlossen werden sollten». Hierzu gehören insbesondere die Rheumatoide Arthritis, eine Riesenzellarteriitis, das Fibromyalgie-Syndrom, Infektionen, Malignome sowie degenerative Veränderungen. Neben einer gründlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung wird in Abhängigkeit von der Symptomatik eine weiterführende Diagnostik empfohlen, wie beispielsweise ergänzende Laborwerte oder apparative Untersuchungen. Typisch für eine RZA ist eine kraniale Symptomatik mit temporalen Cephalgien, Berührungsempfindlichkeit der Kopfhaut und einer Claudicatio der Kaumuskulatur.
Auch Patienten mit Rheuma können simple Rückenschmerzen haben, die Wahrscheinlichkeit dafür ist im Übrigen um ein Vielfaches höher.
Einmal diagnostiziert, wie geht man weiter vor? Gerth: Unmittelbar nach Diagnosestellung sollte eine Therapie mit Glukokortikoiden begonnen werden. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass initial eine mittlere Dosis optimal ist. Eine zu hohe Dosierung geht mit entsprechenden Nebenwirkungen einher, bei zu geringer Dosierung steigt die Gefahr von Rezidiven. In der aktuellen Leitlinie wird eine Initialdosis zwischen 15 und 25 mg Prednisolonäquivalent pro Tag als morgendliche Einzeldosis angeraten. Bei der Festlegung der Anfangsdosis sollten Komorbiditäten und Komedikationen Berücksichtigung finden wie beispielsweise arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose oder Infekte. Typisch für eine PMR ist eine rasche Besserung nach Therapiebeginn, der Patient fühlt sich «wie neu geboren». Ebenfalls normalisieren sich die Entzündungswerte rasch wieder. Beides ist charakteristisch und gilt auch als diagnostisches Element. Fehlt das rasche Therapieansprechen auf Glukokortikoide, ist die Diagnose PMR infrage zu stellen!
Welche therapeutischen Optionen gibt es sonst noch? Gerth: Bei Nebenwirkungen der Steroide, Rezidiven unter Therapie oder fehlendem Ansprechen beziehungsweise langer Therapiedauer kann überlegt werden, eine steroidsparende Therapie zu ergänzen. Hierbei ist Methotrexat das Mittel der Wahl. Die additive Gabe von Methotrexat reduziert die kumulative Glukokortikoid-Dosis um circa 30 und die Rezidivhäufigkeit um circa 50 Prozent. Andere Medikamente, wie beispielsweise TNF-alpha-Hemmer als Biologika oder NSAR, haben in der Therapie der PMR keinen Stellenwert. Kommt eine RZA hinzu, werden deutlich höhere Glukokortikoidmengen erforderlich. Bei dauerhaftem Steroidgebrauch oder entsprechenden Nebenwirkungen kann eine Therapie mit Tocilizumab erwogen werden.
Wie lange muss therapiert werden? Wie lange braucht es Steroide? Gerth: Nach Einleitung der Therapie sollten die Steroide im Verlauf langsam und kontinuierlich reduziert werden; angestrebt wird eine Reduktion auf 10 mg/Tag nach 4 bis 8 Wochen, danach eine Reduktion um 1 mg monatlich bis zum Beenden. Mit anderen Worten: Eine Therapie mit Glukokortikoiden sollte nicht probatorisch erfolgen, sondern nur bei dann, wenn die diagnostischen Kriterien für eine PMR erfüllt sind. Denn einmal begonnen, sollte die Therapie entsprechend den Leitlinien für zirka ein Jahr fortgeführt werden. Sowohl ein zu schnelles als auch ein zu langsames Reduzieren der Dosis wird nicht empfohlen.
Die PMR ist oftmals eine Ausschlussdiagnose, wie lange dauert es in der Regel, bis die Diagnose gestellt wird? Gerth: In der Regel dauert es ein paar Wochen, bis die exakte Diagnose gestellt wird. Manchmal gibt es zuvor erfolglose Therapieversuche, beispielsweise mit Antibiotika, da initial von einer Infektion ausgegangen wird. Das liegt vor allem an den unspezifischen Anfangssymptomen und dem fehlenden Biomarker für diese Erkrankung, deren Diagnose immer auf einer Kombination aus manchmal unspezifischen klinischen Symptomen und Veränderungen im Labor basiert. Dabei ist bei richtiger Diagnose und Therapie die Prognose sehr gut.
Welche Veränderungen hat die neue S3-Leitlinie zur Behandlung der Polymyalgia rheumatica mit sich gebracht? Welche Veränderungen gibt es allenfalls auch für den Hausarzt? Gerth: Neu ist die Betonung der Komplexität der Erkrankung mit den doch recht vielen Differenzialdiagnosen. Am Ende basiert die Diagnosestellung auf einer Kombination aus typischer Klinik und Laborwertveränderungen. Neu ist ebenfalls eine präzise Therapieempfehlung bezüglich der initialen Steroiddosis – empfohlen werden initial 15–25 mg Prednisolonäquivalent – und der mit etwa einem Jahr insgesamt doch recht langen Therapiedauer mit langsamer Dosisreduktion.
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Wann sollte der Rheumatologe zugezogen werden? Gerth: Es spricht nichts dagegen, dass erfahrene Hausärzte eine typische und unkomplizierte PMR behandeln. Wenn der Hausarzt jedoch wenig Erfahrung hat oder sich unsicher fühlt, sollte schon bei der Diagnosestellung ein Rheumatologe konsultiert werden. Spätestens bei unklarer Diagnose, unzureichendem initialem Therapieansprechen, häufigen Rezidiven und fehlender Möglichkeit, die Steroidmedikation auszuschleichen, sollte im Verlauf auf jeden Fall der Rheumatologe mit ins Boot genommen werden.
Woran muss der Hausarzt bei der Betreuung der PMR-Patienten denken? Gerth: Zunächst einmal sollte das Labor zur Überprüfung der Krankheitsaktivität regelmässig überprüft werden. Anfänglich sicher häufiger, abhängig vom Befinden respektive akuter Symptomatik; bei stabiler, asymptomatischer Erkrankung ist später eine monatliche Kontrolle ausreichend. Daneben gibt es ein paar weitere Aspekte zu beachten. Bei Patienten mit
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• älterer Patient > 50 Jahre • klinisch Verdacht auf PMR bzw. RZA • ggf. unspezifische Symptome:
Fieber, Nachtschweiss, Gewichtsverlust, AZ-Reduktion…
Red flags PMR proximale Symptomatik (Schulter-/Beckengürtel):
• neue bilaterale Muskelschmerzen
• Muskelschwäche • Morgensteifigkeit
(typisch nachts und
frühmorgens)
Red flags RZA kraniale Symptomatik: • Kopfschmerzen
• schmerzhafte / verdickte A. temporalis
• Claudicatio masticatoria
• Berührungs-
empfindlichkeit der Kopfhaut
BSG/CRP erhöht?
ja nein
PMR bzw. RZA wahrscheinlich*
PMR bzw. RZA unwahrscheinlich*
*in Abhängigkeit von der klinischen Wahrscheinlichkeit ggf. fachärztliche rheumatologische Vorstellung und weitere Diagnostik (u.a. Differenzialblutbild, Elektrolyte, Kreatininkinase, Urinstatus, Serum-Eiweisselektrophorese, Rheumafaktor, ANA, CCP-Antikörper, TSH, RöntgenThorax, MRI, Echokardiografie, Quantiferontest)
Quelle: adaptiert nach Buttgereit et al., JAMA 2016; 315(22): 2442–2458
Abkürzungen im Überblick: AS: ankylosierende Spondylitis; CCP-Antikörper: Antikörper gegen das zyklische citrullinierte Peptid; DEXA: Dual Energy X-ray Absorptiometry; PMR: Polymyalgia rheumatica; RA: rheumatoide Arthritis; RZA: Riesenzellarteriitis
einem Risikoprofil für eine Osteoporose, und dazu zählen die Patienten mit Steroidmedikation, ist die Messung der Knochendichte mittels DEXA angeraten und gegebenenfalls eine spezifische Therapie mit Bisphosphonaten. Jeder Patient sollte auf eine ausreichende alimentäre Gesamtzufuhr von täglich mindestens 1000 mg Kalzium und 800 bis 1000 IE Vitamin D3 achten oder gegebenenfalls supplementiert werden. Der Vitamin-D-Serumspiegel sollte im Normbereich liegen. Gegebenenfalls sind bei hohem Steroidgebrauch, das heisst mehr als 10 mg Prednisolonäquivalent täglich, Protonenpumpenhemmer ratsam. Unter Steroidmedikation – insbesondere bei hohen Dosen – werden regelmässige Blutzuckerkontrollen sowie Blutdruckmessungen angeraten, um einen steroidinduzierten Diabetes mellitus beziehungsweise einen Hypertonus zeitnah diagnostizieren und therapieren zu können.
Was gehört alles zur Aufklärung der Patienten dazu? Welchen Stellenwert haben Physiotherapie beziehungsweise ein individualisiertes Übungsprogramm? Gerth: Die Patienten müssen wissen, dass sie keine Schuld an der Entwicklung der Erkrankung haben. Sie sollten darüber informiert werden, dass es neben einer je nach Möglichkeit gesunden Lebensweise hinsichtlich Ernährung und Sport am wichtigsten ist, die einmal begonnene Steroidtherapie über das Abklingen der Symptome hinaus fortzuführen. Die Dosis sollte zusammen mit dem Hausarzt schrittweise unter regelmässiger Kontrolle der Entzündungswerte reduziert werden. Denn damit lässt sich die Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv senken. Derzeit gibt es keine Studien, die den Effekt der Physiotherapie untersucht haben, diese wird daher bei der PMR auch nicht als primäre Therapie empfohlen.
Haben Sie noch eine Botschaft für Hausärzte?
Gerth: Da fallen mir zwei wichtige Aspekte ein, die wir noch
nicht erwähnt haben. Zum einen sehe ich unter den stationä-
ren Patienten häufiger solche, die seit Jahren Steroide ein-
nehmen, ohne dass ich mir das aufgrund der aktuellen Situa-
tion erklären kann. Manchmal stellt sich dann heraus, «da sei
mal etwas mit Rheuma» gewesen, und dann habe man die
Medikamente halt immer weiter genommen. Genauso wich-
tig wie das Einleiten der Steroidmedikation bei entsprechen-
der Indikation ist auch das leitlinienentsprechende Ausschlei-
chen, wenn die Erkrankung das zulässt. Das Neben-
wirkungspotenzial der Steroide ist zu hoch für eine unreflek-
tierte Dauereinnahme.
Ausserdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass nicht
jeder neu auftretende Schmerz zwingend eine weitere Mani-
festation der rheumatischen Erkrankung beziehungsweise in
diesem Fall der PMR darstellt. Auch Patienten mit Rheuma
können simple Rückenschmerzen haben, die Wahrscheinlich-
keit dafür ist im Übrigen um ein Vielfaches höher.
s
Das Interview führte Christine Mücke.
Referenzen: 1. Buttgereit F et al.: S3-Leitlinie zur Behandlung der Polymyalgia rheuma-
tica. Evidenzbasierte Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh), der Österreichischen Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation (ÖGR) und der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie (SGR) und der beteiligten medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften und weiterer Organisationen. Z Rheumatol 2018; 77: 429–441.
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