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FORUM
Nötige und unnötige Operationen in der Orthopädie und Traumatologie
Impressionen vom Swiss-Orthopaedics-Jahreskongress
Die Mitglieder von Swiss Orthopaedics haben am diesjährigen Kongress in Baden die Frage nach nötigen und unnötigen Operationen in der Orthopädie und Traumatologie zum Hauptthema erkoren und an zwei Halbtagen intensiv diskutiert. Sie haben sich offen dieser Herausforderung gestellt, um zu dokumentieren, dass sich die Fachgesellschaft um ihre Indikationen auch selbstkritisch kümmert.
Luzi Dubs
Die Frage von Überdiagnostik und Überthera-
pie betrifft grundsätzlich alle medizinischen
Fachgebiete, jedoch die Orthopädie wegen
ihrer hohen Fallzahlen und der volkswirt-
schaftlichen Bedeutung im Besonderen. Neben
zwei Grundsatzreferaten wurde der Fokus auf
die Subspezialitäten der oberen und unteren
Extremitäten sowie der Wirbelsäule gelegt,
wobei jeweils Fallvorstellungen angefügt
waren, bei denen das teilnehmende Publikum,
Dr. med. Luzi Dubs
mit einem Abstimmungsgerät armiert, die ei-
gene Meinung zu spezifischen Fragestellungen
kundtun konnte. Von speziellem Interesse waren natürlich
jeweils die Fragen, ob in einem bestimmten Fall konservativ
oder operativ vorgegangen werden soll.
Vorgehen mithilfe des neu entwickelten Ampelkonzepts
Der Autor dieser Zeilen hat Gelegenheit bekommen, das neu entwickelte Ampelkonzept vorzustellen. Dabei geht es um eine Entscheidungsfindung, welche die kritische Beurteilung der entsprechenden Literatur miteinbezieht. s Grünes Licht betrifft die Eingriffe, ohne dass man Ver-
gleichsstudien beizieht, durchgeführt werden dürfen und bezahlt werden müssen. Beispiele dafür sind die Osteosynthese oder das Kunstgelenk bei dislozierten Schenkelhalsfrakturen, die Naht einer Quadrizeps- oder Patellarsehnenruptur oder die Rekonstruktion einer akut abgerutschten grossen Rotatorenmanschettenruptur. s Die Ampel steht auf Rot, wenn wegen klar fehlender Evidenz kein gesicherter Nutzen vorliegt. Beispiele dafür sind operative Behandlungen von Rupturen des oberen Sprunggelenks oder Knieinnenbandrupturen, begleitende Synovektomien anlässlich einer arthroskopischen Teilmeniskusentfernung oder die Refixation einer proximalen Bizepssehnenruptur. s Die Ampel muss auf Orange gestellt werden, wenn ein Eingriff in der Literatur, speziell in randomisierten Studien, kontrovers beurteilt wird und die Indikation diskutabel ist.
Diese Kategorie betrifft die meisten Wahleingriffe, aber auch Traumasituationen. Vor allem der UVG-Versicherer kann die Übernahme begründet ablehnen, ohne dafür verurteilt zu werden, da er gemäss dem Naturalleistungsprinzip die Verantwortung für die Behandlung und deren Folgen trägt. Eine Operationsindikation kann bei Wahleingriffen durchaus reifen. Der Leistungserbringer muss die Indikation zur Operation in der orangen Kategorie plausibel begründen. Es können Situationen vorliegen, deren Handlungsempfehlung vom Nutzen der «vorgeschalteten», weniger invasiven und weniger teuren Therapiealternative (z.B. Physiotherapie versus Operation) abhängig ist. Die Nutzenschwelle (ausgedrückt in der absoluten Risikoreduktion bzw. «number needed to treat») wird dabei sehr stark durch die Kostendifferenz der verglichenen Therapie bestimmt. Ist eine weniger invasive Massnahme, wie beispielsweise eine Physiotherapie, viermal günstiger als die invasivere Arthroskopie, muss ihr Nutzen einer absoluten Risikoreduktion von mehr als 25 Prozent entsprechen. Die «number needed to treat» beträgt 4, das heisst, es muss viermal die Physiotherapie eingesetzt werden, um einen unnötigen Eingriff zu verhindern, immer unter der Voraussetzung, dass die Zeitverzögerung eines allenfalls notwendigen operativen Eingriffs einerseits dem Patienten keinen Nachteil bringt und dass andererseits die Folgen des Arbeitsausfalls nicht negativ ins Gewicht fallen.
Orange-Kategorie scheint nützlich
Dass es sinnvoll sein dürfte, das Ampelkonzept mit der orangen Kategorie umzusetzen, haben dann die jeweiligen Abstimmungen am Kongress deutlich vor Augen geführt. Nicht ein einziges Mal waren sich die anonym entscheidenden Teilnehmer einig, ob konservativ oder operativ vorgegangen werden soll. Oft hat ein erstaunlich hoher Anteil ein konservatives Vorgehen unterstützt, was vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Selbst die chirurgisch tätigen Referenten räumten wiederholt ein, dass sie hinsichtlich gewisser Situationen einen Sinneswandel vollzogen hätten und entsprechend nicht mehr operieren würden.
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ARS MEDICI 17 | 2019
FORUM
Beispiele für Eingriffe verschiedener Kategorien
Rotes Licht für Eingriffe, für die wegen klar fehlender Evidenz kein gesicherter Nutzen vorliegt. Zum Beispiel: operative Behandlungen von Rupturen des oberen Sprunggelenks, Knieinnenbandrupturen, begleitende Synovektomien anlässlich einer arthroskopischen Teilmeniskusentfernung, Refixation einer proximalen Bizepssehnenruptur Oranges Licht für Eingriffe mit diskutabler Indikation, die in der Literatur, speziell in randomisierten Studien, kontrovers beurteilt werden. Diese Kategorie betrifft die meisten Wahleingriffe, aber auch Traumasituationen Grünes Licht für Eingriffe, die ohne Vergleichsstudien beizuziehen durchgeführt werden dürfen und bezahlt werden müssen. Zum Beispiel: Osteosynthesen, Kunstgelenk bei dislozierten Schenkelhalsfrakturen, Naht einer Quadriceps- oder Patellarsehnenruptur oder Rekonstruktion einer akut abgerutschten grossen Rotatorenmanschettenruptur.
Bedeutung der richtigen Indikationsstellung
Es herrscht also weiterhin ein relevanter Meinungspluralismus, der Auswirkungen auf die Szene der Zweitmeinungen und Gutachten hat und mit dem man sich im Moment noch abfinden muss. Die Gründe liegen weitgehend in einer unterschiedlichen Expertise bei der Interpretation der Literatur. Die einen verlassen sich vornehmlich auf Surrogatendpunkte, derweil andere, die vorsichtiger werten, die patientenrelevanten, klinimetrischen Endpunkte als prioritär betrachten. Diese grundsätzliche Einstellung mag auch bestimmen, bei wem eine Zweitmeinung oder eine Begutachtung eingeholt werden soll. Wenn nun unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, wird es für den Juristen im Streitfall (z.B. bei Haftpflichtfällen) schwierig, eine gerechte Entschei-
dung zu treffen. Unterlassene Operationen kommen dabei kaum zur Diskussion. In der Regel handelt es sich um Operationsfolgen, bei denen die Frage eines Indikationsfehlers zu beantworten wäre. Bis heute wird die Indikation aber immer noch ausgeblendet, und die Hauptfragen werden auf die Gründe fehlerhafter Eingriffstechnik fokussiert, die zum ungünstigen Resultat geführt haben sollen.
Wann liegt ein Indikationsfehler vor?
Was braucht es denn, um einen Indikationsfehler plausibel zu
machen? Prospektiv eine anonyme Abstimmung bei einer
Fallvorstellung mit einer mehr als 50-Prozent-Entscheidung
zum konservativen Vorgehen? Retrospektiv den gegenüber
der Nutzenschwelle nachgewiesenen höheren Nutzen der
«vorgeschalteten» konservativen Behandlung? Oder bei
Haftpflichtfällen den Nachweis, dass der Operateur in der
präoperativen Aufklärung die Therapiealternativen unter
obgenannten Prinzipien nicht korrekt kommuniziert und do-
kumentiert hat?
Die Ampelkategorie Orange wird uns Orthopäden in hof-
fentlich weiterhin sachlicher Diskussionskultur zunehmend
beschäftigen. Die Erfahrungen am Kongress stimmen zuver-
sichtlich auch im Wissen, dass das Unterlassen einer bisher
beliebten Operation für den Leistungserbringer weitaus
schwerer zu ertragen ist als die Einführung einer neuen Ope-
rationsmethode. Die Bewältigung dieses anspruchsvollen
Hauptthemas am diesjährigen Orthopädenkongress könnte
als Meilenstein in die Geschichte der Fachgesellschaft einge-
hen und dazu beitragen, dem in den Medien geäusserten
Misstrauen gegenüber unnötigen Operationen am Bewe-
gungsapparat zu begegnen.
s
Dr. med. Luzi Dubs Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, Winterthur
Quelle: Jahreskongress Swiss Orthopaedics, 26.–28. Juni 2019 in Baden