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STUDIE REFERIERT
Antihypertensive Therapie
Vorsicht bei Betagten!
In einer deutschen Kohortenstudie erfasste man die Gesamtmortalität von Personen ab 70 Jahren, die mit Antihypertonika behandelt wurden, über einen Zeitraum von drei bis sechs Jahren. Dabei zeigte sich, dass die Absenkung des Blutdrucks unter 140/90 mmHg bei den 70- bis 79-Jährigen praktisch keinen Einfluss auf die Gesamtmortalität hatte. Hingegen schadete sie den über 80-Jährigen sowie Patienten, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten hatten.
European Heart Journal
In diese Hypertoniestudie (1) wurde ein Teil der Patienten der «Berlin Initiative Study (BIS)» aufgenommen. Die BIS ist eine deutsche Kohortenstudie, die 2009 zur Erforschung der Nierenfunktion im Alter begonnen wurde; aufgenommen werden Personen ab 70 Jahren, und das Kollektiv ist repräsentativ für die ältere Bevölkerung in Deutschland. Aus diesem Kollektiv wurden diejenigen für die Hypertoniestudie ausgewählt, die bei Aufnahme in die Kohorte antihypertensiv behandelt wurden. Insgesamt wurden 1628 Personen in die Hypertoniestudie aufgenommen. Davon wiesen 636 (39%) normalisierte Blutdruckdruckwerte (<140/90 mmHg) auf, die anderen 992 (61%) hatten höhere Werte. Mehr Todesfälle bei normalisierten Werten Im Studienzeitraum von 2009 bis 2016 zählte man 469 Todesfälle. Beim Vergleich der Todesfallraten nach Blutdruckniveau zeigte sich, dass in der Gruppe mit dem normalisierten Blutdruck (<140/90 mmHg) anteilig mehr Personen verstorben waren, nämlich rund 60 gegenüber 48 pro 1000 Personenjahren. Die vergleichsweise höhere Mortalität war vor allem mit einem systolischen Wert <130 mmHg assoziiert. Nur ≥ 80-Jährige und vorbelastete Patienten betroffen Die statistische Stratifizierung der Patienten nach Alter und Vorerkrankungen ergab, dass von dem potenziellen Nachteil einer Blutdrucksenkung unter 140/90 mmHg nur Personen ab 80 Jahren betroffen waren sowie Personen, die bereits einen Schlaganfall und/oder Herzinfarkt erlitten hatten. Personen ab 80 Jahren mit einem Blutdruck unter 140/90 mmHg hatten ein erhöhtes Mortalitätsrisiko gegenüber ihren Altersgenossen mit Werten über 140/90 mmHg (HR: 1,4; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,12–1,74). Bei den Personen, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten hatten, war das Risiko ebenfalls erhöht (HR: 1,61; 95%-KI: 1,14–2,27). Die Autoren errechneten folgende NNH-Werte (number needed to harm): s ≥ 80 Jahre, unter Antihypertonika und < 140/90 mmHg: – nach 3 Jahren: 1 zusätzlicher Todes- fall unter 29 Patienten – nach 6 Jahren: 1 zusätzlicher Todes- fall unter 17 Patienten s Kardiovaskuläres Ereignis in der Vorgeschichte, unter Antihypertonika und < 140/90 mmHg: – nach 3 Jahren: 1 zusätzlicher Todesfall unter 24 Patienten – nach 6 Jahren: 1 zusätzlicher Todesfall unter 16 Patienten. Bei den 70- bis 79-Jährigen zeigte sich bei Erreichen von Blutdruckzielwerten < 140/90 mmHg unter Antihypertensivatherapie hingegen eher ein Trend zu einer verminderten Mortalität, der statistisch nicht signifikant war (HR 0,83; 95%-KI: 0,54–1,27). Widersprüchliche Studienresultate Die Resultate der neuen Kohortenstudie widersprechen den Ergebnissen der randomisierten Studien HYVET und SPRINT. In HYVET hatte sich bei Patienten im Alter von ≥ 80 Jahren und einem systolischen Blutdruck von ≥ 160 mmHg gezeigt, dass ein Zielwert von 150/80 mmHg zu einer verminder- ten Gesamtmortalität im Follow-upZeitraum führte. Auch in einer Untergruppe der SPRINT-Studie (≥ 75 Jahre, systolisch ≥ 130 mmHg, Zielwert systolisch < 120 mmHg) zeigte sich eine Verminderung des Mortalitätsrisikos im Follow-up-Zeitraum. Die Autoren der Berliner Kohortenstudie geben jedoch zu bedenken, dass sowohl in HYVET als auch in SPRINT nur sehr spezielle, nicht repräsentative Patientenkollektive einbezogen wurden, was keine Verallgemeinerung auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Praxis erlaube. So wurden beispielsweise in HYVET und SPRINT Patienten mit Herzinsuffizienz oder Demenz ausgeschlossen, und in SPRINT waren überdies alle Diabetiker und Stroke-Patienten aussen vor. Die Autoren eines begleitenden Editorials (2) argumentieren ähnlich und weisen darauf hin, dass nur 20 Prozent der 60- bis 74-jährigen und nur 35 Prozent der über 74-jährigen Hypertoniker in den USA den Kriterien der SPRINT-Studie entsprechen. Zudem war das Follow-up in HYVET und SPRINT kürzer. Während in der Berliner Kohorte das mediane Followup 6 Jahre betrug, waren es in HYVET 1,8 Jahre und in SPRINT 3,1 Jahre. Hinzu komme, dass in der SPRINTStudie ein spezielles Blutdruckmessverfahren angewendet wurde, das möglicherweise zu falsch niedrigen Werten geführt haben könnte, schreiben Antonios Dourus und seine Co-Autoren. U-förmiger Risikoverlauf Die Assoziation von Mortalität und systolischem Blutdruck folgt einem U-förmigen Verlauf, wobei der beste Bereich in der Berliner Kohorte etwa zwischen 140 und 149 mmHg liegt; 590 ARS MEDICI 17 | 2019 STUDIE REFERIERT dieser Befund sei in Einklang mit anderen Kohortenstudien, schreiben Douros und seine Co-Autoren. So ergab die Analyse einer Hypertonikerkohorte in UK mit einem Durchschnittsalter von 82 Jahren und einem mittleren Followup von 4,4 Jahren, dass die Mortalität sowohl bei höheren als auch bei niedrigeren systolischen Werten anstieg, sobald ein Korridor von systolisch 145 bis 155 mmHg verlassen wurde. Fazit für die Praxis Daten aus randomisierten Studien zum Nutzen bestimmter Blutdruckwerte bei Älteren sind rar. Die wenigen vorliegenden Daten sind meist nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse in der Praxis zu verallgemeinern, weil Patienten mit häufigen Komorbiditäten von vorneherein ausgeschlossen wurden. Angesichts dieser Tatsache und der recht niedrigen «number needed to harm» für eine Blutdrucksenkung unter 140/90 mmHg bei Personen ab 80 Jahren empfehlen die Studienautoren, bei diesen Patienten das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis kritisch zu bewerten und eher keine niedrigeren Blutdruckziele anzustreben. Die Autoren des begleitenden Editorials betonen überdies, dass das chronologische Alter hierbei nicht unbedingt ausschlaggebend sei, sondern immer das biologische Alter des individuellen Pa- tienten berücksichtigt werden müsse.s Renate Bonifer 1. Douros A et al.: Control of blood pressure and risk of mortality in a cohort of older adults: the Berlin Initiative Study. Eur Heart J 2019; 40(25): 2021–2028. 2. Ewen S et al.: Blood pressure targets in the elderly: many guidelines, much confusion. Eur Heart J 2019; 40(25): 2029–2031. Interessenlage: Die Studie (1) wurde vom Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation (KfH) und dem Institut für Disease Management e.V. (DDnÄ) finanziert. Einige der Autoren der Studie (1) und des begleitenden Editorials (2) geben diverses Sponsoring durch verschiedene pharmazeutische Firmen an (z.B. Reisekosten, Vortrags- und Beratungshonorare). ARS MEDICI 17 | 2019 591