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Häufige Kinderkrankheiten nicht aus dem Blick verlieren!
Charakteristika, Komplikationen, Impfungen
FORTBILDUNG
Warum ein Artikel über häufige Kinderkrankheiten, obwohl diese hierzulande doch gar nicht mehr so häufig auftreten? Schon der Blick auf die Ursache dieses Verschwindens der typischen Kinderkrankheiten klärt diese Frage: Vor allem ein konsequentes Impfen hat dies induziert. Ganz ausgerottet sind sie jedoch nicht, wohl aber zunehmend aus dem Bewusstsein der Patienten beziehungsweise der Eltern geraten. Umso dringlicher wird unser ärztlicher Aufklärungsauftrag. Die nachfolgenden Ausführungen möchten die hierfür erforderlichen Informationen liefern.
Ulrich Enzel
Was zeichnet diese Kinderkrankheiten aus? Es sind Infektionskrankheiten, die früher fast regelhaft bei einem Grossteil aller Kinder aufgetreten sind, heute gehäuft ins Jugendlichenoder gar Erwachsenenalter verschoben werden. Krankheiten, die auch heute noch schwere, nicht selten tödliche Verläufe nehmen, Komplikationen induzieren und bleibende Schäden hinterlassen können. Charakterisiert sind sie weiterhin dadurch, dass es oft keinerlei kausale Behandlungsoptionen gibt oder dass eine solche Therapie regelhaft zu spät kommt. Dafür verfügen wir heute über sichere, meist lang anhaltend schützende Impfstoffe gegen diese Erkrankungen. Impfen induziert neben dem Individualschutz auch eine Reduktion potenzieller Krankheitsüberträger, die sogenannte Herdenimmunisierung. Die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfohlenen Basis- und Ergänzungsimpfungen (Abbildung) schützen vor allem gegen diese Kinderkrankheiten. Die wichtigsten werden nachstehend gesondert betrachtet.
Diphtherie
Die Diphterie (vgl. Kasten 1) war einst einer der schrecklichsten «Kleinkindermörder», aber gerade ihr völliges Verschwinden aus unseren Kinderzimmern zeigt die hohe Effizienz des Impfschutzes. Auch wenn wir heute mit spezifischem Antitoxin und spezifischer Antibiotika über wirksame therapeu-
MERKSÄTZE
Die sogenannten Kinderkrankheiten werden heute gehäuft ins Jugend- oder Erwachsenenalter verschoben.
Oft bestehen keinerlei kausale Behandlungsoptionen, oder eine solche Therapie kommt regelhaft zu spät.
Kinderkrankheiten können heute noch schwere, auch tödliche Verläufe nehmen, Komplikationen induzieren und bleibende Schäden hinterlassen.
Impfen induziert neben dem Individualschutz auch eine Reduktion potenzieller Krankheitsüberträger (Herdenimmunisierung).
Kasten 1: Diphtherie
Übertragungsweg: L Tröpfcheninfektion: z. B. beim Husten, Niesen, Sprechen,
bei engem Kontakt L selten Schmierinfektion L Inkubationszeit: 2 bis 5 Tage L Gesunde Menschen können symptomlose Träger des
Erregers sein und unwissentlich andere anstecken.
tische Potenziale gegen das Corynebacterium diphtheriae und sein Toxin verfügen, bleibt eine konsequente Durchimpfung die wichtigste Massnahme. Denn regelmässig werden diese Erreger bei uns eingeschleppt. Gesunde Menschen können als symptomlose Erregerträger fungieren.
Keuchhusten (Pertussis)
Trotz hochwirksamer Antibiotikatherapie verursachen die Pertussisbordetellen (vgl. Kasten 2) immer noch Todesfälle, auch in der Schweiz. Die Ursache hierfür ist, dass weder die durchgemachte Erkrankung noch eine Impfung dauerhaft gegen (erneute) Infektionen durch diesen Erreger schützen können. Bereits nach 5 bis 8 Jahren lässt die Immunität gegen den 100-Tage-Husten nach. Tückisch ist weiter, dass diese häufige Kinderkrankheit hoch ansteckend ist, auch während der atypischen ersten katarrhalischen Krankheitsphase. Und bei Jugendlichen und Erwachsenen bleibt nach 1 bis 2 Hustenwochen das zweite, oft 4 bis 6 Wochen dauernde Stadium mit den typischen konvulsiven Hustenattacken zumeist aus, sodass viel zu spät, oft erst wenn die ganze Umgebung bereits angesteckt ist, an diese schwere Krankheit gedacht wird. Komplikationen sind häufige Zweitinfektionen von Lunge und Mittelohr sowie Krampfanfälle. Eine Beteiligung des Gehirns induziert oft Dauerschäden. Todesfälle treten vor allem bei Säuglingen auf (durch Niesattacken mit Atempausen anstelle des typischen Hustens). Frühgeborene sind ganz besonders gefährdet! Daher sollten alle Personen, die mit kleinen Kindern in Kontakt kommen, über einen aktuellen Impf-
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©: Diese Tabelle ist Bestandteil der BAG-Broschüre «Kinder impfen? Ja! Wieso?», welche auch im BabyGuide enthalten ist.
Impfungen
Empfohlene Basisimpfungen und ergänzende Impfungen für Kinder
Basis
Ergänzend
Alter 1) 2 Monate
Diphterie Starrkrampf Keuchhusten
DTPa
Kinderlähmung
IPV
Haemophilus influenzae Typ b
Hib
Hepatits B HBV
DTPa
IPV
Hib HBV 2)
Pneumokokken
PCV13
PCV13
Masern Mumps Röteln
MMR
HPV Mädchen
Varizellen
Meningokokken
HPV Jungen
HPV
VZV
MCV-ACWY
HPV
4 Monate
DTPa
IPV
Hib
HBV 2)
PCV13
9 Monate
MMR
12 Monate
DTPa
IPV
Hib
HBV 2)
PCV13
MMR
24 Monate
MCV-ACWY
4–7 Jahre
DTPa/dTpa
IPV
11–15 Jahre Legenden:
dTpa 3)
HBV 4)
HPV 5)
VZV 6)
MCV-ACWY
HPV 5)
1) Die Zeitrechung für Impfungen beginnt mit der (Termin- oder Früh-)Geburt.
2) Die Hepatits-B-Impfung ist bevorzugt für Säuglinge empfohlen.
3) Auffrischimpfung dTpa im Alter von 25 Jahren und Auffrischimpfung im Alter von 45 und 65 Jahren, danach alle 10 Jahre.
4) Jugendliche, die noch nie gegen Hepatitis B geimpft wurden.
5) Bevorzugt im Alter von 11 bis 14 Jahren.
6) Jugendliche, die die Varizellen nicht durchgemacht haben.
Wichtig: Jedes dunkler gefärbte Feld in der oben stehenden Tabelle entspricht einer Spritze. Sie enthält einen Einzelimpfstoff (für die Impfung gegen einen Erreger) oder einen Mehrfachimpfstoff (für die gleichzeitige Impfung gegen mehrere Erreger).
Erklärungen zu den Abkürzungen: d: reduzierte Dosis Diphterie; HPV: humane Papillomaviren; MCV-ACWY: Meningokokken der Gruppen A,C, W und Y; DTP: Diphterie/Tetanus/Pertussis; IPV: injizierbare Poliovakzine; pa: reduzierte Dosis Keuchhusten; VZV: Windpocken, wilde/spitze Blattern (Varizellen)
Abbildung: Schweizerischer Impfplan für Kinder, Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2019
schutz verfügen (Kokonstrategie). Jede nächste Impfung gegen Tetanus sollte kombiniert auch gegen Diphtherie und Pertussis durchgeführt werden. Glücklicherweise müssen für eine Tetanusauffrischimpfung keinerlei zeitliche Abstände mehr eingehalten werden, sodass auch bei einer erst kürzlich erfolgten «alleinigen» Tetanusimpfung eine Impfung gegen dTpa (Tetanus/Diphterie/Pertussis) durchgeführt werden kann, sollte eine solche bei «Kinderkontaktpersonen» (auch Grosseltern können Pertussis übertragen!) länger als 5 bis 8 Jahre zurückliegen. Während mütterliche Pertussisantikörper bei einer durchgemachten Erkrankung der Mutter oder einer Pertussisimpfung vor der Schwangerschaft nicht auf das Ungeborene übergehen, kommt es zu einer diaplazentaren Übertragung von Antikörpern bei einer Impfung der Schwangeren in der 27. bis 36. Schwangerschaftswoche. Eine solche gesichert risikolose, aktiv vorgeburtliche Immunisierung schützt das Neugeborene zu mehr als 85 Prozent besser als eine Impfung sämtlicher Umgebungspersonen, und das anhaltend für das ganze, besonders gefährdete erste Lebenshalbjahr.
Kasten 2: Keuchhusten (Pertussis)
L Erreger: Bordetella pertussis L krampfartige Hustenanfälle mit Atemnot L Krankheitsdauer mindestens 10 Wochen («100-Tage-Husten»)
Verbreitung: L weltweit L eine der häufigsten Infektionskrankheiten (nicht nur) bei Kindern
Masern (Morbilli)
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte sich vorgenommen, Masern, diese heimtückische exanthematische Kinderkrankheit, bis zum Jahr 2020 auszurotten (vgl. Kasten 3). Doch selbst in Deutschland führen sinkende Durchimpfungsraten zu rasant zunehmenden Fallzahlen dieser komplikationsreichen Krankheit. 20 Prozent erleiden eine über viele Wochen anhaltende Immunschwäche mit häufigen bakteriellen Sekundärinfektionen. Bei 0,1 Prozent tritt am 4. bis 7. Krankheitstag eine akute postinfektiöse Enzephalitis auf, die in 20 bis 30 Prozent der Fälle bleibende Schäden im Zentralnervensystem hinterlässt und bei 10 bis 20 Prozent gar zum Tode führt. Auch heute noch beträgt die Letalität von Masern in Deutschland 1: 500–2000! Bei 20–60/100 000 mit Masern infizierten Kleinkindern kommt es nach 6 bis 8 Jahren zu einer immer tödlich verlaufenden Späterkrankung, der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE). Gegen Masern fehlt uns jegliche kausale Therapie. Bettruhe, Fieber senken, Behandlung der Komplikationen und eine Erholungsphase für mindestens 14 Tage nach überstandener Erkrankung sind üblich. Gerade Masern – dies zeigen uns die USA, aber auch 43 europäische Länder, die diese Krankheit eradiziert haben – lassen sich präventiv sicher bekämpfen. Eine zweimalige Masernimpfung (am besten kombiniert mit derjenigen gegen Mumps und Röteln [MMR]) schützt sicher und wahrscheinlich lebenslang. Ratsam ist es, jedes Kind spätestens vor dem ersten Besuch einer öffentlichen Einrichtung gegen Masern zu impfen. Das BAG empfiehlt, diese zweimalige Impfung im Alter von 9 und 12 Monaten durchzuführen. Auch um die Zahl möglicher (symptomloser) Masernvirusüberträger zu reduzieren, empfiehlt das BAG darüber hinaus
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Kasten 3: Masern
L Erreger: Masernvirus (ein umhülltes RNA-Virus) L Weltweit verbreitet:
Im Jahr 2000 starben ca. 850 000 Kinder, 2010 noch 140 000 Kinder weltweit an Masern. L Am häufigsten erkranken Kinder zwischen dem 4. und 5. Lebensjahr.
eine Impfung aller ab 1964 geborenen, über 18 Jahre alten Personen, bei welchen der Impfstatus unklar ist beziehungsweise die keine oder nur eine Impfung in der Kindheit erhalten haben.
Mumpss (Parotitis epidemica)
Auch diese Infektionskrankheit, die alle exokrinen Drüsen befallen kann, ist vor allem wegen möglicher Komplikationen gefürchtet (vgl. Kasten 4). Zu ihrer früher weiten Verbreitung trägt bei, dass gut ein Drittel der Infizierten im Sinne einer «stillen Feiung» keine Krankheitszeichen ausbildet, aber anstecken kann. Die typischen Komplikationen reichen von einer Entzündung des N. acusticus mit Schwerhörigkeit/ Taubheit (4%) und Labyrinthitis über eine Meningoenzephalitis (1%) bis zu Hoden- oder Eierstockentzündung bei einer Erkrankung jenseits der Pubertät mit der Gefahr einer (zum Teil inkompletten) Infertilität. Auch bei Mumps können wir ausschliesslich eine symptomatische Therapie bieten, verfügen aber über eine sicher schützende Impfung, am besten kombiniert (MMR, siehe oben).
Kasten 4: Mumps
L Erreger: Mumpsvirus L weltweit verbreitet L 90 % der Krankheitsfälle vor dem 15. Lebensjahr, Kinder unter
12 Monaten erkranken in der Regel nicht L tritt vor allem im Winter und im Frühling auf L bei einem Drittel der Infizierten «stillen Feiung» (ansteckend) L Auch empfängliche Erwachsene können erkranken!
Röteln (Rubeola)
Diese weltweit verbreitete, hoch ansteckende exanthematische Infektionskrankheit verläuft häufig unbemerkt, dennoch über 3 Wochen infektiös und ist vor allem wegen der fatalen Embryopathie zu Recht gefürchtet (vgl. Kasten 5). Ein Impfschutz ist durch 2 Impfungen sicher zu erreichen (danach keine Titerkontrollen mehr erforderlich). Bei 1 von 6000 Erkrankten kommt es zu einer Enzephalitis.
Kasten 5: Röteln
L Tröpfcheninfektion: z. B. beim Husten, Niesen u. Ä. L Die meisten Infektionen verlaufen unbemerkt! L Besonders häufig erkranken Kinder im Schulalter. L Infektiosität: hoch für bis zu 3 Wochen L Inkubationszeit: 2 bis 3 Wochen L Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei Kontakt mit Infek-
tiösen liegt bei bis zu 75 %!
Eine Rötelnembryopathie induziert Fehlbildungen der Augen (70 %), der Ohren mit Taubheit (60 %), Herzfehler (50 %) und in 45 Prozent der Fälle geistige Schäden – regelhaft in Kombination! Die Immunprophylaxe ungeschützter rötelnexponierter Schwangerer ist zwar unsicher, sollte dennoch in Erwägung gezogen werden. Erkrankte sollten den Kontakt zu (ungeschützten) Schwangeren strikt meiden.
Windpocken
Zwar verfügen wir über kausale Behandlungen gegen diese hoch infektiöse Viruserkrankung (vgl. Kasten 6): Virustatika, bei Abwehrschwäche auch ein VZV-(Varizella-zoster-Virus-) Immunglobulin. Symptomatisch kommen juckreizstillende Externa und Interna zum Einsatz. Das durch den «Sternenhimmel» aus oft mehr als 500 Bläschen, Papeln und Pusteln gekennzeichnete Exanthem ist pathognomonisch. Warum empfiehlt das BAG dennoch im Akter zwischen 11 und 15 Jahren eine Impfung gegen diese typische Kinderkrankheit? Da sind zum einen Komplikationen wie Bronchopneumonie, Enzephalitis, Zerebellitis, Apoplex, vor allem bei jungen Männern auch Myokarditis, zum anderen die Spätfolge Herpes zoster, welche durch eine Impfung um mehr als zwei Drittel reduziert werden kann.
Kasten 6: Windpocken
L Tröpfcheninfektion: z. B. beim Husten, Niesen u. Ä. L Inkubationszeit: 9 bis 21 Tage L Krankheitsausbruch: 11 bis 22 Tage L Hoch ansteckend! Verbreitung «wie durch Wind»! 90 %
aller empfänglichen Kontaktpersonen stecken sich an!
Schliesslich besteht – vor allem bei einer Infektion in den ers-
ten 5 Schwangerschaftsmonaten – die Gefahr einer Embryo-
pathie mit bleibenden Schädigungen. Daher sollte jede Frau
vor der ersten Schwangerschaft auch gegen Varizellen
geimpft sein (falls die Krankheit nicht durchgemacht worden
ist, wobei eine «stille Feiung» serologisch sicher nachgewie-
sen werden kann). Die mit 11 bis 21 Tagen sehr lange Inku-
bationszeit bietet die Möglichkeit einer Inkubationsimpfung
zum Beispiel von exponierten Geschwisterkindern, die den
Krankheitsverlauf zumindest abschwächen und Komplika-
tionen vermeiden kann.
Auch wenn Kinderkrankheiten bei uns längst nicht mehr so
oft auftreten wie in den «Zeiten vor den Impfungen»: Jeder
Arzt sollte alles tun, um seine kleinen und auch die erwachse-
nen Patienten vor diesen keineswegs harmloser gewordenen
infektiösen Krankheitsbildern durch eine konsequente Impf-
strategie sicher zu bewahren, auch mit dem Ziel, die Kinder-
krankheiten endlich zu eradizieren.
L
Dr. med. Ulrich Enzel Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde D-74193 Schwaigern
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2019. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren, Anpassungen an Schweizer Verhältnisse wurden durch die Redaktion von ARS MEDICI vorgenommen.
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