Transkript
EDITORIAL
Auf Allergenjagd
Welche Allergien sind wohl die häufigsten? Vielleicht tippen Sie spontan auf Nahrungsmittelallergien. Schliesslich ist davon ja anscheinend ständig die Rede, nicht nur in den Medien, sondern auch im Bekanntenkreis und in der Familie. Ich möchte fast wetten, dass jeder mindestens eine Person kennt, die unter dieser oder jener Nahrungsmittelallergie leidet oder zumindest fest davon überzeugt ist, darunter zu leiden. In der Tat werden die meisten Allergien aber nicht von Nahrungsmittelbestandteilen, sondern von mannigfaltigen Allergenen verursacht, die wir einatmen. Auf 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung schätze man den Anteil an Menschen mit Atemwegsallergien, sagte der Zürcher Allergologe Prof. Peter Schmid-Grendelmeier kürzlich an einer Fortbildungsveranstaltung* in Bern. Am häufigsten sind Pollen die Ursache. Sie machen 12 bis 18 Prozent der Bevölkerung zu schaffen, gefolgt von Haustieren (2–9%), Hausstaubmilben (3–8%) und Schimmelpilzsporen (1–5%). Um herauszufinden, welches Allergen Schuld hat an den geröteten Augen, der laufenden Nase, heftigen Niesattacken oder Asthma braucht es trotz der ver-
fügbaren Testverfahren detektivische Fähigkeiten. Ohne Anamnese nütze der ausführlichste Allergietest gar nichts, so Schmid-Grendelmeier. Drastischer hat es einmal ein anderer Kollege in einem anderen Zusammenhang ausgedrückt, aber es trifft auch hier zu: «Wer viel misst, misst viel Mist!» Das gilt auch für den guten alten Prick-Test. So gibt es beispielsweise Personen, die auf jegliche Hautreizung mit Quaddeln reagieren. Ein Spot mit simpler physiologischer Kochsalzlösung als Negativkontrolle darf darum nicht fehlen, ebensowenig eine Positivkontrolle mit Histamin. Und auch beim Prick-Test gilt, genauso wie bei der Bestimmung spezifischer IgE im Serum, dass eine Sensibilisierung kein Beweis für eine klinisch relevante Allergie ist. Diese manifestiert sich erst in typischen Symptomen, womit wir wieder bei der klinischen Detektivarbeit wären. Gar so schwierig ist es aber nun auch wieder nicht, denn im Grunde sind es ganz einfache Fragen, mit denen man das Feld potenzieller Atemwegsallergene vorderhand eingrenzen kann: Niesattacken an Ostern? Die sprechen für eine Allergie auf Baumpollen. Oder an Pfingsten? Dann sind’s wohl eher die Gräser. Sind die Beschwerden eher nicht saisonal und morgens? Dahinter könnten Hausstaubmilben stecken. Mit dem exakten Abklären des Wann und Wo der einschlägigen Symptome findet man früher oder später jedes Allergen heraus. In diesem Sinne darf man in der Praxis auch für einmal in die Rolle eines Sherlock Holmes schlüpfen. Macht ja auch Spass, oder?
Renate Bonifer
* Top Five 2019, Interdisziplinäre Fortbildung am 16. Mai 2019 im Zentrum Paul Klee, Bern.
ARS MEDICI 11 | 2019
393